FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 125
Franz Theodor Csokor

Bevor die Welt in Scherben ging

Die Bühne Österreichs um die Jahrhundertwende

Auch in Wien besinnt man sich nun, wie allerorten, auf den „Anbruch unseres Jahrhunderts“; die im Mai beginnenden Wiener Festwochen stehen unter diesem Motto und versprechen einen Blick auf „Kunst und Kultur um 1900“. Mag die emsige Beschäftigung mit der Jahrhundertwende anderswo eine Reaktion auf den Avantgardismus um jeden Preis sein — in Wien ist sie eher eine Bestätigung des allzeit Gegenwärtigen und Lebendigen. Und daß diese enge Verbindung mit der Vergangenheit nicht unbedingt mit sterilem Traditionalismus gleichzusetzen ist, scheinen uns untenstehende Notizen Franz Theodor Csokors zu beweisen: Csokor verliert sich nicht träumerisch im Garten der Erinnerung, sondern er kennt die richtigen und falschen Wege, die daraus in die Gegenwart führen. Als erweiternde Ergänzung zu Csokors persönlichem Blickpunkt auf die Zeit um 1900 mögen die Beiträge von Ernst Krenek (S. 272) und Hans Winge (S. 276) dienen.

Fünfzehn Jahre zählte ich damals. Die Ärgernisse der älteren Generation waren natürlich meine Abgötter geworden, Gustav Mahler, der die Oper leitete, Gustav Klimt, gegen dessen Bilder Attentate wüteten, Frank Wedekind in der Literatur, über dessen Kindertragödie „Frühlingserwachen“ der Architekt, den wir verehrten, Adolf Loos, sich äußerte: „... wenn dieses Buch doch jeder Vater, jede Mutter, jeder Lehrer lesen würde!“ Sigmund Freud galt als Pornograph, den man einander heimlich borgte wie auch Gerhart Hauptmanns „Die Weber“, deren Aufführung die Zensur verbot. Die nordischen Riesen Henrik Ibsen und August Strindberg, das trostlose „Nachtasyl“ Maxim Gorkis sowie Tolstois wenige Stücke schienen uns eine keimende diesseitige Welt der Wahrheit zu verkünden. Und nicht allein die Stücke — ebenso ihre Schauspieler hatten sich verwandelt. Und da man in Österreich eine Bühne lieber nach ihren Komödianten als nach ihrem poetischen Programm einschätzt, so entdeckten wir auf dem Weg über Schauspieler und Regisseure, die jäh im Lichtsturz standen, den Anbruch einer neuen erregenden Dramaturgie, die mit ihren dichterischen Bühnenwerken die Welt des Ausdrückbaren zu erweitern suchte.

Ich wohnte in jenen Jahren um 1900 sechzehn Kilometer von Wien entfernt; „Mödling“ nannte sich das alte Babenbergerstädtchen, auf dessen Burg auch Walther von der Vogelweide als Gast seine leicht politisch getönte Harfe schlug. Und Beethoven hat hier die „Missa solemnis“ geschaffen. Da der letzte Zug nach Mödling vorzeitig abging, stand mir und meinem Bruder Hans — der erste Weltkrieg nahm ihn aus der Welt — nach längeren Stücken ein vierstündiger Heimweg bevor, den wir jedoch sehr gerne gingen im Rausche des Erlebten — ob nun ein neuer Dichter uns begeisterte oder sein Interpret. Die tiefere Wirkung taten freilich die Komödianten, und unter ihnen Josef Kainz vor allem, Kainz als Meister in Hauptmanns „Versunkener Glocke“, als König in der „Jüdin von Toledo“, als Cyrano, so federnd wie sein Degen, als eisiger Franz Moor, als unerhört grotesker Tartuffe; der Kosmos vom Guten bis zum Bösen war in diesem einzigen Menschen eingeschlossen.

Im Sommer konnten wir uns diese Mühe sparen, wenn der Direktor Ferdinand Arlt und seine Gattin Olga, sozusagen die Charlotte Wolter unseres Provinzensembles, die hölzerne Arena im Mödlinger Stadtpark am Eingang zur felsigen Brühl eröffneten. Arlt besaß den schönen Ehrgeiz, das eben abgelaufene Winterrepertoire der drei größten Häuser der Hauptstadt (Burgtheater, Volkstheater, Josefstädter Theater) zu übernehmen. So kamen wir hier zu allem, was wir in Wien verabsäumt hatten, zu Maeterlincks „Monna Vanna“, zu Halbes „Jugend“ und natürlich zu den Klassikern Lessing, Goethe, Schiller, Grillparzer und Raimund. Die großen Erfolge der Spielzeit genossen wir allerdings in der Residenz, „Die Brüder von St. Bernhard“, „Glaube und Heimat“ und last not least „Alt-Heidelberg“.

Das neunzehnte Jahrhundert, das in Amerika die Ketten der Sklaverei und in Europa die Schranken um das Denken zu sprengen suchte, war eine Verheißung, die uns Junge damals zu den schönsten Hoffnungen verführte. Und für das skeptische, verspielte Wien, die Stadt, die neben der Welt wie neben ihrer Donau lag und die uns Paris ähnlicher zu sein dünkte als der deutschen Schwesternmetropole Berlin, galt das besonders. Paris moussierte nicht allein in unseren Operetten, mit denen von Strauß bis Lehár Welterfolge erfochten wurden, sondern auch in etwas dort vor allem Heimischem, dem Cabaret. „Nachtlicht“ hieß seine Wiener Spielart, ein in der düsteren Ballgasse gelegener Keller, und der massige Maler Carl Hollitzer, der im Kostüme zum Trommelschlag Bauernkriegsballaden sang, wurde sein Aristide Bruant. Und neben ihm zerstäubte der lachende Philosoph Egon Friedell erfrischenden Geist in dem schlecht gelüfteten Raum über die durch die Kaffeehausatmosphäre des Griensteidl und des Central schon leicht benommenen Zuhörer, die dabei in Einzelfällen schon jenes „Unbehagen an der Kultur“ verspürten, das der Beichtvater des Fleisches, Sigmund Freud, im Werden sah und dessen blutiger Apostel inzwischen als verkannter Maler und Architekt in Oberösterreich heranwuchs. Im Parkett zeigte man uns Alfred Polgar, der für diese Bühne mit Friedell den köstlichen Einakter „Goethe“ gezimmert hatte, Roda Roda in seiner roten Weste tauchte auch manchesmal dort auf, und vom Podium zauberte das Pariser Paar Marc Henry und Maria Delward, eine Schülerin der großen Yvette Guilbert, uns echteste Apachenstimmung vor. Darüber und über Lina Loos, die in zeitlos gläserner Schönheit Volkslieder und Gedichte des wienerischen Verlaine Peter Altenberg vortrug, Verse, deren „Griff zugleich Gestalt war“, um mit dem im nahen Café Imperial residierenden Karl Kraus zu reden — darüber versäumten wir gerne den letzten Zug nach Mödling und brachten das Opfer einer Wanderung durch das Morgengrauen. Auch jener Kreis um Karl Kraus und den Polyhistor Eckstein, von dem Kraus behauptete, man dürfe ihn noch nicht nach Zürich fragen, weil er im Studium des Brockhauslexikons erst bei L, bei London, sei, war schärfstes Wien; die beiden sollten sich später eines Beistriches wegen trennen, für dessen Gültigkeit in einem Satze Eckstein zu seinem Unglück recht behalten hatte. Und noch ein Mann mit blondem Vollbart schaute mit tiefster Verehrung auf den Mann der „Fackel“ — Kraus selbst hatte mir von ihm als einem seiner wunderlichsten Anhänger erzählt, und auch in Strindbergs „Blaubüchern“ wird er erwähnt als Schloßherr einer Burg im Strudengau, wo er einen Laienmännerorden zu gründen plante; er hieß Jörg Lanz-Liebenfels, war einst Zisterzienser in Heiligenkreuz bei Wien gewesen und Abgott für jenen Mann aus Oberösterreich, der Architekt und Maler werden wollte und 1945 im Bunker der Berliner Reichskanzlei durch Selbstmord endete.

So kam das zwanzigste Jahrhundert über uns, noch ohne sonderlich drohende Vorzeichen, bis 1904 der Königsmord in Belgrad den ersten Schatten in das junge Säkulum warf. Wohl war zwei Jahre vor der Zeitwende in Genf der einsamen Kaiserin Elisabeth des Anarchisten Luccheni Messer in die Brust gefahren — aber das empfand man mehr als die Tat eines Einzelgängers, die Mitleid für den ohnehin schon schwergeprüften Franz Joseph weckte, doch noch nicht als Sorge um den Fortbestand einer Welt, in der sich so etwas ereignen konnte. Freilich führt von dem toten Königspaar Obrenović über die Annexion von Bosnien und den Balkankrieg zwangsläufig die Entwicklung zu den Schüssen von 1914 an der Lateinerbrücke in Sarajewo — doch wer ahnte das? Die Dichter, die Dramatiker darf man heute sagen. Die lange geächteten „Weber“ Gerhart Hauptmanns, Wedekinds „Büchse der Pandora“ wurden von der Bühne zur Diskussion gestellt; Unruhe und Proteste, vergleichbar der Reaktion auf den „Stellvertreter“, erregte das Stück eines bis dahin Unbekannten: „Die Brüder von St. Bernhard“. Björnsons „Über unsere Kraft“ ließ aus dem Untergrund der Seelen die Gotteskrise spüren, die die Krise der ihr verhafteten Gesellschaft nach sich zog. In den Gescheiterten von Gorkis „Nachtasyl“ trat sie leibhaftig auf. Die Entthronung des Heldenmythos hielt damit Schritt. Arthur Schnitzlers „Liebelei“ machte mit der „großen Liebe“ den Anfang, die vor der leicht genommenen „Liebelei“ lebensgefährliche Romantik bleibt; an jener „Liebelei“ freilich kann man auch sterben, wenn sie einem ernst ist. Und schonungslose Selbsterkenntnis eines zum Helden gestempelten und dann im Stich gelassenen Partisanen erschütterte uns aus dem André-Hofer-Stück des 1902 uraufgeführten Dichters Franz Kranewitter. Für uns stand er damit neben, wenn nicht sogar über seinem berühmten Landsmann Karl Schönherr. Und Hermann Bahr bewies uns mit seiner Komödie „Josephine“, daß man sich durchaus nicht an den von Siegfried Trebitsch entdeckten Bernard Shaw halten mußte, um ein historisch untermauertes, gutes Lustspiel zu verfassen.

Das österreichische Theater war also gerade in vollen Gang gekommen, zwischen den Polen Hofmannsthal und Schönherr, Wiener Norden und Tiroler Föhn — da öffnete die Tragödie von Sarajewo 1914 den Vorhang zu einem Welttheater des Grauens in zwei Teilen, dessen schauerliche Bilder einander überboten: Zwei Riesenkriege und dazu eine Entfesselung der Bestialität, wie sie sich vorher niemals noch auf dem Boden des sich christlich nennenden Abendlandes ereignet hatte. „Voilà, les temps des assassins!“ war der Gruß des sterbenden Arthure Rimbaud an das zwanzigste Jahrhundert gewesen. Er mußte es nicht mehr erleben, und wir wenigen, denen es widerfuhr, wissen selbst heute nicht, ob wir es auch schon überleben durften. Der Mord an Kennedy spricht eher noch dagegen.

Gleichviel — wir sind einst an der Schwelle zwischen den Jahrhunderten gestanden, waren dem verflossenen dankbar, und was wir darin nicht mehr für möglich hielten, sollte uns das kommende bescheren. Daß unsere Welt darüber in Scherben ging, wußten die Zähesten von uns zu ertragen, weil wir gelernt haben, daß die Welt in der niedrigsten Mauer, die das Leben schützt, aufs neue anhebt — und diese Erkenntnis wollen wir vertiefen helfen: im Gleichnis des Theaters wie in der Wirklichkeit. Und wenn man mich nach Stücken von heute fragt, die mir dazu etwas sagen, führe ich drei Dichter an, die Mut besaßen, heiße Eisen anzugreifen: mit seinem ganzen hinterlassenen Werke Ödön von Horváth; mit dem Jesuitendrama „Das heilige Experiment“ der österreichische Emigrant Fritz Hochwälder; und — trotz Einwänden gegen die Berechtigung des Zieles — Hochhuth mit dem „Stellvertreter“, um der Empörung willen, aus der er es schrieb. Hier sind Autoren und Werke voll jenes Humanismus, der im neunzehnten Jahrhundert selbstverständlich war und heute unter Mauthausen, Maidanek und Auschwitz verschüttet ist.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1964
, Seite 264
Autor/inn/en:

Franz Theodor Csokor:

Prof., Präsident des PEN-Clubs, Altmeister österreichischer Dramatik.

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