FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1988 » No. 411/412
Ladislav Mňačko

Die Pfaffenrepublik*

Die Slowaken wurden staatssüchtig.

Seit der Zerschlagung des nicht einmal hundert Jahre bestehenden Großmährischen Reiches zu Anfang des 10. Jahrhunderts durch berittene Krieger der Magyaren — die Slowaken leiten die Legitimität ihres Anspruchs auf Eigenstaatlichkeit von der Existenz dieses Reiches ab — lebten sie im Schatten des Herrenvolkes der Magyaren, als fester Bestandteil des Reiches der Stefanskrone, bis zum Zusammenbruch der k. u. k. Monarchie 1918.

Von der Oberschicht der magyarischen und magyarisierten Feudalen wirtschaftlich ausgebeutet, sozial und national unterdrückt, führten sie das karge Dasein eines armen Bergvolkes, ohne Hoffnung auf Änderung ihres tristen Schicksals, als Volk der Hirten, Holzfäller, Bergbauern und Auswanderer. Noch im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts bekannten sich mehr Menschen außerhalb des Landes zur slowakischen Nation als im Kerngebiet der Slowaken, eine Tragödie, die nur mit der der Iren vergleichbar ist und die mehr über die Misere des kleinen Volkes aussagt als lange Traktate.

Nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich 1867 drohte der slowakischen Nation durch die brutale Magyarisierung der „Oberungarn“ der totale Untergang. Die Ungarn sperrten die drei nur wenige Jahre zuvor gegründeten slowakischen Mittelschulen zu, verboten jede national eigenständige Tätigkeit, zwangen die Eltern, ihre Kinder in magyarische Schulen zu schicken, führten ungarisch als einzig zugelassene Amtssprache auch in Gebieten ein, in denen die Bevölkerung ungarisch gar nicht verstand. Sie bestritten sogar die bloße Existenz einer slowakischen Nation, es gab keine Slowaken, es gab nur Toths, Butathots, blöde Toths.

Die nationale Unterdrückung stieß auf Gegenwehr, führte zur Entwicklung des slowakischen Nationalismus. Die slowakischen Nationalisten trachteten nach Loslösung von der ungarischen Krone und suchten Unterstützung beim Panslawismus. Die Welt wußte kaum etwas von der Existenz dieses dem Untergang geweihten kleinen Volkes. Dies hat sich bis heute kaum geändert: Die Tschechoslowakei besteht seit bereits siebzig Jahren, aber im Ausland wird sie als „Tschechei“ bezeichnet, man spricht von tschechischen Künstlern, Schriftstellern, Politikern, auch wenn es sich um Slowaken handelt.

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg kam es zu einer Annäherung der slowakischen Patrioten an das tschechische Volk und zu Bestrebungen, nach dem Zerfall der dualistischen Monarchie einen gemeinsamen Staat der Tschechen und Slowaken zu gründen.

Man kann ohne Übertreibung behaupten, daß die Gründung der Tschechoslowakei die Existenz des slowakischen Volkes gerettet hat.

Aber trotz der Deklaration der Eigenständigkeit, trotz der verfassungsmäßig niedergelegten Rechte der Slowaken auf nationale, politische und kulturelle Gleichstellung mit den Tschechen, haben auch tschechische Politiker das Recht der Slowaken auf nationale Eigenständigkeit bestritten. Man sprach vom „slowakischen Zweig der tschechischen Nation“, die Länder der ehemaligen tschechischen Krone, Böhmen, Mähren und Restschlesien, wurden als „historische Länder“ bezeichnet, im Unterschied zur „geschichtslosen“ Slowakei. Die politische, kulturelle und wirtschaftliche Unterschätzung der Slowaken führte bald zu Spannungen und separatistischen Tendenzen. Die „Tschechisierung“ der Slowakei, der Ämter, der Schulen, der Kultur wurde anfangs als Hilfe des älteren Bruders betrachtet und sogar geschätzt; die dünne Schicht der slowakischen Intelligenz hätte die auf sie zukommenden Aufgaben kaum bewältigen können, die Ämter, Lehrerstellen, ja sogar die Gendarmerieposten wurden mangels qualifizierter Slowaken mit tschechischen Zuwanderern besetzt. Sie führte aber nach der stürmischen Entwicklung der slowakischen Intelligenz zu erhöhten Differenzen, der slowakische Beamte, Professor, Arzt, Geschäftsführer, Unternehmer fühlte sich durch die Privilegierung der tschechischen „Kulturhelfer“ benachteiligt und diskriminiert.

Aus Volkesnot ins faschistische Glück

Wirtschaftlich sah sich das Land durch die Prager Politik ausgebeutet. Die „Gottlosigkeit“ der religiös toleranten und indifferenten Tschechen stand in krassem Widerspruch zum bigott frommen Katholizismus der Mehrheit der Slowaken. Die Demagogen der slowakischen nationalistischen Hlinka-Partei (vom katholischen Klerus gegründet und geführt) nutzten die Unzufriedenheit des Volkes mit der bestehenden Benachteiligung und riefen immer lauter das „Los von Prag“, nach Autonomie, ja nach totalem Bruch mit den Tschechen. Der Traum vom selbständigen slowakischen Staat erfaßte einen beträchtlichen Teil der Nation. Die vom Pfarrer Hlinka gegründete und geführte faschistoide Volkspartei wurde zur zweitstärksten politischen Gruppierung im Lande, im globalen politischen Kontext zwar eine Minderheit, die man aber nicht ignorieren durfte.

Die politische Polarisierung wurde nach Hitlers Machtergreifung durch internationale Spannungen beschleunigt. Die katholisch orientierten slowakischen Nationalisten suchten ihre regionale Isolierung mit Hilfe internationaler Unterstützung aufzubrechen. In der Hlinka-Partei gab es in dieser Hinsicht drei Tendenzen: Eine von ihnen liebäugelte mit der Gunst Mussolinis. Die zweite suchte die Annäherung ans katholische Polen, und die dritte, die immer mehr Anhänger fand, orientierte sich an Hitlerdeutschland.

Für diese dritte Gruppe war der Ruf nach Autonomie bereits überholt, sie wollte die totale Trennung von Prag, die Gründung des souveränen Slowakischen Staates, wenn nicht anders, dann mit Hilfe Hitlers. Diese Gruppe militanter Krakeeler gewann mit der Zuspitzung der europäischen Krise immer mehr an Attraktivität. Sie gründete, nach Hitlers Vorbild, eine der SS ähnliche Kampfgruppe namens „Hlinkagarde“. Es kam zu Ausschreitungen, gewalttätigen Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern, ihr Programm war die Austreibung der Tschechen nach Prag, die der Juden nach Palästina und die totale Zerschlagung der politischen Linken, wenn nötig auch mit Waffengewalt.

Nach dem Münchner Diktat der Abtrennung des Sudetengebietes und der folgenden „Wiener Arbitrage“, die zum Verlust der fruchtbaren südslawischen Regionen an Ungarn führte, machte die Hlinka-Partei die Prager Politiker für den Verlust dieser, von einer starken ungarischen Minderheit bewohnten Gebiete allein verantwortlich. Die Enttäuschung der Slowaken über das Versagen des Prager Regimes führte zur Radikalisierung des Volkes in Richtung Eigenstaatlichkeit. Die radikalen, an Hitler orientierten Hlinkagardisten beherrschten die politische Szene, die klerikale Volkspartei erhob den Anspruch auf Alleinvertretung der Slowaken. Sie wurde innerhalb weniger Wochen zur alles dominierenden Kraft. Sie setzte, noch innerhalb des Rahmens der Tschechoslowakei, die Auflösung aller politischen Parteien durch.

Was so, vom übrigen Europa kaum beachtet, als Ereignis von regionaler Bedeutung abgetan wurde, hatte nur wenige Monate später unheilvolle, wenn auch wiederum kaum beachtete Folgen. Es waren die slowakischen Hlinkafaschisten, die Hitler den willkommenen Anlaß zur endgültigen Zerschlagung der Resttschechoslowakei und, nach der Besetzung Prags, zur Errichtung des aus Böhmen und Mähren bestehenden Protektorats lieferten. Die auf den Bruch hinarbeitenden slowakischen Radikalen hatten nach den Unruhen Hitler direkt um Hilfe gebeten. Er gewährte sie auch, mit der Begründung, das Dritte Reich könne einen explosionsträchtigen Unruheherd wie die Resttschechoslowakei an seiner friedlichen Grenze nicht dulden.

Den Slowaken gegenüber handelte Hitler mit für ihn untypischer Zuvorkommenheit. Er erlaubte ihnen, sich den Traum von der Eigenstaatlichkeit zu erfüllen: Am 13. März 1939 wurde die Slowakei von der Hlinka-Partei zum unabhängigen Slowakischen Staat ausgerufen. Einen Tag später zogen Hitlers Truppen in Prag ein. Die Zerschlagung der Tschechoslowakei und Annexion der von den Tschechen bewohnten Gebiete von Böhmen und Mähren war der erste militärisch geführte Griff Hitlers nach Europa. Den willkommenen Anlaß dazu lieferten dem Diktator die Slowaken.

Hitler war ein nicht unsentimentaler Mensch. Treue betrachtete er als höchste aller Tugenden. Er hat auch die „Treue“ der Slowaken belohnt. Als die Horthy-Truppen den erst seit wenigen Tagen bestehenden Slowakischen Staat angriffen, pfiff Hitler die Ungarn zurück auf die durch die Wiener Arbitrage festgelegten Grenzen.

Auf der von Himmler skizzierten Karte der europäischen Neuordnung ist Frankreich als an Großdeutschland angekoppeltes Gebiet gezeichnet, die Slowakei als souveräner, unabhängiger Staat. Dies wohl nicht ohne den Hintergedanken, das Wohlwollen des Diktators gegenüber den „guten“ Slawen zu demonstrieren, aber immerhin!

Und seine Treue wurde wiederum mit derjenigen der slowakischen Klerikofaschisten belohnt. Die Slowakei war Hitlers letzter treuer Verbündeter, bis zur Besetzung der Hauptstadt Bratislava durch die Rote Armee am 4. April 1945. Und auch in den Wochen danach, bis zum totalen Zusammenbruch des Reiches, wurde die aus der Slowakei bereits vertriebene Regierung als die eines wohl im Exil agierenden, aber vollwertigen — Verbündeten von Berlin anerkannt.

Mit Hitler bis zuletzt getreu verbündet

Als der Slowakische Staat gegründet wurde, war der Gründer der Volkspartei, Pfarrer Hlinka, bereits zwei Jahre tot. Zu seinem Nachfolger wählte man einen anderen Priester, Josef Tiso, der in noch freien und geheimen Wahlen nach der Staatsgründung mit großer Mehrheit zum Präsidenten des Staates — man mied das Wort Republik — gewählt wurde. Fast achtzig Prozent der Slowaken haben damit die faschistische Neuordnung gewählt, wohlbewußt über das, was sie da taten. Nur die kleine Minderheit der Evangelischen war der Faszination der Eigenstaatlichkeit nicht erlegen, sie fühlte sich durch den militanten Katholizismus bedroht und ging auf Distanz zu den faschistoiden Tendenzen des neuen Regimes. Aber die hohe Zahl der Jastimmen hätte nicht ohne das Votum der Linken, einschließlich der ehemaligen kommunistischen Wähler, erreicht werden können.

Tiso gab sich von Anfang an autoritär. Er war der „Vodca“, der Führer. Er belohnte seine Getreuen mit Regierungssitzen. Die Hlinkagarde wurde offiziell als Ordnungsmacht bestätigt. Der slowakische „Reichstag“, die Nationalversammlung, wurde von ihm ernannt. Die katholischen Priester gewannen dort Oberhand, nicht an Zahlen, sondern an Einfluß.

Die Tschechen wurden fast restlos aus dem Land getrieben; sie durften maximal je 24 kg Gepäck mitnehmen. Die ersten antijüdischen Pogrome fanden statt, eine Reprise der Kristallnacht, die Synagogen wurden ausgeplündert und in Brand gesteckt, die Regierung rief die Parole aus: Slowaken, bereichert euch!, die Arisierung jüdischen Eigentums wurde innerhalb weniger Monate lückenlos durchgeführt, die illegalen kommunistischen Zellen ausgeräuchert, die Gefängnisse mit politischen Häftlingen überfüllt. Aber trotz allen Unheils ging es in diesem Operettenstaat noch fidel zu. Es wurden nur sehr wenige Todesurteile über politische Gegner verhängt, und auch die wurden nicht alle vollstreckt. Der Innenminister und Führer der Hlinkagarde, die in ihren komischen Uniformen die Straßen beherrschte, Alexander Mach, traf sich regelmäßig mit der kommunistischen Prominenz in verschiedenen Kaffeehäusern zur Plauderstunde, unter anderem mit Gustav Husak. Er hielt seine schützende Hand über sie. Als er erfuhr, daß einer seiner Stammtischfreunde wegen illegaler Aktivitäten inhaftiert worden war, schritt er ein und ordnete seine Enthaftung an. Zu seinen engen Freunden zählte er auch den sowjetischen Gesandten Puschkin — der Slowakische Staat wurde diplomatisch weltweit anerkannt, der sowjetische Gesandte war eine der schillerndsten Persönlichkeiten Bratislavas.

Die Slowakei profitierte von ihrer Neutralität, trieb regen Handel mit Deutschland und anderen europäischen Staaten, wurde für die Schweiz wegen ihrer Zucker- und Lebensmittelproduktion interessant. Der wirtschaftliche und kulturelle Aufschwung auf vielen Gebieten des öffentlichen Lebens war unverkennbar, es gab kaum Versorgungsengpässe, die Krone war stabil, Bildung, Kunst und Literatur erreichten trotz der Zensurbeschränkungen und dirigistischer Maßnahmen eine qualitative und quantitative Blüte. Die Slowakei wurde zu einer Insel der Stabilität und Ordnung, wenn diese auch so manchem aufmerksamem Beobachter eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

Faschismus, Rassismus, Übermenschentum auf Slawisch. Ideologen, die dieses Dilemma nicht mehr umgehen konnten, sprachen von der Eigenart der slowakischen Rasse innerhalb des Slawentums, mit so ulkigen Argumenten wie etwa der ursprünglichen Besiedlung des Landes durch Germanenstämme, eine kulturelle Wurzel, die bis in die Gegenwart wirksam sei. Einer der Haupttheoretiker dieses rassisch reinen Slawentums war der Ministerpräsident Bela Tuka, ein von der demokratischen Justiz der Ersten Republik wegen magyarischer Irredenta-Umtriebe zu langjährigem Kerker verurteilter Magyarone, der nicht einmal die slowakische Sprache beherrschte: Einer der ganz wilden Tschechenjudenbolschewikenhasser. Der promovierte Jurist war maßgeblich an der Formulierung der slowakischen Variante der Nürnberger Rassengesetze beteiligt, die der slowakische Nationalrat als einzige gesetzgebende Institution Europas außer der deutschen als Gesetz verabschiedete. Dies geschah ohne nennenswerten Druck der Deutschen, aus eigenem Übereifer.

Der 1941 verabschiedete „Judenkodex“ führte praktisch zur Liquidierung der slowakischen Juden, die zuerst in slowakischen KZ untergebracht und dann vom Slowakischen Eichmann Vašek aus dem Land deportiert wurden. Man übergab sie an der Grenze den deutschen Behörden; als Dank für die Übernahme der endgültigen Liquidierung zahlte die Regierung den Deutschen für jeden übernommenen Juden ein Kopfgeld von 10.000 slowakischen Kronen. Präsident Tiso selbst antwortete auf eine Intervention von liberalen Persönlichkeiten zugunsten jüdischer Kinder scheinheilig, es wäre unmenschlich, die Kinder von den Eltern zu trennen. Bis Ende 1942 wurden so aus der Slowakei fast 60.000 Juden an die Grenze deportiert — mit Endstation Auschwitz. Nur wenige haben überlebt.

Man verfolgte nicht nur Juden, auch die Zigeuner wurden diskriminiert, und nach dem Überfall auf die Sowjetunion wurde die ukrainische Minderheit in der Ostslowakei brutal verfolgt und mißhandelt.

Diese Flecken auf der Idylle des slowakischen Staates waren so dunkel, daß die öffentliche Meinung umschlug. Immer weitere und breitere Kreise der Bevölkerung erinnerten sich mit Sehnsucht der demokratischen Verhältnisse in der zerschlagenen Tschechoslowakei. Als die Regierung überstürzt der Sowjetunion und wenige Tage später den Angloamerikanern den Krieg erklärte, schieden sich die Geister. Die Slowakei beteiligte sich mit drei Divisionen aktiv am Ostfeldzug, die motorisierte „Schnelle Division“ stieß unter dem Kommando der Deutschen bis zum Kaukasus vor, die aus ausgewählten Faschisten gebildete „Sicherungsdivison“ beteiligte sich aktiv an den Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung.

Aber es passierte immer öfter, daß slowakische Soldaten zur Roten Armee überliefen, einmal sogar eine komplette Formation. Die Motive für solches Tun waren verschieden. Einer desertierte aus altem Hang zum Slawentum, ein anderer wegen des brutalen Vorgehens der Deutschen gegen die Zivilbevölkerung, ein Dritter, weil er bereits während des Vormarsches in die Tiefe der Sowjetunion die unvermeidbare Katastrophe des Dritten Reiches und seiner Verbündeten witterte. Immerhin wurden noch Teile der slowakischen Armee zur Sicherung der noch in deutscher Hand befindlichen italienischen Gebiete eingesetzt, wo sie massenweise zu den Alliierten überliefen.

Dies ändert aber nur wenig an der Tatsache, daß die klerikofaschistische Regierung bis zur völligen Befreiung der Slowakei zu den treuesten Verbündeten Hitlers zählte, daß das Regime sich zahlreicher Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatte, daß der slowakische Staat zu den geschlagenen Ländern gehörte, daß die Slowakei eigentlich zum Kriegsverlierer hätte erklärt werden sollen.

Von Stalins Gnaden am Tisch der Sieger

Sie wurde nicht. Trotz aktiver Teilnahme am Krieg an der Seite des Dritten Reiches. Trotz der Beteiligung an Kriegsverbrechen. Trotz des „Judenkodex“ und der durch ihn ausgelösten „Endlösung“.

Es gab nämlich plötzlich keinen Slowakischen Staat, es gab nur einen „sogenannten“, der mit kleinem Anfangsbuchstaben „slowakischer“ geschrieben wurde. Seine Nichtexistenz trotz zeitweiliger diplomatischer Anerkennung durch die Alliierten paßte in die zusammengeflickte Legende über die Okkupation der Tschechoslowakei. Irgendein „Slowakischer Staat“ paßte nicht in eine solche Konzeption. Die Rolle dieses Staates im Kriegsgeschehen wurde während der Nachkriegskonferenzen der Sieger sorgfältig ausgeklammert. So war es möglich, daß in der Delegation der wiedererstandenen Tschechoslowakei auch Vertreter der slowakischen Nation am Tisch der Sieger ihren Platz hatten, um über die Besiegten zu richten.

Auch vieles andere stimmte mit den erwiesenen und allgemein bekannten Tatsachen nicht überein. Als Ende 1944 spontan der slowakische Volksaufstand ausbrach, wurde er als Kampf gegen die deutsche Okkupation interpretiert und so auch von den Alliierten akzeptiert. Der Aufstand erfaßte fast das gesamte Gebiet der Slowakei, wurde von starken Partisanenverbänden getragen und von der Slowakischen Armee unterstützt, die sich fast vollständig der Bewegung anschloß. Die Kämpfe mit den von der Regierung zu Hilfe gerufenen deutschen Truppen dauerten fast zwei Monate und setzten sich auch nach der Niederschlagung der regulären aufständischen Verbände in den Bergen und Tälern fort, als Partisanenkrieg. Damals, im August 1944, betraten deutsche Soldaten zum ersten Mal slowakisches Gebiet, um es zu besetzen. (Sie waren bereits 1939 während des Polenfeldzugs durch die Nordslowakei gezogen, als Verbündete, nicht als Okkupanten, nach Akkordierung mit der slowakischen Regierung. Auch begrenzte Kontingente der slowakischen Armee nahmen an jenem Feldzug teil.)

So kam die Slowakei glimpflich aus dem Krieg, als Teil der besetzten Tschechoslowakei, der nie — nicht einmal nach der Niederschlagung des Aufstandes — unter irgendeinem Okkupationsstatut gelitten hatte, auch wenn im letzten Dreivierteljahr des Krieges die Deutschen im Lande verstärkt das Sagen hatten.

Der Preis für dieses wohlwollende Schweigen würde bereits auf der Konferenz von Jalta abgemessen und die Rechnung wenige Jahre später präsentiert: Stalin gliederte mit stiller Duldung der westlichen Alliierten die ganze Tschechoslowakei in seinen Einflußbereich ein. Slowakei? Nie gehört. Wohnen dort nicht die Tschechen?

Um dies alles kurz zu rekapitulieren:

Der Slowakische Staat entstand aus freiem Willen nach einem demokratischen Votum der überwiegenden Mehrheit seiner Bevölkerung.

Die Slowakei wurde als unabhängiger, souveräner Staat von anderen souveränen Staaten nicht nur Europas diplomatisch anerkannt, war also existent nach internationalem Recht.

Der Slowakische Staat nahm aktiv am Krieg gegen die Sowjetunion teil und befand sich offiziell mit den westlichen Allierten im Kriegszustand, und zwar aus freier Entscheidung der klerikofaschistischen Regierung.

Der Slowakische Staat war direkt für die Deportation und darauffolgende Vernichtung von zehntausenden Juden verantwortlich.

Der slowakische Volksaufstand richtete sich gegen die deutschen Okkupanten, die vor seinem Ausbruch gar nicht im Lande waren und die, um Hilfe gebeten, auch nach seiner Niederschlagung nie den Status einer Besatzungsmacht hatten.

Der Slowakische Staat wurde nachträglich als nie existent betrachtet, sein Vorhandensein annulliert, um der Slowakei, in stillschweigendem Übereinkommen aller Beteiligten, das Los einer mit Kriegsverbrechen belasteten Verlierernation zu ersparen.

So genoß die Slowakei doppelte Gnade: Die Hitlers, der die Entstehung des Staates förderte und seine Existenz garantierte, und die Stalins, der das Problem als vermeidbare Lappalie vom Tisch wischte. Um den Preis allerdings der Eingliederung der ganzen Tschechoslowakei in seinen Machtbereich mit schweigender Zustimmung aller, auch der Tschechen und Slowaken. Dem allgemeinen Schweigen hatten sich auch die Deutschen, die ohnehin nichts mehr zu reden hatten, angeschlossen.

So wurde die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte der Slowakei zum unbeschriebenen Blatt. Ihre toten Opfer schweigen ja auch ...

* Der Titel ist der eines Romans eines der Unterzeichner der vorstehenden „Erklärung“, Dominik Tatarka.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1988
, Seite 7
Autor/inn/en:

Ladislav Mňačko:

Geboren 1919 in Valašské Klobouky, gestorben 1994 in Bratislava. Nach der deutschen Besetzung der damaligen Tschechoslowakei wurde er als Zwangsarbeiter in ein Essener Bergwerk „dienstverpflichtet“. Bekannt geworden durch Reportagen aus der Welt der Arbeit, wurde er in den 60-er Jahren zunehmend kritisch gegenüber der Sowjetunion und der tschechoslowakischen KP. Emigirerte 1967 nach Israel, kehrte während des Prager Frühlings in die Tschechoslowakei zurück, emigierte nach dessen Niederschlagung nach Österreich und kehrte 1991 in die Slowakei zurück.

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