FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1966 » No. 150-151
Georg Prader

Bewaffnete Neutralität

Die nachfolgende, von uns erbetene Stellungnahme des Bundesministers für Landesverteidigung geben wir ungekürzt und völlig unverändert wieder:

Ich wurde aufgefordert, zum Artikel „Unbewaffnete Neutralität“ von Herrn Univ. Prof. Thirring Stellung zu nehmen. Dieser Aufforderung komme ich gerne nach, weil ich jede Gelegenheit benütze, an der Entflechtung von Begriffsverwirrungen mitzuhelfen. Voranstellen möchte ich, daß ich in der Person von Prof. Thirring einen Idealisten sehe, der aus absolut lauteren Motiven seinen eigenen Kampf um den Frieden führt. Nur hat er bei seinen Gedankenflügen den Boden der Realität verlassen und schwebt seiner Zeit voraus in einer Aera, in der es weder Kriege noch Kriegsdrohungen geben soll.

Einstweilen leben wir aber noch in der rauhen Wirklichkeit, in der Machtblöcke mit unvorstellbarem Vernichtungspotential einander Gleichgewicht haltend gegenüberstehen und die technische Entwicklung es über kurz oder lang jedem Staat, der genügend Geld hat, gestatten wird, eigene atomare Kampfmittel zu besitzen.

Prof. Thirring behauptet, es gäbe heute kein Volk mehr, das den Krieg will und ebenso hüteten sich die Machthaber aller Staaten („vielleicht mit Ausnahme Chinas“) davor, einen Angriffskrieg zu entfesseln. Ich stimme zu, daß kein Volk den Krieg will — auch nicht das chinesische! Aber die Völker werden ja nicht gefragt, ob sie den Krieg wollen oder nicht. Über Krieg und Frieden entschieden und entscheiden die Machthaber. Sie haben so entschieden, daß seit Beendigung des 2. Weltkrieges in ununterbrochener Folge Kriegshandlungen in aller Welt stattfinden, und zwar nicht nur in anderen Erdteilen, sondern auch in Europa (Griechenland, Ungarn, Cypern)! Dabei ist stets einer der Angreifer und einer der Angegriffene, auch wenn die Kriegshandlungen offiziell nicht „Angriffskrieg“ heißen.

Daß in einer so unruhigen Welt ein militärisches Vakuum eine tödliche Gefahr sein kann, ist keineswegs eine neomilitaristische These einer einflußreichen Militärkaste, die aus Angst, ihr Existenzberechtigung zu verlieren, an der Aufrechterhaltung internationaler Spannungen interessiert ist. Denken wir doch nur an Indien! In Österreich war es die Volksvertretung, die zuerst den Status der immerwährenden Neutralität beschlossen und dann erst zur Auffüllung des vorhandenen militärischen Vakuums österreichische Streitkräfte ins Leben gerufen hat. Sind deshalb alle Parlamentarier als Neomilitaristen zu bezeichnen?

Prof. Thirring stößt sich daran, daß in der Schweiz Landesverteidigung ein integrierender Bestandteil des nationalen Bewußtseins geworden sei und solange beibehalten werden solle, bis alle anderen Völker der Welt total abgerüstet hätten. Er bedenkt nicht, daß es gerade diese Haltung war, die es unserem Nachbarn ermöglichte in zwei Weltkriegen verschont zu bleiben! Im 2. Weltkrieg hat es Pläne zur militärischen Inbesitznahme der Schweiz gegeben, die nur deshalb nicht realisiert wurden, weil dem Aggressor der „Eintrittspreis“ in die Schweiz zu hoch war.

Der Verfasser setzt sich des weiteren großzügig über das Vorhandensein eines geltenden und verpflichtenden Völkerrechtes hinweg, das er ein Relikt der Vergangenheit nennt. Österreich hat mit der Notifizierung der immerwährenden Neutralität auch völkerrechtliche Pflichten auf sich genommen, die es einhalten muß, wenn es seine Glaubwürdigkeit nicht verlieren will. Aber das müßte Prof. Thirring eigentlich wissen, zumal er ja selbst als Volksvertreter aktiv im politischen Leben stand. Es erscheint mir angebracht, zu wiederholen, was der ehemalige österreichische Außenminister am 5.9.1964 in einer Rundfunkrede darlegte:

Nun gehört es zu dem Grundsatz der Neutralität, daß der neutrale Staat auch bereit sein muß, mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln seine Neutralität zu schützen. In der Schweiz und in Schweden hat man daher eine sehr positive Haltung zur Landesverteidigung eingenommen, und ich selber trete, wo ich kann, für eine ebensolche positive Haltung ein.

Natürlich, wenn es notwendig wäre, daß alle unsere Nachbarstaaten zu einer totalen Abrüstung bereit wären, dann wäre die Lage für Österreich auch anders.

Heute sind wir noch nicht so weit, und wenn es auch jedem vernünftigen Menschen klar ist, daß Österreich sich nicht gegen den Angriff eines großen Staates wehren kann, so soll es doch nicht so sein, daß andere Staaten durch unsere Wehrlosigkeit zu einer Aktivität an unseren Grenzen, die uns sehr gefährlich werden kann, geradezu eingeladen werden. Man darf nicht vergessen, daß sich die Zeiten immer wieder ändern können und daß so manche militärische Auseinandersetzungen in den letzten Jahren durch die Streitigkeiten und Konflikte kleinerer Staaten entstanden sind.

Ich habe dieser realistischen Aussage nichts hinzuzufügen.

Der Kern des neuesten Thirringsplanes enthält die Forderung nach Abschluß einer weiteren Genfer Konvention, die einen besonderen Status für solche Länder festlegen soll, die unter der Kontrolle der Vereinten Nationen total abrüsten. Angriffe gegen abgerüstete Staaten sollen als völkerrechtswidrige Verbrechen erklärt werden, gegen den Verbrecher soll mit Sanktionen vorgegangen werden!

Nach Thirring ist also das Völkerrecht dann, wenn es ihm unangenehm ist, ein Relikt der Vergangenheit — wenn er es aber zur Untermauerung einer seiner Thesen braucht, als existent willkommen. Interessant auch, daß er überhaupt an die Möglichkeit von Angriffen gegen abgerüstete Staaten denkt, die ja gerade durch die Verwirklichung einer Abrüstung verhindert werden sollten! Und was die Sanktionen betrifft, halte ich es für reichlich naiv, sich davon irgendeine Abschreckung zu erwarten. Hätte sich China etwa durch die Androhung von Sanktionen abhalten lassen, Tibet einzustecken oder Indien anzugreifen?

Daß Österreich als immerwährend Neutraler für keinen seiner Nachbarn ein potentieller Aggressor ist, steht wohl außer Debatte; es will sich ausschließlich aus Konflikten anderer heraushalten und dies „mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln“, worunter bestimmt nicht die totale Abrüstung zu verstehen ist. Mit unseren Nachbarn ins Gespräch zu kommen, ist ohne Zweifel eine gute Sache. Vergessen wir aber nicht, daß vier unserer Nachbarn, die Blocksystemen angehören, nicht die gleiche Handlungsfreiheit wie wir besitzen. Als Mitglieder von Pakten haben sie Paktpolitik, d.h. Großmachtpolitik mitzumachen. Prof. Thirring nennt Ungarn namentlich. Ich bin wie er überzeugt, daß Ungarn Österreich nicht angreifen will. Seine Handlungsfreiheit ist jedoch so eingeschränkt, daß es nicht einmal den Abzug sowjetischer Truppen aus seinem Territorium erreichen kann, was sicherlich ein begrüßenswerter Schritt auf dem Wege der Verringerung des militärischen Potentials wäre.

Ich möchte meine Stellungnahme dahingehend zusammenfassen, daß ich Herrn Prof. Thirring die besten Absichten zubillige, seine Gedankengänge jedoch für illusionistisch halte. Auf dem Boden der Wirklichkeit stehend, glaube ich daher, daß der beste Schutz unserer Freiheit und Unabhängigkeit, unserer Errungenschaften und unserer Zukunft in der bewaffneten Neutralität liegt, d.h. in der Bereitschaft und Fähigkeit, diese Neutralität „mit allen zu Gebote stehenden Mitteln aufrechtzuerhalten und zu verteidigen“, wie dies die österreichische Volksvertretung am 26.10.1955 beschlossen hat.

Und — daß es die verpflichtende Aufgabe einer verantwortungsbewußten Staatsführung sein muß, alles vorzusorgen, damit den Bürgern des Staates die Erträgnisse ihrer Arbeit gesichert und der Friede erhalten bleibt.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
1966
, Seite 364
Autor/inn/en:

Georg Prader:

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