FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 130
Felix Weltsch

Der Stiefel ist Italien

Zu einer neuen „Entschlüsselung“ Franz Kafkas

In der immer noch anwachsenden Sekundärliteratur zum Werk Franz Kafkas taucht neben anderen mehr oder minder absurden Interpretationen in regelmäßigen Abständen eine bestimmte Art symbolischer Entschlüsselung auf, die mit Sicherheit den einen Punkt entdeckt, aus dem Kafkas ganzes Weh und Ach zu kurieren gewesen wäre. Einer der jüngsten dieser erstaunlichen Versuche, den auch Max Brod in seiner Prager Rede erwähnt hat — „Kafkas Dichtungen“ von Kurt Weinberg (Francke Verlag, Bern) — wird nachstehend besprochen. Felix Weltsch, neben Max Brod der einzige Überlebende aus Kafkas engerem Freundeskreis und heute als Universitäts-Bibliothekar in Jerusalem tätig, ist mit einer Reihe höchst bemerkenswerter philosophischer Schriften hervorgetreten (darunter „Das Wagnis der Mitte“) und ist der Autor des im Herbig-Verlag, Berlin, erschienenen Buchs „Religion und Humor im Werk Franz Kafkas“.

„Die Travestien des Mythos“ heißt der vieldeutige Untertitel eines neuen Buchs über Franz Kafka, das Kurt Weinberg, Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität von Rochester, veröffentlicht hat. Der Verlag bezeichnet es als eine „revolutionierende Deutung von Kafkas Dichtungen“. Es muß bezweifelt werden, ob die Revolution gelungen ist.

Daß Kafka wie wenige andere Dichter die mannigfaltigsten und divergentesten Interpretationen ermöglicht, ist hinreichend bekannt. Daß den Interpretationsmöglichkeiten eine Grenze gesetzt sein sollte, die man nicht überschreiten darf, zeigt das vorliegende Buch.

Hier wird der Versuch gemacht, das ganze Werk Kafkas — Romane, Erzählungen, Versuche, Notizen, Träumereien — auf einen einzigen Nenner zu bringen. In seinen Schlußworten faßt der Autor zusammen:

Kafka stellt in Parabeln die ganze Fragwürdigkeit der kosmischen Verhältnisse, Aufstieg und Sturz des Göttlichen, den mechanischen Kreislauf der Natur und der übernatürlichen Einbildungen, und die ewige Jagd dar, welche Gott, Mensch und Außenwelt von Urzeiten her mit monoton sich wiederholenden Archetypen im menschlichen Geist, in der menschlichen Seele aufeinander veranstalten. In seiner Gesamtheit bildet Kafkas Werk eine Aretologie mit umgekehrten Vorzeichen: das Erhabene der göttlichen Komödie verschwindet hinter dem Tierischen einer göttlichen Posse, die sich bei näherer Betrachtung als die Phantasmagorie eines Hexensabbats entpuppt, in welchem göttliche, irdische und messianische Vorstellungen einander den Rang streitig zu machen trachten.

Was immer man an dieser Deutung sonst noch auszusetzen haben mag — sie übertrifft alle anderen an trostlosem Pessimismus. Nach Kafkas Anschauung wäre (wieder mit den Worten Weinbergs)

... der Tod, die endgültige Vernichtung dem Leben vorzuziehen, ja geradezu eine Gnade, welche die unerlösbare göttliche Macht ihren Geschöpfen zubilligt ... Durch eine solche Umkehrung aller herkömmlichen Werte erreicht Kafkas Nihilismus eine Kälte, eine Verödung, eine Zertrümmerung menschlicher (aber auch göttlicher) Hoffnungen und illusorischen Besitzes, wie sie bisher und wohl auch seitdem in der europäischen Literatur nicht in Erscheinung getreten waren ... So weht uns aus allen Schriften Kafkas der Todesatem eines Pessimismus entgegen, der an der Grenze der Verzweiflung in eisige Ironie und in schwärzesten Humor umschlägt.

Nun ist es notwendig, zwei Grundarten des Pessimismus zu unterscheiden: den auf die Situation des Menschen bezogenen Pessimismus und den andern, der sich auf Gott bezieht. Der erste meint: die Situation des Menschen ist hoffnungslos, er vermag zum Göttlichen nicht vorzudringen. Der zweite meint: Gott selbst — wenn er existiert — ist in verzweifelter Lage; das göttliche Geschehen ist sinnlos.

In den meisten pessimistischen Kafka-Interpretationen wird nur von der pessimistischen Situation des Menschen gesprochen. Die Helden der Romane Kafkas scheitern in ihren Versuchen, mit Gott — mit dem „Wahren“, dem „Unzerstörbaren“ (um Kafkas Bezeichnungen zu gebrauchen) — in echte Beziehung zu treten. Natürlich gibt es auch hier wieder verschiedene Stufen des Pessimismus: Die Menschen gelangen nicht zum wahren Sein, entweder weil es das überhaupt nicht gibt, oder weil es keine wirklichen Wege dahin gibt, oder weil sie immer unrichtige Wege dahin wählen. Dies ist ja die tatsächliche Situation der Kafka’schen Figuren. Sie kommen zu keiner wahren „Umkehr“, denn sie geraten immer wieder auf Wege, die ihnen ihre egoistischen oder beruflichen oder vitalen Interessen empfehlen. In diesem Sinne ist die Rolle der Frauen in Kafkas Romanen charakteristisch. Im „Schloß“ wie im „Prozeß“ sucht der Held durch Frauen zum ersehnten Ziel zu gelangen, bleibt aber im Erotischen stecken.

Indessen wird in den Romanen nur die aktuelle Ergebnislosigkeit der Versuche dargestellt, niemals ihre Unmöglichkeit oder gar Sinnlosigkeit. Gerade dieser unentschiedene Schwebezustand veranlaßt ja die Interpreten, weiterzugehen und einerseits auf den Weg der Gnade, der Erlösung hinzuweisen, anderseits (und häufiger) die Brücke zum Nihilismus, zum „schwarzen Pessimismus“ zu schlagen. Das hat nun auch Weinberg gründlich besorgt, obwohl ihn ein Umstand hätte zurückhalten sollen, der von ihm selbst sehr oft erwähnt wird: der Humor Franz Kafkas.

Weinberg spricht immer wieder vom schwarzen, finstern, ja „schwärzesten“ Humor. Das ist eine Verkennung. Humor ist nicht finster. Humor erhellt sogar die Finsternis. Denn Humor beruht auf der Möglichkeit, sich über eine Situation zu erheben, auf der Möglichkeit des „Darüber-Stehens“, des doppelten und wechselnden Bewußtseins. Wer seine Lage — und sei sie noch so dunkel — mit Humor zu betrachten vermag, ist kein Gefangener der Finsternis mehr.

Aber Weinberg begnügt sich nicht mit der schwarzen Farbe des Kafka’schen Humors, er gibt ihm auch eine ganz bestimmte Gestalt: er sieht in allen Darstellungen und Allegorien und Parabeln Kafkas den Kampf zwischen Judentum und Christentum. Unter anderem schreibt er:

Kafkas Gottesfiguren — es sind menschliche und tierische Travestien des seiner Majestät beraubten, alttestamentlichen Jahve — bemühen sich offenbar, in einer gespenstigen Götterdämmerungsatmosphäre ihren vermeintlichen Untergang an einem ‚neuen‘ Glauben — alle Anspielungen Kafkas weisen auf das Christentum hin — hinauszuschieben.

Gewiß spielt die Religion, besonders die Situation der jüdischen Religion, in Kafkas Gedanken und Phantasien eine große Rolle. Darauf hat außer Max Brod vor allem Hans Joachim Schöps hingewiesen: „In vielen Dichtungen und Skizzen wird von Gesetzen gesprochen, die vergessen sind und doch geheimnisvoll wirken und so notwendig zu Schuld und Sünde führen, der gegenüber es nur den Sprung in die messianische Hoffnung und die Gnade gibt.“ („Theologische Motive in der Dichtung Kafkas“, S. 155, in: „Studien zur unbekannten Religions- und Geistesgeschichte“.) Aber von einem Kampf zwischen Judentum und Christentum ist nicht die Rede und kann nicht die Rede sein. Wenn ich hier eine persönliche Bemerkung einfügen darf: Das Problem „Judentum“ wurde in den Gesprächen Kafkas mit seinen Freunden oft behandelt, aber so gut wie nie in einem Antagonismus zum Christentum.

Weinberg will seine antagonistische Interpretation durch ein Verfahren beweisen, das er „Entschlüsselung“ nennt. Namen, Darstellungen, Bilder, Schilderungen, Bemerkungen, Hinweise usw. werden durch äußerliche Assoziation mit dem Thema „Judentum — Christentum“ in Verbindung gebracht. Einige Beispiele für diese Technik:

In der „Verwandlung“ wird von einem Bild erzählt, das sich im Zimmer des in einen Käfer verwandelten Gregor Samsa befindet und ihn als Leutnant darstellt; das ergibt — nach Weinberg — „drei Anspielungen auf seine vergangenen messianischen Bestrebungen. Die Militärzeit weist auf die ecclesia militans hin, der Degen ist ein Kreuzsymbol, und der Leutnant, der lieu-tenant (wörtlich celui qui tient le lieu = Statthalter) deutet auf den vorübergehend usurpierten Posten eines Statthalters des (göttlichen) Herrschers hin.“

Wenn irgendwo von einem „Stiefel“ die Rede ist, so bedeutet das: die Kirche. Warum? Weil Italien auf der Landkarte die Form eines Stiefels hat — und Italien führt zu „Rom“ und Rom führt zu „Kirche“ und Christentum. (Es muß nicht einmal immer ein Stiefel, es kann auch ein Strumpf sein oder sogar die Stiefelsohle des Vaters von Gregor Samsa.)

Ein zehnjähriger Junge, der irgendwo vorkommt, bedeutet die „Zehn Gebote“.

„Tücher“ bedeuten die religiösen „Texte“, weil Tuch auf Textilien hinweist und Textilien auf Texte.

Wenn jemand vor 10 Uhr irgendwo nicht eingelassen wird, so deutet auch das auf die Zehn Gebote hin.

Wälder bedeuten Juden, weil es 12 Stämme gab.

Und so weiter.

Zu diesen „Entschlüsselungen“, deren das Buch übervoll ist, möchte ich anmerken:

  1. Wieder eine persönliche Erfahrung: nichts war Kafka fremder als „Kalauer“. Weinberg benützt dieses Wort für seine Zusammenhänge oft selbst. Aber derartige „Wortwitze“ gehören in keiner Weise zum Humor Franz Kafkas.
  2. Der angebliche Zusammenhang zwischen dem von Kafka „Verschlüsselten“ und Weinbergs „Entschlüsselungen“ beruht auf rein klanglichen Assoziationen, die sich oft nur mit Hilfe verschiedener Sprachen oder nur auf Grund philologischer Analysen herstellen lassen.
  3. Vor allem aber handelt es sich in den meisten Fällen nicht um einzelne Assoziationen, sondern um eine assoziative Kettenreaktion, also etwa: Stiefelsohle — Stiefel — Form Italiens auf der Landkarte — Italien — Rom Kirche — Christentum. Mit einem solchen Verfahren, das sich auch noch der Hinzuziehung anderer Sprachen bedient, kann man alles auf jede gewünschte Weise „entschlüsseln“.

Prof. Weinbergs Buch stellt eine ganz bestimmte, durch den Kampf von Archetypen charakterisierte Weltanschauung mit Konsequenz, Leidenschaft und Beharrlichkeit dar. Den Beweis, daß diese Weltanschauung auch jene ist, die durch Kafkas Dichtung dargestellt werden soll oder daß sie sich ohne bewußte Absicht Kafkas in seiner Dichtung durchgesetzt hätte oder daß sie gar, wie Weinberg manchmal andeutet, von Kafka bewußt verborgen worden wäre diesen Beweis hat Weinberg nicht im entferntesten erbracht.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1964
, Seite 496
Autor/inn/en:

Felix Weltsch:

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