FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1994 » No. 481-484
Rudolf Burger

Determinanten der europäischen Integration

I.

Mythologisch ist die Geschichte Europas die Geschichte einer Entführung, semantisch ist sie die Geschichte einer Vergewaltigung: Kaum ein Begriff wurde mehr mißbraucht als der Begriff »Europa«. Er ist eine Sehnsuchtsvokabel für die einen, ein Nostalgiewort für die anderen, eine Beschwörungsformel aber für alle. Auch für laizistische Geister hat er die goldene Aura des christlichen Abendlandes. Vom »gemeinsamen europäischen Haus« hat Michail Gorbatschow gesprochen und Jacques Delors vom »europäischen Dorf«. Von der »Rückkehr nach Europa« spricht man in Mitteleuropa, seit es Osteuropa wieder gibt und nicht mehr den »Ostblock«. »Mitteleuropa« selbst ist nur eine Etappe gewesen, eine kurzlebige Utopie auf dem Weg in den Westen, wohin heute alles drängt. Von der »Festung Europa« sprechen die Gegner Europas, aber auch die, welche gegen die europäische Einigung sind, wollen doch nur ein »anderes« Europa. So ist »Europa« heute in Europa die vorläufig letzte europäische Utopie. Vergessen wird dabei allzu leicht, daß »Europa« der Wendebegriff par excellence ist: Was eine Metapher für Zerrissenheit war, wurde zur Parole für Einigung. Denn in seiner Geschichte ist Europa immer wieder eine »Schlachtbank« (Hegel) gewesen, und genau dagegen, gegen seine eigene Geschichte, wurde der Begriff programmatisch mobilisiert. Er wurde zur politischen Pathosformel der Einigung, weil das, was er geographisch bezeichnet, historisch vor allem ein Kriegsschauplatz war. Dies: Das politische Ziel der Vermeidung von Kriegen zwischen den europäischen Mächten, die Subjekte der Kontinentalgeschichte waren, mit Mitteln und auf Basis der politischen Ökonomie nach dem Ende der kolonialen Expansion, als die imperialen Wege abgeschnitten, die europäischen Mächte im Weltmaßstab nur mehr Mittelmächte waren und so nur noch der Weg nach Innen offenstand — diese politökonomische Wende des Kontinents auf sich selber hat die europäische Integration immer wieder ein Stück weitergebracht und zu jener Erfolgstory gemacht, die sie zumindest bisher durchaus war — sie verdankt sich dem »great civilizing influence of Capital« (Marx), nicht dem kulturphilosophischen Geschwafel von einer »europäischen Identität«, vom »gemeinsamen christlichen Erbe«, oder gar von einer »Nation Europa«. Daß das Ganze, wie Carl Schmitt in anderem Zusammenhang schreibt, »sous l´œil des Russes« geschah, wird uns noch beschäftigen, und wohl auch die Akteure der Gemeinschaft selber.

Was die europäische Integration vorangetrieben hat, war die Faltung des europäischen Kapitalismus auf sich selber; nicht die mobilisierende Kraft einer »Kulturvision« — und dies nicht deshalb, weil es keine Visionen gegeben hätte, sondern umgekehrt: weil es zu viele gab und zu viele divergente, mit teilweise durchaus anrüchigem Hintergrund.

Die noble Idee eines »Paneuropa« spielte allenfalls eine leise Begleitmusik bei Kamingesprächen der Kabinettspolitik, aggressiver und folgenreicher schon war die Idee einer »Nation Europa«. So nämlich — »Nation Europa« — lautete der Titel einer elitär aufgezogenen Propagandazeitschrift der Nazis, die sich in erster Linie an die »Kulturträger« der von den deutschen Truppen besetzten westeuropäischen Staaten richtete. Viel Erfolg hatte die Initiative, welche Quislinge und Kollaborateure für ein deutsch-hegemoniertes Nach-Endsiegseuropa anwerben sollte, freilich nicht. Sie war aber insofern folgenreich, als sie bei vielen linken und liberalen Geistern die »Europaidee« wenn schon nicht nachhaltig desavouierte, so doch ein Mißtrauen fundierte gegen die spätere Europarhetorik im größeren Nachfolgestaat des Deutschen Reichs, der national identitätslos gewordenen Bundesrepublik — und dieses Mißtrauen war nicht nur linkes Ressentiment, sondern hatte durchaus eine sachliche Begründung. Auf Basis einer empirischen Untersuchung erkannte das Frankfurter Institut für Sozialforschung schon 1955 in der pathetischen Rede von »Europa« und der »abendländischen Kultur« eine subtile Anpassung der Rassentheorie an die veränderte politische Lage. »Anstelle der weißen Rasse«, schreibt Th. W. Adorno in »Schuld und Abwehr«, »setzt der Sprecher die »abendländische Kultur«. Nicht selten verwandelt sich der faschistische Nationalismus in einen gesamteuropäischen Chauvinismus, so wie es etwa der Titel der Zeitschrift von Hans Grimm »Nation Europa« verrät. Das vornehme Wort »Kultur« tritt an Stelle des verpönten Ausdrucks »Rasse«, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.« Die »Einheit des Abendlandes« hatte übrigens auch Ernst Jünger, der Sänger von Verdun, der ein Gegner der Nazis, nie ein Antisemit, immer aber ein großdeutscher Rechter und Kriegsverherrlicher war, in seiner Schrift »Der Friede« von 1941/44 beschworen — vielleicht mit ein Grund dafür, warum er heute, als fast 100-jähriger Greis, von den führenden kontinentaleuropäischen Staatsmännern hofiert wird, allen voran von Kohl und dem Sozialisten Mitterand, die, ausgerechnet am 20. Juli, gemeinsam nach Wilflingen pilgern. Nichts verbindet so sehr wie gemeinsame Gräber ...

Wenn gegen so viel sentimentalen Versöhnungskitsch Margaret Thatcher Reserven anmeldet und etwa in einem »Spiegel-Interview« erklärt, die deutsche Rede von der Verankerung Deutschlands in Europa meine in Wahrheit die Verankerung Europas in Deutschland, so sollte man darin nicht nur die Borniertheit eines englischen Nationalismus sehen, sondern auch den Ausdruck eines britischen Skeptizismus gegen deutsche Schwarmgeisterei und französischen Administrationsrationalismus; eines antiharmonistischen Skeptizismus, der immerhin den ältesten Parlamentarismus der Welt im Rücken hat; einmal abgesehen von der traditionell insularen Haltung der alten See- und Kolonialmacht, die gegenüber dem Kontinent seit dem Westfälischen Frieden immer eine Gleichgewichtspolitik betrieben hat.

Das Gegenmodell zum Vereinigungsüberschwang war freilich noch weniger erfreulich. Es war das »Europa der Vaterländer« Charles de Gaulles. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß de Gaulles Konzept eines »Europas der Vaterländer«, mit dem er sich vehement gegen das integrierte, übernationale Europabild der Jean Monnet, Robert Schuman, de Gasperi, Paul Henri Spaak auflehnte, ebensosehr Reaktion auf das Trauma der französischen Niederlage von 1940 war, wie umgekehrt der deutsche Drang nach Europa, Reaktion auf den Zusammenbruch des Reiches 1945 und den Verlust der nationalen Identität gewesen ist. Freilich mit genau umgekehrten Vorzeichen: Konnte und wollte der General über die mythische Brücke der Resistance den Traditionsanschluß an den souveränen Nationalstaat von vor 1939 und an die Glorie der Grand Nation finden, so stand dem Adenauerschen Restdeutschland nach dem Verlust seiner territorialen und historischen Integrität nur der Weg nach vorwärts offen: Die europäische Identität sollte die verlorengegangene nationale ersetzen. Erst heute, nach Wiedervereinigung und erfolgreich betriebener Historisierung und Relativierung der historisch singulären Naziverbrechen — man denke nur an den unsäglichen »Historikerstreit« — melden sich in Deutschland auch in der offiziellen Öffentlichkeit wieder massiv national-restaurative Tendenzen an, von Stoiber bis zum »Spiegel«; am Stammtisch hat es so was natürlich immer gegeben.

II.

Aber schon als de Gaulle 1958 wieder ans Ruder kam, war ein völliges Zurück zum Vorkriegs-Nationalstaat kaum mehr möglich. Wichtige Etappen der europäischen Einigung waren bereits durchlaufen (die Montanunion 1952) oder schon so weit vorbereitet (die für den ersten Jänner 1959 vorgesehene erste Phase der Verwirklichung der Wirtschaftsunion), daß ein französisches Ausscheren aus den römischen Verträgen ökonomisch bedeutende negative Folgen gehabt hätte — und zwar vor allen für Frankreich selber, das damals wirtschaftlich und militärisch mitten in der Entkolonialisierungskrise sich befand.

Dien Bien Phu lag erst fünf Jahre zurück und das zugleich innen- wie außenpolitische Hauptproblem Frankreichs war damals die Beendigung des Algerienkrieges, der Rückzug aus Nordafrika und die Trockenlegung der OAS. In dieser Situation verfolgte der General eine Doppelstrategie, die ein notwendiges Minimum an wirtschaftlicher Integration mit einem möglichen Maximum an politischer Souveränität verband und nur auf bestimmten Gebieten der Wirtschaftspolitk, insbesondere in Bezug auf die bald veralterte Schwerindustrie, Elemente nationalstaatlicher Ungebundenheit preisgab. Aber auch dies versuchte de Gaulle zu unterlaufen, indem er durch eine »Politik des leeren Stuhls« den Ministerrat der Gemeinschaft lähmte, bis die im Vertrag vorgesehenen Mehrheitsentscheidungen dieses Gremiums 1966 durch die Einstimmigkeitsregel ersetzt wurden (im sogenannten Luxemburger Kompromiß). Die im Fouchet-Plan III von 1962 vorgeschlagenen, schon sehr abgeschwächten Ansätze zu einer politischen Union lehnte er ebenso ab, wie er das 1961 vorgebrachte Beitrittsansuchen Großbritanniens über ein Jahrzehnt, also noch über die Zeit seines Rücktritts hinaus, blockierte. Mit dem Austritt Frankreichs aus der integrierten Struktur der NATO am Höhepunkt der EWG-Krise 1965 wurde vorläufig jede Hoffnung auf eine politische Union der EWG, mit der Österreich im Rahmen der 1959/60 auf Initiative Großbritanniens geschaffenen EFTA seit 1972 assoziiert ist, zunichte. Das »Europa der Vaterländer« sollte nach französischen Vorstellungen — und es ist gut, sich heute daran zu erinnern, wenn man Jacques Delors einen typisch französischen, abstrakten Cartesianismus vorwirft — ein von transnationaler Administration so weit wie möglich freier Raum von nebeneinander existierenden, sich nur durch einstimmmige Beschlüsse koordinierenden, souveränen kontinentalen Nationalstaaten sein.

Trotz der Blockade auf politischer Ebene, sowohl was die sogenannte »Vertiefung«, als auch was die Erweiterung betrifft, kam die wirtschaftliche Integration der sechs Signatarstaaten von Rom zwar zäh, aber doch voran. Und es waren auch weiterhin die ökonomischen Imperative, von denen die Impulse für politische Initiativen zur Schaffung einheitlicher institutioneller und legistischer Rahmenbedingungen ausgingen und die in den 70er-Jahren auch zur Erweiterung der Gemeinschaft führten. Die 1965 beschlossene Fusion der drei Kommissionen von EWG, Euratom und Montanunion wurde nach der Rückkehr Frankreichs in den Ministerrat 1966 im Jahre 1967 durch die Vereinigung der drei Gemeinschaften zur EG vollzogen, 1968 trat die Zollunion, mit der die Binnenzölle für gewerbliche und industrielle Güter aufgehoben wurden, sogar früher als vorgesehen in Kraft, gleichzeitig mit der Vorlage des Werner-Plans zur Schaffung einer Europäischen Währungsunion.

Nach dem Rücktritt de Gaulles 1969 infolge der 68er-Unruhen kommen die Dinge zunächst beschleunigt in Gang. Schon 1970 beginnen die Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien, Irland, Dänemark und Norwegen, der EG-Haushalt bekommt eigene Einnahmen und das Europäische Parlament bestimmte Budgetrechte, um den Gemeinsamen Markt aus supranationalen Mitteln zu finanzieren, und die Kommission veröffentlicht den Werner-Bericht über den stufenweisen Aufbau der Wirtschafts- und Währungsunion. Das sind allerdings eher programmatische Ansätze, die in den Interessensgegensätzen der Nationalstaaten bald stecken bleiben. (Es kommt 1972 lediglich zur »Währungsschlange«, die 1979 vom EWS — dem Europäischen Währungssystem -abgelöst wird, welches die Wechselkurse innerhalb der EG harmonieren soll.) Insgesamt sind die 70er- und frühen 80er-Jahre vor allem gekennzeichnet von einer Stabilisierung der EG-Institutionen auf administrativer Ebene — wohl auch aus Reaktion auf die Turbulenzen des ersten Ölpreisschocks 1973 —, der Entwicklung von Aktionsprogrammen, dem Abschluß von Assoziationsverträgen mit den EFTA-Staaten (1972) und vor allem von der Erweiterung der Sechser-Gemeinschaft auf zunächst neun (1972), dann, mit Griechenland 1979 auf zehn und schließlich, mit dem Beitritt Portugals und Spaniens 1986, auf die Gemeinschaft der zwölf, wie wir sie heute kennen.

Trotz der ersten Direktwahl zum Europaparlament 1979 kam die politische Entwicklung und kamen insbesondere der Entwurf und der Bau neuer politischer Institutionen nicht voran (sieht man vom europäischen Rechnungshof 1977 ab) — es war vor allem der KSZE-Prozeß, der demokratiepolitische Dynamik und Fernwirkungen zeitigte, und nicht, zumindest nicht unmittelbar, die EG. Von einer »Architektur«, zum Glück auch von einem »Design«, wie es im Prospekt zu unserer Veranstaltung heißt, konnte im Hinblick auf die Entwicklung des Integrationsprozesses gut eineinhalb Jahrzehnte nicht die Rede sein, allenfalls davon, daß dieser in dem gegebenen Grundriß sich vollzog, als quasi-naturwüchsiger Vorgang von unten, von der Ökonomie, und auch von einer Stärkung der Brüsseler Bürokratie, was aber weniger, wie der Volksmund behauptet, deren Machtanspruch geschuldet ist, als der Strategie nationaler Regierungen, legistische Initiativen, mit denen sie in den eigenen Parlamenten Schwierigkeiten hätten, über die Kommission in Brüssel zu spielen. Bei allem Lamento über das demokratiepolitische Defizit der EG sollte man jedoch nicht vergessen, daß die demokratischen Institutionen in den neuen südlichen Mitgliedsstaaten Griechenland, Portugal und Spanien, die vor nicht allzulanger Zeit noch faschistische Regime hatten, durch die Mitgliedschaft gestärkt und stabilisiert wurden: In den spanischen Cortes fuchtelte vor zwölf Jahren noch ein Putschist mit der Pistole herum, sowas ist dort heute undenkbar.

Andererseits muß man auch sehen, daß seit dem Beitritt Großbritanniens das de Gaulle´sche Konzept eines »Europa der Vaterländer« sein neues Zentrum in London hat — man weiß nicht recht, ist das eine späte Rache des Generals oder am General.

Aber wie immer es sich damit verhalten mag — der mit politischen Mitteln vorangetriebene Integrationsprozeß kam immer mehr ins Stocken, Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre sprach man von der »Eurosklerose«, so etwas wie eine »Vision« war weit und breit nicht mehr sichtbar, die europäischen Staaten hatten in der scharfen Endphase des Kalten Kriegs, der vis-à-vis die aggressive Stagnation der späten Breschnew-Ära entsprach, vor allem militärische Sicherheitssorgen.

Es war die Zeit der Revolution der Mullahs, des Afghanistan- und des Falklandkrieges, von SDI und Nachrüstung, wichtiger als die politökonomische Einigung Europas erschien die militärische Stabilität der NATO unter US-amerikanischer Dominanz; jede Veränderung der politischen Strukturen in Europa, jede Veränderung des status quo konnte, so schien es, das prekäre Gleichgewicht nur destabilisieren. Es war die Zeit der Ideologie des Posthistoire. —

III.

Natürlich ist es ein Zufall, aber es ist ein Zufall von signifikanter Bedeutung, daß jene beiden Männer, mit deren Namen die Wiederbelebung der Geschichte, die Lösung aus der Erstarrung in West- und Osteuropa, sich vor allem verbindet, fast gleichzeitig in zentrale Machtpositionen kamen: Im Jänner 1985 wurde Jacques Delors Präsident der Europäischen Kommission in Brüssel, und in Moskau wurde im März des gleichen Jahres Michail Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU. Beide hatten eine Vision von »Perestroika«, der eine vom politischen Umbau des russischen Imperiums, der andere vom politischen Aufbau eines geeinten Europa.

Das wenigstens das eine Projekt, die Integration West- und Zentraleuropas ein Stück weiter kam, verdankt sich zumindest auch dem scheiternden Gelingen des anderen: Dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende der militärischen Konfrontation der Blöcke. Dadurch erst wurde der politische Handlungsspielraum freigesetzt (auch gegenüber den USA), der letztlich zur deutschen Wiedervereinigung und über die Einheitliche Europäische Akte von Luxemburg (1987) zu Maastricht und zur vertraglichen Deklaration der Europäischen Union führte, mit dem Programm einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und dem datierten Nahziel einer einheitlichen europäischen Währung.

Ich sage zur Deklaration der Europäischen Union, nicht zur Realität, auch wenn die EG seit dem 1. November 1993 offiziell so heißt. Denn nach dem mühsamen Ratifizierungsprozeß von Maastricht, der von Delors mit der etwas unangenehm klingenden Parole vom angestrebten »Groß-Europa« vorangetrieben wurde, stellt sich immer dringlicher und unausweichlicher die schon klassische Feuilletonistenfrage nach der politischen Identität der Europäischen Union. Auf einmal wird deutlich, daß die Mitgliedsstaaten seit nunmehr fast vierzig Jahren einer verbindlichen Antwort auf die Frage, welche verfassungsmäßige Form der Vereinigung sie anstreben und ob sie überhaupt eine definitive Form wünschen, ausweichen. Dazu kommt so etwas wie die paradoxe »Trauer der Vollendung« im Unvollendeten, weil mit der Erreichung des Binnenmarktes der politische Primat der Ökonomie über die Politik, der die Schubkraft für den Integrationsprozeß lieferte, an sein Ziel gekommen ist und damit zu wirken aufhört; die Politik steht sozusagen auf einmal alleine da.

Der Elan der unmittelbaren Nachkriegszeit aber zur Schaffung der »Vereinigten Staaten von Europa«, wie er in Churchills visionärer Rede in Zürich 1946 zum Ausdruck kam und der sich vor allem aus dem Motiv speiste, die katastrophalen Fehler der Pariser Vororteverträge von 1919 nicht zu wiederholen, der daher von den Westdeutschen dankbar aufgenommen und von den USA als Element des antisowjetischen Bündnissystems gehandhabt wurde, hat seine Funktion erfüllt und ist durch die historische Entwicklung aufgezehrt. Ja, mehr als das, die Stimmung hat heute umgeschlagen: Nach der Wiedervereinigung wird die schon ganz Europa langweilende deutsche Identitätsfrage wieder eindeutig national und nicht europäisch beantwortet, womit für Deutschland ein ideologisch wesentliches Integrationsmotiv wegfällt. Daß es sich für alle anderen Staaten damit erhöht, ist zwar richtig, fällt aber weniger ins Gewicht. Ökonomisch und politisch wendet sich Deutschland wieder verstärkt dem Osten zu. Europapolitisch schwimmt Kohl zunehmend gegen den Strom, nicht nur in seiner eigenen Partei; und es hätte des Urteils von Karlsruhe gar nicht bedurft, um alle Träumereien von einem »europäischen Bundesstaat« ins Reich der politischen Phantastik zu verweisen. Auch unabhängig davon hat man den Eindruck, daß das Konzept eines »Europas der Vaterländer«, in Paris geboren, dann längere Zeit in London zu Hause, sich demnächst in Berlin niederlassen wird: Es macht sozusagen, wie der Vorsitz im Ministerrat, mit freilich wesentlich längeren Amtsperioden, die Runde in der Gemeinschaft.

Das Karlsruher Urteil, genial in seiner bösen Ironie, mit der es die politisch unklare Formel von der »Union« mit der ebenso unklaren, aber scharf begrenzenden Formel vom »Staatenverbund«, von einer »zwischenstaatlichen Gemeinschaft«, als für Deutschland verfassungsmäßig maximal zulässige Integrationsform beantwortet, hat allerdings den entscheidenden Fortschritt gebracht, daß es allen wüsten und zum Teil gefährlichen Spekulationen von einer »Nation Europa«, von einem »Groß-Europa«, von einem »europäischen Bundesstaat« und/oder, was wohl die blauäugigste und gefährlichste Vision ist, von einem »Europa der Regionen«, die, würde sie Wirklichkeit, den historisch mühsam und mit viel Blut und Tränen errichteten nationalen Verfassungsstaat in kleinere Einheiten zerbrechen würde, ohne diese in einer größeren demokratisch legitimierten Rechtseinheit auffangen zu können, die spekulative Luft abschnürt. Aber einen Rückfall in die alte souveräne Vaterländerei verlangt es auch nicht — es hat ja die Ratifizierung von Maastricht ermöglicht. Was aber verlangt es dann?

Es verlangt zu sehen, was man auch vorher schon hätte sehen können: Daß, wie Rüdiger Altmann gezeigt hat, der Rom-Vertrag mit all seinen Fortentwicklungen bis herauf zu Maastricht und zur Währungsunion, wenn sie denn in absehbarer Zeit kommen sollte (was ja niemand ernsthaft glaubt), einen Gesellschaftsvertrag im doppelten Sinn darstellt: die stufenweise Gründung eines Unternehmens, dessen Gesellschafter die europäischen Staaten sind, und die Stiftung einer europäischen Gesellschaft des industriellen Systems. Verscheucht man die Nebel der politischen Rhetorik, so tritt das Muster eines auf ökonomische Rationalität und gesellschaftliche Rationalisierung angelegten Gesellschaftsvertrags klar zutage. Man kann dann aber tatsächlich den politischen Motivationsschwund der Gemeinschaft nach Maastricht relativ gelassen zur Kenntnis nehmen, weil die politisch zivilisierenden Effekte im Rahmen eines gesamteuropäischen Interessenausgleichs durch die Ökonomie sich gleichsam en passant einstellen. Oder umgekehrt formuliert: Man sollte den Technokratievorwurf gegen Brüssel ernst nehmen, aber aufhören, ihn als Vorwurf zu formulieren. Denn das Ziel der europäischen Einigung ist weder die Wiedererweckung des christlichen Abendlandes noch sonstiger geistiger Erbmassen, weder die Schaffung einer gemeinsamen Nation und eines einheitlichen Staates, noch die Revitalisierung regionaler Kulturtraditionen. Ziel ist die Herstellung eines gemeinsamen, homogenen, intern offenen Marktes seiner Mitglieder in Bezug auf Arbeit, Kapital und Dienstleistungen. Und das ist grundsätzlich auch gut so, denn das hat auch indirekt moralische Auswirkungen — ich erinnere nur an Emile Dürkheims Insistenz auf den »moralischen Charakter« der Arbeitsteilung als Ursprung der Solidarität. Natürlich gibt dabei der einzelne Nationalstaat Souveränitätsrechte ab. Aber das ist kein Nullsummenspiel. Denn man muß sehen, daß die durch die technische und industrielle Entwicklung bereits eingetretene Souveränitätseinbuße des Nationalstaats das Motiv für seine föderative Verbindung mit anderen ist. Die kanonische, in der Theorie auf Hegel zurückgehende Trennung von Staat und Gesellschaft und die klassische Souveränitätskonzeption der Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts sind durch die industrielle Entwicklung zwar nicht gestürzt, wohl aber unterlaufen, erodiert und gewissermaßen »ausgefranst« worden. Der Staat als solcher ist heute über seine eigenen Hoheitsorgane allein nicht mehr in der Lage, Herrschaftsfunktionen gegenüber der Industriegesellschaft auszuüben; er könnte sie allenfalls ersticken. Will er sie aber fördernd verwalten, so bedarf er dazu einerseits intermediärer, parastaatlicher Institutionen, anderseits muß er der Dynamik, mit der die nationalen Industriegesellschaften aus ihren historischen Binnenraum hinausdrängen, politische Proportionen und geregelte Verlaufsformen geben. Im gleichen Maße, wie der Staat heute auf die Leistungskraft der Industrie, das Verhältnis von Arbeit und Kapital ausgewiesen ist und schließlich selbst die Integration widerstreitender gesellschaftlicher Interessen organisiert, über parastaatliche Institutionen den sozialen Kompromiß zu einem Funktionselement der demokratischen Konfliktaustragung ausgestaltet, sieht er sich veranlaßt, Interessensverbindungen mit anderen Staaten einzugehen, die in transnationalen Einrichtungen institutionalisiert und auf Dauer gestellt werden; er differenziert nach oben und nach unten Funktionen aus. Der Markt als Schauplatz der Kapitalverflechtung, der industriellen Arbeitssteilung und des technologischen Fortschritts ist der Boden dieser Entwicklung.

IV.

Was sich so herausbildet, ist nicht ein neuer Superstaat, sondern die ökonomische Vergesellschaftung der Staaten — uns zwar mit oder ohne EG; die EG bzw. die Union gibt ihr nur die sie erleichternde und sie reglementierende politische Verlaufssform. Von einem wie immer vereinigten »Staat Europa« als Fernziel der Union kann daher nicht die Rede sein. Die Hoffnungen auf ihn sind ebenso unbegründet wie die Ängste vor ihm. Und zwar nicht nur wegen des Urteils von Karlsruhe, oder weil nationalistische Borniertheiten dem entgegen stünden; auch nicht nur deshalb, weil mit bald 370 Millionen Menschen und einem Dutzend Nationalsprachen sich nicht von oben her ein Staat organisieren läßt, der auch nur einigermaßen seinem Begriff als demokratischer Verfassungsstaat entsprechen würde und trotzdem stabil wäre. Nicht nur deshalb also, weil das nicht geht, sondern vor allem deshalb, weil das keinen Sinn macht, ja dem Sinn des ganzen Projekts zuwider liefe. Staat leitet sich von »Status« ab, der Staat repräsentiert seinem Wesen nach eine statische Ordnung und kann auch nur deshalb ein Rechtsstaat sein. Vergessen wir nicht, daß der Staat im modernen Sinn erst mit der bürgerlichen Gesellschaft entsteht — als ihr notwendiger Kontrapunkt und Ordnungsrahmen. Das Unternehmen der Europäischen Union aber ist auf Entwicklung, auf Dynamik angelegt, auf wirtschaftliche Verflechtung als Prozeß — auf die »immer engere Union der Völker Europas«, wie es wörtlich im Unionsvertrag heißt, der also selbst die Union nicht statisch, sondern dynamisch, nicht staatlich, sondern gesellschaftlich definiert. Und insofern der Vertrag den Begriff »Europa« undefiniert läßt, ist er prinzipiell auf Erweiterung ausgelegt, meint also gerade nicht einen »Block Europa« oder eine »Festung Europa«. Im übrigen spricht auch das Karlsruher Urteil von einem »auf Fortentwicklung angelegten mitgliedsstaatlichen Verbund«. Die EU ist gleichsam ein institutionalisierter Komparativ.

Das, was man gemeinhin als Schwäche der Gemeinschaft ansieht — die staatstheoretische Undefiniertheit der Union — ist gerade ihre Stärke: denn das heißt auch, daß sie nicht definit ist. Ihre Stärke liegt in der Modernität ihrer Konstruktion als ökonomischer und gesellschaftlicher Prozeß, und nicht in der Auflösung und Neugründung von Staatlichkeit. Weder die römischen Verträge noch ihre Revision durch Maastricht wollten einen verfassungs- oder völkerrechtlich endgültigen »Status« festschreiben, sondern eine »Entwicklung« begründen, und gerade darin liegt auch — aber es ist fast tautologisch, das zu sagen — ihre innereuropäisch pazifizierende Funktion. Umgekehrt wäre ein erreichter Status in keiner Weise eine Garantie dafür, daß es zwischen den europäischen Mächten nicht doch wieder zu gewaltförmigen Konflikten kommen könnte. Insbesondere dann nicht, wenn die statische Fusion Produkt eines politisch-voluntativen Aktes wäre, der sein ökonomisches Konto überzieht. Sie wäre ständig vom Zerfall bedroht. Und nichts ist gefährlicher als die regressive Dekomposition einer politischen Überintegration.

Im übrigen bringt die Integration für die einzelnen Mitgliedsstaaten auch im Rahmen der bestehenden Institution einen Demokratiefortschritt und nicht, wie allgemein behauptet wird, einen Demokratieverlust: weil bislang externe Faktoren des Nationalstaates zumindest partiell internalisiert werden; weil, über die Brüsseler Bürokratie vermittelt, ein politisch geregeltes Einmischen in bisher formal fremde Angelegenheiten möglich wird, die materiell tatsächlich in ihren Fernwirkungen auch bislang schon eigene waren. Insofern bedeutet die Integration demokratischer Staaten, auch wenn die Integrationsinstitutionen selbst demokratisch nur indirekt legitimiert sind, an sich schon einen Demokratisierungsschub und nicht, wie die Gegner der Integration behaupten, einen Schritt zur Entmündigung des Bürgers: Seine Stimme gewinnt an Reichweite; daß er andererseits auf mehr Stimmen hören muß, liegt im Wesen der Demokratie, es widerspricht ihr nicht. Eine quantitativ (geographisch und numerisch) größere Demokratie ist ceteris paribus auch eine qualitativ größere Demokratie, weil sie mehr unter ihrer Kontrolle hat; weil mit der demokratischen Macht auch die Macht der Demokratie wächst und sie das Fremde im Wortsinn ent-fremdet. Emile Durkheims These vom »moralischen Charakter« der Arbeitsteilung als Ursprung der Solidarität meint genau das. Die immer wieder geforderte Stärkung des Europäischen Parlaments jedoch, welche diesem echte legislative Kompetenzen gegenüber der Kommission, dem Rat und also auch gegenüber den nationalen Parlamenten einräumte, wäre ein demokratiepolitischer Irrweg. Denn er führte zu einer widersprüchlichen Verdopplung politischer Legitimität, damit zu permanenten Machtkämpfen zwischen den nationalen Parlamenten und der europäischen Parteienvertretung und damit wiederum zu Rechtsunsicherheit und letztlich erratischer Willkürherrschaft, mit leicht voraussehbaren Konsequenzen. Sinnvoll gangbar wäre dieser Weg nur, wenn man wirklich einen europäischen Bundestaat als Endziel der Union anstrebte, in dem die nationalen Parlamente auf die subalterne Rolle von Regional- und Länderparlamenten reduziert wären. Aber davon kann ernsthaft nicht die Rede sein. Im übrigen ist es zweifelhaft, ob eine solche Fundamentaltransformation evolutiv überhaupt möglich ist und nicht einen disruptiven Bruch mit allen gegebenen politischen Machtstrukturen voraussetzte, etwa als Folge eines weiteren großen europäischen Krieges. Wie die Dinge liegen, hat das Europäische Parlament aus demokratiepolitisch guten Gründen nur ein äußerst eingeschränktes, formales Ratifizierungsrecht und bietet ansonsten eine Bühne für unverbindliche politische Debatten. Man sollte es als das betrachten und im wesentlichen auch als das belassen, was es heute ist: Eine Art »wissenschaftlicher Beirat« für die gesellschaftliche Integration Europas.

All das heißt nicht, daß man über die politische und institutionelle Verfaßtheit — ich sage nicht Verfassung — der Union und über die demokratische Legitimation ihrer Akte und Organe sich nicht laufend den Kopf zerbrechen muß. Aber indem man das tut, wird man die Verfassungsdebatte in den einzelnen Staaten forcieren müssen — denn nach wie vor ist es der nationale Verfassungsstaat, der einklagbare Rechte garantiert.

Supranationale Strukturen und Institutionen haben ihren ökonomischen Wert und ihren gesellschaftlichen Nutzen, sie ergänzen und bändigen, doch sie ersetzen auf absehbare Zeit nicht den nationalen Verfassungsstaat. »Bürgerrechte«, schreibt Ralf Dahrendorf, »verlangen verläßliche Institutionen in immer größeren, daher notwendig heterogenen Gemeinwesen. Sie verlangen selbstbewußte Nationalstaaten in einem kooperativen Europa, das seine Grenzen so weit zieht wie möglich und aktiv mitwirkt an der Schaffung einer internationalen Ordnung des Rechts«.

Überarbeiteter Vortrag bei »Designing Europa« im Museum für Angewandte Kunst Wien, 20. November 1993, veranstaltet von der »Zukunftswerkstätte«

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Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1994
, Seite 9
Autor/inn/en:

Rudolf Burger:

Rudolf Burger wurde am 8. Dezember 1938 in Wien geboren. Er absolvierte ein Physik-Studium an der Technischen Universität Wien und arbeitete anschließend als Assistent am Institut für angewandte Physik (wo er 1965 promovierte) sowie am Ludwig-Boltzmann-Institut für Festkörperphysik und im Bereich der Forschungsplanung am Battelle-Institut in Frankfurt/Main.
Ende der 1960er Jahre war Burger außerdem im Planungsstab des deutschen Wissenschaftsministeriums in Bonn tätig. Von 1973 bis 1990 leitete er die Abteilung für sozial- und geisteswissenschaftliche Forschung im Wissenschaftsministerium in Wien. 1979 habilitierte sich Burger für Wissenschaftssoziologie. 1987 kam er als Professor an die Hochschule für angewandte Kunst in Wien, wo er 1991 Vorstand der Lehrkanzel für Philosophie wurde. Von 1995 bis 1999 war Rudolf Burger Rektor der Universität für Angewandte Kunst; 2007 wurde er emeritiert.

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