FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1966 » No. 155-156
Carl Zuckmayer

Die Milch des Alters

Eine Weinreise durch Mitteleuropa
Uns nährt und ammet noch,
gleich Brustkindlein,
Die Milch des Alters,
der geklärte Wein.
(C. Z.: „Der Schelm von Bergen“)

„Die Milch des Alters“ pflegte mein Vater in seinen späteren Jahren den Wein zu nennen. Er redete, wie es damals wohl üblich war, von seinem vierzigsten Jahr ab, besonders bei traulichen Familienfesten, zum Beispiel am Weihnachtsabend, gern von seinem Alter und seinem baldigen Ableben, mindestens aber von dem mit Sicherheit zu erwartenden „Schlägelche“ (sprich: Schlächelche), was uns damals die Tränen in die Augen trieb. Als er dann wirklich alt war, Gott sei Dank ohne „Schlächelche“, aber nach der Ausbombung und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erlebte er am eigenen Leib, wie richtig und wahr die Metapher von der „Milch des Alters“ ist: er mußte sie in seinem Zufluchtsort im Allgäu entbehren, da man einfach keinen Wein mehr auftreiben konnte, und es zeigte sich, daß weder Kuhmilch noch irgendein anderes Getränk die kreislaufstärkende, gesundheitsfördernde Wirkung guten Weines ersetzen kann. Die Altersschwäche wurde quälend — Stoffwechsel, Schlaf, Gesamtbefinden immer schlechter. Dann hatte ich das Glück, die Eltern wiederzusehen, und konnte durch gute Beziehungen zu den Besatzungsbehörden regelmäßig Wein, manchmal auch Sekt, für sie „organisieren“. Da lebte er in den letzten anderthalb Jahren, seinem 83. und 84., noch einmal auf, er schlief gut und fühlte sich wohler, wenn er zu der spärlichen Nahrung dieser Zeit am Abend etwas Wein hatte, die Anfälligkeit wurde geringer, ja sogar die fast erloschene Sehkraft — wohl durch die stärkere Durchblutung — ein wenig besser. Und ich beobachtete damals, nicht ohne Rührung, daß das Trinken des Greises tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem des Säuglings hat: er saugte an seinem ungewohnten Gläschen mit ganz langsamen, kleinen, etwas schmatzenden Schlucken, und in seine Züge trat der Ausdruck jener animalischen Zufriedenheit, jenes stillen, heiteren Behagens, das wir an kleinen Kindern kennen und lieben. Mehr als je zuvor wußte ich damals, daß der Wein eine Gottesgabe ist, für die der Sterbliche nie genug danken kann.

Nähert man sich nun selbst einer gewissen Altersschwelle — wenn der Siebzigste mit unheimlicher Geschwindigkeit heranrast (denn wie rasch vergehen jetzt zwei Jahre, und wie lange dauerten sie in der Kindheit!) —, so hört man von guten Ratgebern, vor allem von Ärzten, so mancherlei über die Notwendigkeit der Diät, des Maßhaltens, der Einschränkung, und mit Gewißheit kommt die Frage: „Trinken Sie Alkohol:“, worauf ich mit gutem Gewissen antworte: „Nicht sehr viel“, da ich ja Wein nie als „Alkohol“ bezeichnen würde. Einen Schnaps, nun ja, hin und wieder, einen Klaren zum Bier zum Beispiel, damit man sich nicht erkältet, oder zum Kaffee einen Obstler, damit das Essen gut bekommt. Auf solche „Hygienica“ kann man zur Not auch verzichten. Auf den Wein? Ich kann mir kaum denken, daß es eine Krankheit geben kann, bei der seine milde Kraft nicht Linderung und Stärkung verschafft — selbst Diabetiker trinken Mosel. Ich glaube, bei der Diät und der Mäßigung kommt es, wie bei allen anderen, darauf an, daß man sie nicht übertreibt. Das nutzt schließlich auch nichts, und man wird noch dazu schlechter Laune.

Die Frage ist: Was ist für den älteren Menschen, der immerhin ein bißchen aufpassen muß, aber seinen täglichen Trunk gewohnt ist, der rechte Wein? Vermutlich ist auch das individuell verschieden. Ich meinerseits komme mit den Jahren mehr und mehr dahinter, daß man sich die großen, gewaltigen, machtvollen, himmelswürdigen Weine, die Spät- und Auslesen, Trockenbeeren, Edelgewächse besonderer Jahrgänge, für sehr seltene Feierstunden aufbewahren soll, und auch dann nur zur Krönung. Was den sieben Tagen der Woche, den Sonntag mit eingerechnet, je nach der Witterung abendliche Wärmung oder Kühlung verleiht, was die guten Gespräche, die gastliche Tafelrunde, das entspannende Hocken in der Trinkstube mit Schwung oder Gelassenheit erfüllt, was zum einfachen Mahl, zu Brot und Käse, zu „Weck un Worschd“, aber auch zu den delikateren Spezialitäten der verschiedenen Gebreiten paßt, was immer mundet, immer wohl bekommt und niemals Überdruß erweckt, das ist der frische Landwein. Ihm möchte ich diese kleine Betrachtung widmen — in dem nicht ganz vermessenen Glauben, ein wenig davon zu verstehen.

Man sollte ja nach Möglichkeit nur von dem reden, wovon man etwas zu verstehen glaubt. Und von den „großen Weinen“ verstehe ich nicht mehr genug (wenn auch immerhin noch etwas mehr als der normale Weinkartendilettant). Was soll ich den Lesern erzählen von Guntram, Gunderloch und Schmitt, von Matuschka-Greiffenclau und von Oetinger, von Bürklin-Wolf, Bassermann-Jordan, Buhl und dem weiland Bürgermeister Spindler aus Forst, von Schorlemer-Lieser und Reichsgraf von Kesselstatt (das ist keine Auswahl, nur was mir beim Hinschreiben einfällt, und da klänge mir, würde ich länger lauschen, noch manch gewichtvoller Name ins Ohr), von der Hochheimer „Weißen Erde“, die für mich immer, wenn man zum Hochheimer Berg hinüberschaute — als könne man sie wirklich mit dem Auge sehen —, die Grenzlinie zwischen Rheinhessen und Rheingau bezeichnete, von Langenlonsheim, Waldböckelheim und dem Kreuznacher Brücken (schon Goethe hat berichtet, daß der Nahewein „leicht in die Beine geht“) von Bernkastel, Scharzhofberg und Eitelsbach, von Ahrweiler und Walporzheim, von der Haardt und vom Neckar, vom heiligen Ingelheim, von „Saumägen“ und „Nacktärschen“ und „Schwarze Herrgöttcher“, von Varnhalt, Umweg, Durbach, Affenthal, vom Kaiserstühler und vom schwäbischen „Brotwasser“: Oder den Franzosen von Rothschilds altem Hammel, Schloßabzug und Burgunderblume: „Große Weine“ gibt es ja nur in Frankreich, von der Natur uns zum Geschwisterland bestimmt (ich nenne es, wie eine Dame, zuerst), und „bei uns“, im Westen und Südwesten Deutschlands. Doch sind auch diese Länder der „Spitzengewächse“ nicht arm an dem, was ich den „frischen Landwein“ nennen will.

Überall in der Welt wird Wein getrunken

Ich habe mich in meiner bisherigen Lebenszeit durch so ziemlich fast alle Weinsorten der Welt durchgetrunken, um nicht zu sagen gesoffen, ich habe den bitteren Wein des Exils gekostet — leider war er oft auch süßlich —, nämlich kalifornischen Roten oder Weißen von Upstate New York. Einmal hat mich ein alter Herr an der letzten Flasche einer wahrhaft edlen Traube teilnehmen lassen, die einst die spanischen Padres in ihren Missionen Carmel und Monterey am Pazifik gepflanzt hatten und die dann von den Yankees, da diese Reben kleine Perkel trugen und sie größere nutzbringender fanden, ausgerissen wurden! Ich habe dickflüssigen schweren Wein von den „Glückseligen Inseln“, südafrikanischen, auch chilenischen (gar nicht so üblen!) getrunken und die Weine von den Grenzen Europas: den spanischen bei Pamplona, den man sich aus Ziegenhautschläuchen in den Mund spritzt, den griechischen Réczina, der zuerst nach fauligem Rohöl zu schmecken scheint und nach dem vierten Glas trotzdem mundet, Tokayer Ausbruch, sizilianischen „Torrente“ und alten Krimwein — von dem Krimsekt zu schweigen, wie er uns heute gern bei einem Besuch in Ost-Berlin von mit Ostmark gesegneten Ostfreunden zum Wiedersehen kredenzt wird —, ja ich bin in jungen Jahren vor Schlesiens sauren Trauben nicht zurückgeschreckt, nur ist es mir niemals gelungen, einen sächsischen Wein zu probieren, den es doch geben muß, da Schiller berichtet, welch glückliche Stunden er im Weinberg seines Freundes Körner, des Freundes der Freunde, in Dresden-Loschwitz verlebte.

Mitteleutopa — das rechte Weinland

Wie dem auch immer sei, und was ich auch alles bei dieser stichworthaften Wein-Odyssee vergessen haben mag — mir scheint, daß Europa, besonders Mitteleuropa, das eigentliche Weinland ist. Obwohl die Wikinger, als sie Jahrhunderte vor Columbus Amerika entdeckten, die Küste von Massachusetts, das heutige Cape Cod, das „winland“ getauft haben. Vielleicht errichtet man dieser Eulogie wegen jetzt dort ein Denkmal für Leif Eriksson den Roten. Doch bezog sich diese Namensgebung wohl auf die dort heut’ noch üppig rankende Wildrebe, deren große, bräunlich-blaue Trauben zwar eßbar sind, aber nie einen rechten Wein ergeben.

Natur und Kultur des rechten Weines kommen nur in unseren Breiten zur Vollendung — warum? Das gehört wohl zu jenen Geheimnissen, die der Schöpfer auch den Forschern gegenüber nicht ganz zu lüften wünscht. Denn was ist die Ursache, daß in anderen Ländern, in denen die Sonne länger und stärker scheint, die Feuchtigkeit der Luft und die Erde nicht schlechter sein mögen, der Wein doch niemals die Frische, die Fülle, das Bukett oder die zarte Herbheit europäischer Weine erreicht, bei noch so großer Sorgfalt und Pflege: In Kaliforniens Napa-Valley haben Franzosen, Deutsche, Schweizer ihre einheimischen Reben angebaut und nach erprobten Methoden gepflegt; sie betreuen Lese, Kelterung, Lagerung, Abfüllung mit fachmännischer, ja wissenschaftlicher Kenntnis, und wenn man in Amerika leben muß, findet man ihren Wein auch gut bis man wieder einmal den ersten Tropfen einer europäischen Kreszenz auf der Zungenspitze schaukelt und ihn mit Wonne durch den Gaumen zur Nasenwurzel rollen läßt. Schon deshalb kann ein geborener Europäer eigentlich nur in diesem Erdteil zu Hause sein. Und auch er ist der Rätsel voll. Ich habe mich oft gefragt: Warum wächst auf der deutsch-elsässischen Grenzseite des Rheins der Markgräfler und gleich drüben auf der anderen Seite des Stroms, im Baselbiet, ein so völlig anders gearteter Wein?

Frische Landweine in Süddeutschland

Doch sollte man sich, als Laie, nicht allzutief in theologische Probleme verstricken. Kehren wir lieber zum Lob des „frischen Landweins“ zurück, den ich heute als die wahre Altersmilch schätzen gelernt habe. Den Markgräfler zum Beispiel, in nicht zu großen Jahren, möchte ich dazu rechnen, ebenso viele der schwäbischen und mittelbadischen Weine, manchmal sogar einen Mainfranken, obwohl die meisten Steinweine und Bocksbeutel dafür schon wieder zu mächtig sind. Ist es Lokalpatriotismus, wenn ich von den „Schoppenweinen“, etwa in einer „Straußwirtschaft“, in unserer engeren Heimat den rheinhessischen am liebenswürdigsten und bekömmlichsten finde? Das gilt wohl auch für die leichteren Flaschenweine. Meine Mutter hatte in ihren letzten Lebensjahren immer einen kleinen Vorrat des Nackenheimer „Schmitts Kapellchen“ kühlgelegt, er trank sich im Allgäu ebenso gut wie in der Mainzer Andau (sprich: „Aa-dau“, nasal). Aber als ich ein Kistchen davon nach Amerika mitnahm und dort in einen brauchbaren Keller einlagerte, war er nach kurzer Zeit fach geworden: er bleibt lieber im Lande. In Frankreich ziehe ich heute einen Elsässer Riesling dem edelsten Gewürztraminer vor und einen leichten, spritzigen Sancerre von der Loire den großen Schloßabzügen von Burgund und Bordeaux (die man ja am besten an der Nordseeküste, von Zeebrügge bis Bremen und Lückeck trinkt — auch das eines der dem Laien unbegreiflichen Geheimnisse). Von deutschen Rotweinen würde ich eigentlich weder die Ahrweine noch die Aßmannshäuser und Ingelheimer oder den Dürkheimer und Affenthaler zu den „frischen“, das heißt leichten, Landweinen rechnen, wohl aber manche der schwäbischen, die man außerhalb Württembergs kaum bekommt, denn die Schwaben sind so gescheit, sie selber zu trinken.

— und in Österreich

Mit dem österreichischen Wein muß man seine eigenen Erfahrungen machen. Nichts gegen die „Heurigenstimmung“, die ja vor allem auch durch den Zauber der Umgebung verursacht wird: die alten, einstöckigen Weinbauernhäuser und die Obstgärtlein in Sievering, die (schon etwas überlaufenen) Heurigenlokale in Grinzing, wo es besonders schöne Innenhöfe und Vorgewölbe gibt, die kleinen Kneipen auf der „Hohen Warte“, ein Ausflug nach Klosterneuburg oder zu dem traditionsumwitterten Gasthaus von Heiligenkreuz — schon die Namen allein erregen und beschwingen die Phantasie — die großen, einfachen Schoppengläser, in die der Wein beim Einschenken schäumt, tun das ihrige. Aber ich pflege gewöhnlich nach dem ersten oder zweiten Viertel (gegen den Durst) zum „alten“ überzugehen — der durchweg auch nur ein Jahr, höchstens zwei Jahre alt ist—, denn ich finde ihn gesetzter und bekömmlicher. Ich habe sogar die Theorie, daß das dem Wiener Volkscharakter ebenso wie seine charmante Verschlagenheit und seine Musikalität arteigene „Raunzen“ — in Berlin würde man sagen „Meckern“, aber es ist nicht ganz dasselbe —, daß also dieses typische, wienerische Geraunze, das kein anderer so trefflich persiflieren konnte wie der mit 88 viel zu jung verstorbene Hans Moser, auf die Gewohnheit zurückzuführen ist, den Wein zu jung zu trinken: das erzeugt innere Gase und diese wiederum den Drang zum Raunzen. Was die sogenannten Südbahnweine anlangt, deren berühmtester der Gumpoldskirchner ist, so würde ich sie zwar zu den mächtigen, aber nicht zu den frischen Landweinen rechnen; ähnliches gilt mit Ausnahmen für die Burgenländer. Am wohltätigsten für Leib und Seele dürften die Weine aus Niederösterreich, aus der Wachau und der Kremser Gegend sein, mit ihnen läßt sich leben (und nötigenfalls auch sterben), und einige der dortigen Lagen bringen durch Pflege und Abfüllung Spitzen hervor, die sich mit mancherlei deutschen Weinen getrost messen können. Die Landweine Kärntens und der Steiermark kann ich hier nur im Vorüberstreifen erwähnen, ebenso wie die des südlichen Tirols, die ja seit dem Ende des Ersten Weltkrieges als „italienische“ Weine gelten — ein strömender Reichtum zwischen dem herben Weißen aus Terlan bis zu dem roten Bardolino vom Gardasee. Leider bekommt man heute vom Südtiroler, außerhalb des dortigen Landes, eher den „Über-Reichtum“ zu kosten: aus dem „Kalterer See“ ist ein „Kalterer Meer“ geworden ...

Erstaunliche Fülle in der Schweiz

In der Schweiz läßt es sich nicht nur ihrer Berge und Almen, Schokoladen und Käse oder — was für manche Leute am anziehendsten ist — konzilianten Steuerbehörden wegen gut leben, sondern auch und nicht zuletzt wegen ihrer erstaunlichen Fülle an guten und frischen Landweinen. Wie dieses kleine Land auf geographisch geringem Umfang wohl die größte Vielfalt landschaftlicher Schönheiten birgt, die man in Europa und vielleicht überhaupt in der Welt bewundern kann, so bietet es gleichfalls eine kaum vergleichbare Variation besonderer und besonders liebenswürdiger Weinsorten. Vom kräftigen „Merlot“ des Tessin bis zu der rassigen, herben Traube von den Hängen des Jura kann man sich hier durch unendliche Abstufungen und Schattierungen hindurchtrinken, und jeder wird den Wein derjenigen Landschaft am besten finden, in der er lebt und den er daher am besten kennt — so ich persönlich die Weine der Westschweiz.

Aber man darf darüber nicht vergessen, daß durch den Osten des Landes, Graubünden, Liechtenstein, Sankt Gallen, dann wieder im Nordwesten bis nach Basel hin der Vater unserer weinbergnährenden Ströme fließt, der große, alte Rhein! Hier ist er noch der „junge“ Rhein, und so sind seine Weine jugendlich, schlank, heiter, leichtlebig und von Grund auf gesund. „Beerliweine“, die süffigen hellroten, mögen nicht jedermanns Geschmack sein, aber ein prickelnder Maienfelder, im „alten Turm“ zu etwas Bündnerfleisch und Schwarzbrot genossen, am besten um die Zeit des Sonnenuntergangs bei leichter Bewölkung über dem grünen Flußtal, verleiht der Landschaft einen Ewigkeitszug, als sei sie von Caspar David Friedrich oder Peter Altdorfer mit einem dämmernden Strahlenkranz verklärt. Da gibt es, im Bündnerland am jungen Rhein, den Malanser, den Spiegelberger, den Torggelberg, den Salenegger Haldenwein, im Sankt-Gallischen den roten „Rauspfeifer“ von Herdern, bei dem schon mancher die Englein pfeifen hörte, es gibt einen Ort namens Hoechst am Rhein, in dessen Gemarkung ein kräftiger, trotzdem spritziger Weißer wächst, und schließlich dürfte man auch den wunderbar herb-frischen Rotwein des Veltlin, Sassella, Stägefäßler, Grumello und andere, obwohl der politischen Landkarte gemäß zu Italien gehörig, seinem Charakter nach zu den Ostschweizer Landweinen rechnen.

Ich erwähnte bereits den Baselbieter Roten (um nach Nordwesten überzugehn), der einen eigenen, flamboyanten Charakter hat (so wie das Stadtvolk der dämonischsten Fastnachtsfeier). Von dort eine kurze Wegstrecke südwestlich, und man kommt ins Gebiet der besonders beliebten, weil vielleicht bekömmlichsten Schweizer Weißweine am Bieler See, von denen der Twanner und der Schafiser wohl am bekanntesten sind. Man versuche die weißen Bieler-See-Weine beim Fisch und lasse beim Braten oder Käse einen roten Cortaillod vom Neuenburger See folgen! Der Neuenburger oder Neuchâteller Weißwein ist einer der wenigen Schweizer Weine, die weltberühmt sind (es wegen ihrer feinen Säure und ihrem natürlichen Mousseux auch verdienen).

Wenn man sich von der Schweizer Südwestgrenze, von dem Ausfluß der Rhône aus dem Lac Léman und ihrem Übertritt ins Französische, langsam ostwärts am Genfer See entlang trinkt, kann man vieler beglückender Erkenntnisse gewiß sein: in den kleinen Weindörfern von Lacôte, unterhalb der bewaldeten Jurahänge, mit Vinzel als Mittelpunkt, wird man beim Trinken niemals müd.

Noch einen Abstecher hinüber zum Rive de Neuchâtel, wo das Waadtland ans Neuenburger Land angrenzt und wo man in Vaumarcus, vor allem aber in Concise, prachtvolle Weine findet, denen die leichte Säure des Neuenburgers ebenso wie das reiche Bukett des Waadtländers eignet.

Dann, dem Bogen des Sees weiter östlich folgend, in den köstlichen, alten, von bröckligen Mäuerchen und blaugrün angespritzten Steintreppchen durchzogenen Rebgeländen des „Lavaux“, wo man von den edlen Weißen wie Dézaley oder Grandvaux bis zu jugendlich kecken, manchmal auch gereifteren Rotweinen (es gibt dort einen „Bordeaux de Corsier“!) alle Nuancen der „dégustation“ erschmecken kann und wo der große Dichter Ramuz, ein Erzähler von Hamsun’schem Rang, bald in Epesses oder Rivaz, bald in Chardonne oder St. Saphorin in den kleinen Wirtsstuben zu hocken pflegte, in denen es so herzhaft nach Käse-Fondue und Knoblauch duftet!

Wenn man von trinkenden Dichtern redet, lohnt sich ein Sprung zurück zu den Weinen der „Innerschweiz“, von denen sich gewiß der ehemalige Stadtschreiber Keller, Gottfried, in seiner Zürcher „Apfelchammer“ so manchen Halben genehmigte. Nicht nur am Zürichsee, in Meilen, in Küßnacht, im Freigut Landolt (der heutige Zürcher Stadtpräsident trägt seinen Namen), sondern auch im „Urkanton“ Schwyz (der St. Arbogast!) und sogar im schmalen, bergumsäumten Hochtal von Glarus (der Burgwegler, eine Seltenheit wie jeder Glarnerwein) reifen Gewächse, die man am besten mit den einheimischen Käsen, zum Beispiel dem einzigartigen „Schabziger“, einem Glarner Kräuterkäs, genießt.

Wo der Käs gut ist, muß auch der Wein gut sein (man sehe von Holland und von den lappländischen Rentierkäsen ab ...). Und damit komme ich, mit einem Salto mortale über einige Ketten von Viertausendern hinweg, in das Land, in dem — so Gott will — die Milch meines Alters fließen wird: ins Wallis. Ins weite Tal der Rhône dort „Rotten“ genannt.

Weine im Wallis

Die Weine des Wallis sind so reichhaltig, daß es sich lohnen würde, ein Buch darüber zu schreiben. In einer allgemeinen Betrachtung „vom frischen Landwein“ kann man ihnen nur obenhin Gerechtigkeit widerfahren lassen. Natürlich: man muß sich auskennen — das ist ja wohl überall die Hauptsache. Was für traurige Erfahrungen kann man zum Beispiel mit italienischen Weinen — besonders exportierten — machen, wenn man sie nicht an Ort und Stelle einmal studiert hat, was für ein Himmel- und Höllenunterschied kann zwischen „Chianti“ und „Chianti“ sein!

Kennt man sich aber aus, das heißt: kennt man nicht nur die altberühmten großen Weinkellereien, die zum Teil ihre Tradition noch verbessert haben, sondern die „Kleinen“ — jene Vignerons im Unterwallis, die auf einem verhältnismäßig geringen Areal von Boden und in mittelgroßen Kellereien ihre ganze Lebensaufgabe in der Pflege und Veredelung ihrer Produkte schen — dann hat man, was den frischen Landwein oder auch den vollen, kräftigen Tischwein anlangt, keine Sorgen mehr: man wird von ihnen brüderlich, ja väterlich versorgt und beraten. An „Fremde“ allerdings geben sie ungern oder gar nicht ab, und um dort fremd zu sein, muß man nicht sehr weit her kommen: es genügt, daß man aus Bern ist, geschweige denn vom Waadtland! Hat man aber das Vertrauen oder gar die persönliche Freundschaft solcher kleineren Weingutsbesitzer erworben, bringt man ihren Erzeugnissen und ihrer Arbeit Verständnis und Liebe entgegen, so sparen sie sich ihre besten Tropfen eher selber vom Munde ab, um ihre Stammkunden auch in weinärmeren Jahren genugsam beliefern zu können. Man kann dann auch reizende menschliche Überraschungen erleben: ein Weinbauer, der gleichzeitig Bürgermeister (hier sagt man „Gemeindepräsident“) seiner recht kleinen Ortschaft ist, erschien eines Sonntagnachmittags, nachdem ich einige Jahre regelmäßig Wein von ihm bezogen hatte, mit einem Riesenkorb voller Trauben in unserer abgelegenen Hochgebirgswohnung, um uns einen Besuch und ein Geschenk zu machen. Als er vorher anrief und den Besuch ankündigte, wollte ich ihn zum Essen einladen, er sagte aber: wir sind zu viele Personen, denn er kam nicht nur mit seiner Frau, sondern mit einem Dutzend Kindern in sämtlichen Altersstufen, deren gereiftere dann zum Schluß des Besuches mehrstimmig die schönen, französischen Volkslieder des unteren Wallis zu Gehör brachten.

Das Zentrum des Walliser Weinbaus reicht etwa von der Gegend zwischen Martigny und Sion, bei St. Pierre des Clages, bis zu dem Ort Salgesch, durch dessen Mitte die deutsch-französische Sprachgrenze geht. Aber auch weiter oberhalb wird noch Wein gebaut. Der Wein, den man dort keltert, hat den seltsamen Namen „Heidenwein“, wohl weil die Anpflanzung der Reben dort auf heidnische Vorzeit zurückgeht. Zu den mehr pittoresken und eigentümlichen Weinarten des Wallis gehört auch der „vin du glacier“, der Gletscherwein, der daher so heißt, daß die großen Holzfässer zu seiner Bewahrung in frostsichere Höhlen oder Schächte unter den Ausläufern des Zinal-Gletschers eingebaut sind, und dessen Besonderheit darin besteht, daß zu dem altgelagerten Wein immer wieder neuer, von jedem neuen Jahrgang, hinzugeschüttet wird.

Die großen, namhaften, alten Weingüter, deren Reben im Tal der Rhône, an den Steilhängen von St. Valtre und Tourbillon über Sitten, bis zu den weiten, sonnigen Halden von Siders und Salgesch reifen, bringen durchwegs edle Flaschenweine in den Handel, deren beste man bei Kennern und Weinliebhabern in der ganzen Schweiz findet.

Manche der bekanntesten Walliser Reben sind von anderen Weinländern importiert und hier angepflanzt, es sind auch französische Sorten eingeführt worden. Aber es gibt auch Gewächse, die wohl seit sehr langer Zeit im Wallis bodenständig sind und also getrost als ursprüngliche Walliser Weine bezeichnet werden können: von dem allbekannten „Fendant“, dem Dôle und dem Pinot abgesehen, solche weniger bekannten und besonders charakteristischen Weine wie Arvin, Humage, Petit Arvin, Ermitage und der seltene „Rouge d’Enfer“, der Höllen- oder Teufelsrote, der in guten Jahren und nach gemessenem Altern einem Bordeaux von großer Klasse kaum nachsteht.

Felsenkeller — ideal für alle Weine

Übrigens halten sich diese Walliser „Spitzenweine“, aber auch der einfache weiße Landwein, der Fendant, am besten in den hohen Gebirgslagen, man braucht sie keineswegs unter die Gletscher einzulagern, sondern nur in einen guten, in den Fels gehauenen Keller, der sommers und winters ziemlich die gleiche Temperatur hält. Ich bin selbst der glückliche Besitzer eines solchen Kellers, in dem auch noch mancherlei goldflüssige Schätze aus meiner Geburtsheimat, mit dem Zentrum der geliebten Wein- und Rheinstadt Mainz, des Gemolkenwerdens harren. Mich erfüllt beim Gedenken an den Wein nicht nur die Vorfreude auf seinen Genuß, sondern Ehrfurcht und Dankbarkeit.

Feste für die Himmelsgabe Wein

Hier in der Westschweiz, von deren reichen Weinquellen ich einiges erzählt habe (wobei ich den einfachen, klaren Meßwein aus der Kellerei des Priesterseminars von Sitten nicht vergessen will, dem keine himmlische Süße, wohl aber eine himmlische Reinheit eigen ist), gibt es alte, geheiligte Bräuche zur Feier, zur festlichen Ehrung des Weines und der Arbeit am Wein. Die „fête des vignerons“, das große Winzerfest in Vevey, wird nur viermal in jedem Jahrhundert begangen; das letzte fand im Jahre 1955 statt, denn man setzt es nicht nach den runden Jahreszahlen an, sondern nach dem Stand der Kasse: dann aber gibt es kein Sparen und Rechnen mehr. Der große Festzug, die historischen Kostümaufzüge, die Tänze und Spiele unter freiem Himmel werden mit aller möglichen Pracht und auf einem durchaus künstlerischen Geschmackniveau veranstaltet, und sie sind im westlichen Europa so populär geworden und erfreuen sich einer solchen Besucherfülle, daß sogar fast stets noch ein Überschuß für die Armenversorgung und sogar für den Grundstock des nächsten Festes dabei herauskommt. Ein einfacherer, schlichter und bescheidener Brauch zur Ehrung der Winzerarbeit ist im mittleren Wallis, in der Gegend von Siders, wo die Bergbauern noch Rebgärten im Flußtal besitzen und bewirtschaften, üblich. Wenn die Anniviarden, die Bewohner des von Viertausendern gesäumten Val d’Anniviers, im Vorfrühling nomadengleich aus ihren hochgelegenen Dörfern herabsteigen, um mit der Arbeit in den Weinbergen zu beginnen, sind sie jedesmal von einem kleinen Trupp Musikanten begleitet, Pfeifern und Trommlern, die die uralten Weisen zu spielen verstehen: wenn die ersten Hackenschläge in den winterverhärteten, steindurchbrockten Boden knallen, wenn das erste Klicken der Klippscheren erschallt, mit denen man hier im Frühling die winterdürren Austriebe abzwickt, wird, wie der Ausmarsch einer Truppe ins Feld, die ernste und harte Arbeit von anfeuernder Musik begleitet. Dazu das kurze Gebet, mit dem ich diese Zeilen beschließen will: „Gott segne unsere Arbeit, unser Brot und unseren Wein.“

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1966
, Seite 757
Autor/inn/en:

Carl Zuckmayer:

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