FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1989 » No. 432
Friedrich Geyrhofer

Blick in die Zukunft

Im Herbst fangen Kriege an, Revolutionen im Frühjahr. Eine bewährte Regel, die in der zweiten Hälfte des Jahres 1989 ad acta gelegt wurde. Daß es Gewißheit nur noch über die Vergangenheit gibt, ist das erste Ergebnis einer echten Umwälzung. Wenn jede Woche neue Fakten setzt, dann müssen Tatsachen im Perfekt und im Plusquamperfekt stehen. Es hat also einmal einen Kalten Krieg gegeben, hinter uns liegt die Zeit, wo „Abrüstung“ ein frommer Wunsch und „Entspannung“ eine zweifelhafte Angelegenheit gewesen ist. Das Wort „Kommunismus“ liest sich nun wie eine Vokabel aus dem Kirchenlatein.

Blicken wir in die Zukunft. 1992 findet in den USA ein Wahlkampf statt. Beherrscht wird er von dem Appell: „Holt die Boys aus Europa zurück!“ Ein Militärmuseum zieht in die leeren Räume des NATO-Hauptquartiers in Brüssel ein. Und wie sieht es dann im Kreml aus? Gorbatschow prophezeite nach der Offnung der Berliner Mauer:

An dem Tag, da Deutschland wieder vereinigt wird, besetzt ein Marschall der Sowjetunion meinen Platz.

Vielleicht werden die Plätze anders besetzt. Die sowjetischen Streitkräfte wandeln sich in eine Milizarmee nach Schweizer Vorbild um, nachdem die Unionswahlen um das Amt des Staatspräsidenten von der Devise entschieden wurden: „Schickt die Marschälle auf ihre Datschas!“ Sogar die Schweiz würde sich entwaffnen, gäbe es in Österreich nicht die Regierung Haider/Lichal, die abgelegte russische Raketen kauft. Das Nachrichtenmagazin „Profil“ enthüllt sensationell ein Geheimpapier vom Ballhausplatz, das eine Allianz mit Serbien und die Aufteilung Sloweniens projektiert. Besorgte Stimmen mehren sich, der Eiserne Vorhang sei zu früh abgebaut worden.

In London erscheint in den neunziger Jahren ein Bestseller mit demTitel:

Rehabilitierung des Kalten Kriegs

Das kompetente Autorenteam weist nach, daß der Ost-West-Konflikt als Motor für den Fortschritt bitter nötig sei. Wettbewerb der Systeme einerseits, Klarheit der Feindbilder andererseits: das war die gute alte Zeit! Japan könne die „rote Gefahr“ nicht ersetzen. Seitdem die Supermächte die Welt nicht mehr einschüchtern, sei die Anarchie der Kleinstaaten ausgebrochen. Was der Aufruhr in den Straßen Leipzigs, Dresdens und Prags im November 1989 ausgelöst hat, erweise sich im Rückblick als Schlag gegen das kapitalistische System. Zukunftsmusik wird gern extrem komponiert, sie bewegt sich auf einer Skala von den krassen bis zu den süßesten Tönen. Die aktuelle Haltung im Westen geht momentan auf freundliche Distanz zu den Zerrüttungen des Realsozialismus. Je näher sie kommen, desto beschwerlicher werden sie. Sie stören — und zerstören — die mühsamen Kompromisse, mit denen die westliche Welt ihre Zukunft regelt. Man bestaunt die elementaren Veränderungen „drüben“, die „hüben“ unvorstellbar geworden sind. Unheimlich wirkt der Gedanke, die sozialen Bewegungen im Osten könnten auf die bürgerlichen Gesellschaften übergreifen, welche nach den eigenen Erschütterungen der sechziger und siebziger Jahre ihr Gleichgewicht gerade erst gefunden haben.

Der Einsturz der sowjetischen Hegemonie ohne Bomben und Granaten bedeutet zwar einen Grund zur Erleichterung. Zu befürchten ist aber auch, daß sich zwischen Magedburg und Wladiwostok ein Abgrund öffnet. Jetzt dämmert die Erkenntnis, daß der Eiserne Vorhang (samt „Breschnew-Doktrin“) eigentlich den Westen vor dem Osten beschützt hat.

Augenreiberl

Die Amerikaner reiben sich die Augen,

schreiben amerikanische Zeitungen, die es besonders schwer haben, ein ideologisches Koordinatensystem ohne das „Reich des Bösen“ zu konstruieren. Die New York Times warnt vor der Annahme,

daß die Erneuerung der Geschichte in Osteuropa unweigerlich zu demokratischen Triumphen führen wird

Die International Herald Tribune sagt den eben erst erlösten Bevölkerungen eine Zukunft mit

hoher Inflation, hoher Arbeitslosigkeit und scharfer sozialer wie ökonomischer Ungleichheit

voraus. Scharfe Töne schlägt ein Schreiber der Washington Post an, sichtlich mit der Absicht, den Kalten Krieg rhetorisch ein bißchen zu beleben.

Der Sozialismus hat nicht nur die Regale von den nötigsten Waren geleert, er schwächt auch die biologische Kraft.

Statistiken dokumentieren es. Sinkende Lebenserwartung, wachsender Alkoholismus und der Prozentsatz der Sterbefälle, der in der Sowjetunion durch dreckiges Trinkwasser verursacht wird.

Immer noch das sattsam bekannte Ping-Pong-Spiel. Das eine System dient als Alibi des anderen. Umgekehrt könnte ja ein Schreiber der Prawda leicht mit dem Finger auf die eklatante Unfähigkeit der USA zeigen, mit der Drogenmafia in den eigenen Großstädten und in Lateinamerika fertig zu werden. Beide Supermächte haben gemeinsam, daß sie sich die bisherige Weltpolitik auf großem Fuße nicht mehr leisten können.

Östlich der Elbe setzte die „Lateinamerikanisierung“ unter der Herrschaft kommunistischer Generalsekretäre voll ein. Klassische Symptome der Unterentwicklung wie Kapitalflucht und Devisenschmuggel werden sichtbar. Die Katastrophe einer planlosen Planwirtschaft hängt mit jener „neuen Klasse“ zuusammen, die unter dem Überwurf des Realsozialismus ganz asozial privates Vermögen realisiert (zu deutsch: ergaunert) hat. Paradefall ist Honeckers Devisen-Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkowski, der sich in Berlin-West den Behörden stellte und auf gnädige Richter hofft, weil er wenigstens 60 Millionen DM von illegalen Konten in der Schweiz reumütig zurück in die DDR transferierte.

„Glasnost“ und „Perestrojka“ — längst überholt sind die Reformparolen. Die marxistischen Untergangsprognosen werden nirgendwo so überdeutlich bestätigt wie in den Ländern des sakrosankten Marxismus-Leninismus, einst optimistisch „Übergangsgesellschaften“ genannt. Wie sollte die „revolutionäre“ Verjüngung der altgedienten Staatsparteien möglich sein, wenn in den diversen Übergangsregierungen nunmehr Polizei und Militär den Kommunisten reserviert bleiben? Sie sind — höflich ausgedrückt — eine konservative Macht, zuständig für Ruhe, Ordnung und ihre eigene Sicherheit.

Eine knappe Lektion im historischen Materialismus, up to date. Die Macht kommt nicht mehr aus dem Lauf des Gewehrs, vielmehr sind es die Hartwährungen, die im heutigen Europa das Sagen haben. Beton und Stacheldraht waren dagegen machtlos.

Befreiung von der Diktatur, das stellt ein großes Ziel dar. Was dann? Niemand weiß eine gute Antwort. Marktwirtschaft ist noch lange keine Garantie für Erfolg, das hat sich in der Dritten Welt gezeigt. Großzügige westliche Spenden können Unheil stiften, das müßten die Polen bereits wissen.

Die „Jugoslawisierung“ der Volksdemokratien haben Leonid Breschnew und der Warschauer Pakt vor zwei Dekaden in Prag brutal gestoppt. Aus dem, was damals von der Seele des Kommunismus noch übrig war, ist in der Zwischenzeit purer Zynismus geworden. Eine Hohlform, in die man alle erdenklichen Inhalte schütten kann — nur nicht Leben! Leben und Freiheit atmen sowohl die gewaltfreien Massenbewegungen als auch die Gruppen und Grüppchen, die beispielsweise in der DDR aus dem Nichts geboren wurden. Ihre Überzeugungskraft liegt allerdings in der Opposition.

Was geschieht, wenn sich der vehemente Protest ins Regieren und Entscheiden umdreht? Gefesselt durchs innere Elend und die äußere Abhängigkeit vom Moskauer Schönwetter? Ein paar Einblicke in die postsozialistische Realität.

Alle Parteien Ungarns führen zur Zeit Machtkämpfe mit schmutzigen Mitteln,

erzählt György Markus, Soziologe und (laut Standard) einflußreicher Sozialdemokrat in Budapest. Er meint:

Wir brauchen eine kapitalistische Wirtschaft

Es folgt die Feststellung:

Nagymaros war eine Ausnahme. Für Grün ist Ungarn noch zu arm.

„Deutschland, einig Vaterland!“ — Der Massenruf auf den Straßen Leipzigs, was drückt er aus? Einen begreiflichen Gefühlsrausch? Oder ein authentisches nationales Bedürfnis? Anders hörte sich der Schrei der Dresdner an:

Laßt alle ins Freie, und fangt die Haie!

Zwei Seiten der revolutionären Medaille: Die Abrechnung mit dem alten Regime, Aufbruch zu neuen Ufern. Strömt diese kollektive Erregung zwanglos in die regulierten Kanäle der parlamentarischen Demokratie?

Wird die DDR überleben? Die Chancen stehen „Fifty-Fifty“. Nicht unbedingt kündigt der Sturm der ostdeutschen Bevölkerung auf die Bastillen der SED das Ende des „zweiten deutschen Staats“ an, der sich bislang generell als zweitrangig zu betrachten hatte. Aus der Umwälzung vermag sich ein Selbstbewußtsein zu entwickeln, ein souveränes Selbstvertrauen gegenüber den vom Glück so reichlich gesegneten Brüdern & Schwestern im goldenen Westen.

„Wir haben es alleine geschafft“: dies wäre der Basissatz für einen „zweitdeutschen“ Patriotismus, welcher sich nicht mehr bloß von Minderwertigkeitskomplexen, aggressivem Neid und Selbstmitleid nähren müßte. Was würde denn „Wiedervereinigung“ für die DDR bedeuten? Nichts als den Anschluß an die großmächtige Bundesrepublik. Was Gott getrennt hat, soll der Mensch nicht wiedervereinigen. Läßt sich so ein frommes Gebot auf den Kopf stellen? Wenn es je ein Gottesurteil gab, dann war es das Jahr ’45.

Noch ein Blick in die Zukunft

Wer könnte zukünftige gesamtdeutsche Volksvertreter daran hindern, das angrenzende Polen finanziell zu erpressen, um in aller Bescheidenheit wenigstens die Hafenstadt Stettin an der Oder heimzuholen? Angenommen, die Alliierten räumen das viergeteilte Berlin, wo sich dann eine demokratisch legitimierte Reichsregierung ansiedelt. Das wäre weit mehr als die Geburt einer neuen Supermacht im Herzen des Erdteils. Es würde heißen, daß um die Jahrtausendwende das 19. Jahrhundert wieder von vorne beginnt.

Auf die Meldung vom „Fall“ der Berliner Mauer stimmte der Bundestag das Deutschland-Lied an. Dann setzte in Bonn die Überlegung ein. Für die Bundesrepublik steht die Summe ihrer Errungenschaften seit dem „Generalvertrag“ von 1952 auf dem Spiel.

Der Weg ins 21. Jahrhundert führt nicht übers Potsdam und auch nicht über Weimar. Auf eine „Wiedervereinigung“ im vollen Wortsinn lassen sich weder Helmut Kohl („Konföderation“) noch Willy Brandt („Deutscher Bund“) ein. 17 Millionen Menschen in ein fremdes soziopolitisches System zu integrieren, das wäre auf lange Sicht weit eher ein Klotz am Bein als ein Machtzuwachs. Auch wenn das bundesdeutsche Kapital viele fette Happen zu schlucken bekäme.

Allerdings, die Vision „Gesamtdeutschland“ könnte ein Eigenleben gewinnen. Jetzt schon ist sie, trotz größter Hindernisse, eine politische Realität, mit der es sich wohl kaum eine Regierung „im vorhinein“ offen verderben möchte. Weder Paris noch Moskau oder Warschau wollen als „Feinde der Deutschen“ auftreten.

Man bedenke auch, daß Gesamtdeutschland in der Lage wäre, der „Lateinamerikanisierung“ Osteuropas vorzubeugen. Mit unberechenbaren Folgen freilich. Bis ins Baltikum könnte die Ausstrahlung einer Zentrale Berlin reichen, bis vor die Tore Leningrads, dem es dann auch nicht helfen würde, falls es wieder St. Petersburg hieße. Und Gorbatschow würde nicht als der Zar der Freiheit in die Geschichte eingehen, sondern als Verderber der slawischen Völker.

Übrigens, auch die Amerikaner hätten in Europa nichts mehr zu melden. Der japanischen Herausforderung müßte der geplante Überstaat EG die Stirn bieten — ein Monstrum ohnegleichen, das sich im Fall des Falles von Lissabon bis Riga erstreckt.

So sicher ist das noch gar nicht, ob es gelingt, den Kalten Krieg zu begraben. Oder ob er durch andere, eventuell noch schlimmere, Konflikte ersetzt wird.

Man muß es nicht so schwarz sehen. Eines steht aber fest: Die Zukunft Europas nach seiner Nachkriegszeit fängt nicht am Nullpunkt an.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1989
, Seite 1
Autor/inn/en:

Friedrich Geyrhofer:

Geboren am 03.09.1943 in Wien, gestorben am 16.07.2014 ebenda, studierte Jus an der Wiener Universität, war Schriftsteller und Publizist sowie ständiger Mitarbeiter des FORVM.

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