FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1966 » No. 148-149
Fritz Hochwälder
Landschaft der Kindheit

Auf der Gassen ...

Wien VII. Westbahnstraße 3, 3. Stock, Tür 11: Zimmer, Küche, Kabinett — da wohnten vor dem Ersten Weltkrieg mein Vater, meine Mutter, deren alte Mutter, unser Dienstmädchen Anna Waldbrühl und ich, das Kind. Anna ging noch vor 1920 von uns weg, zurück in ihren Heimatort Klein-Neusiedl, dort lebt sie nunmehr als verwitwete Frau Anna Neusiedler. Als ich sie vor zehn Jahren besuchte, sagte sie, sie möchte nirgends anderswo leben, da beneidete ich sie sehr. Zur Erinnerung an meine armen Eltern bewahrt sie einige Kleinmöbel, die sie im Zweiten Weltkrieg aus der Wohnung in der Westbahnstraße retten konnte, was da verloren am Dachboden des Neusiedlerhauses herumstand, war das einzig Rettbare gewesen, auf den ersten Blick erkannte ich ein gedrechseltes Spiegelschränkchen, vor dem sich meine Mutter zu frisieren pflegte, und blitzschnell stellte sich die Erinnerung an einen besondern Tag ein: die junge Frau mit aufgelöstem Haar beim Fenster, vor dem Schränkchen, und herein stürzt Anna mit einer Extra-Ausgabe, die Mutter liest und bricht in Tränen aus; „Jetzt ist er tot!“ — Nach Deutlichkeit des Erinnerungsbildes wars vorgestern, bei Nachrechnung am 16. November 1916, und gestorben war der alte Kaiser, überall hing sein schwarzumrandetes Bild, auch bei uns in der Auslage des winzigen Antiquitätenladens, den meine Mutter, schon damals stockschwerhörig, im gleichen Haus führte.

An der Hand der vierschrötigen Großmutter stehe ich in der Nähe der Stiftskaserne und unter dumpfem Trommelklang schwankt der Kondukt die Mariahilfer Straße herauf, alle Lampen umflort, Jahrzehnte später kam mir zu Bewußtsein, daß ich recht eigentlich den Untergangstag der Monarchie miterlebt hatte, des Reichs, in dem ich geboren bin. — Im gleichen Jahr starb auch meine Großmutter, sie wurde — taub wie die meisten Familienangehörigen mütterlicherseits — von einem Fiaker überfahren, die Achtzigjährige hatte den Kaiser um Weniges überlebt, die Eltern kehrten vom Begräbnis heim und brachten dem fünfjährigen Buben ein Miniaturkrügel aus echtem Glas, Gelatine täuschte Bier und Schaumkrone vor — ich sehe mich noch mit dem Spielzeug, achtundvierzig Jahre sind seither vergangen, keine große Sache.

Vom doppelfenstrigen Wohnzimmer blickte man auf die Westbahnstraße, Küche und Kabinett lagen an der Hofseite; sommers sah ich vom Kabinettfenster dem Treiben in der gegenüberliegenden Puppenfabrik zu, reihenweise waren kleine Rümpfe und Glieder zum Trocknen ausgestellt, der Vorgang der Puppenwerdung hatte etwas Niedlich-Unheimliches. — Hie und da erhielt unsere Anna den Besuch eines in der Fabrik beschäftigten Arbeiters, von den Eltern kurz „der Mann“ genannt, an solchen Tagen sang Anna beim Bügeln vor sich hin, Textfetzen und Melodie behalte ich noch im Ohr, da kündete ein Mädchen vom Geliebten „der gibt mir gute Hubitschko, sagt Naninko bist scheen“, seither ist mein Verhältnis zum Tschechischen das eines unglücklichen Liebhabers, faktisch beherrschte es im Umkreis jeder Zweite, auch mein Vater radebrechte mit wasserpolakischem Akzent, alle aber genierten sich, das Idiom der dienenden Klasse zu gebrauchen, wenn, dann geschah es heimlich, und das ärgert mich noch heute, der ich mich dem Tschechen- und Magyarentum der alten Heimat enger verbunden weiß denn jeder Art von Deutschtümelei.

Tagsüber wurde unten im Hof fleißig gearbeitet, unser Hausherr war ein wohlhabender Installateur, der Rohre und Schraubstöcke gab es unendlich viele, da wurde Eisen gesägt und Gewinde gedreht, ich wüßte nicht, daß sich je einer über den Lärm aufgehalten hätte, heute würde ich wahnsinnig dabei, aber ich hege den Verdacht, daß vornehmlich jene wahnsinnig werden, die es bereits sind. Die Westbahnstraße war auch nicht eben still und ruhig, der „Neunundvierziger“ schliff diabolisch in den ausgefahrenen Gleisen der Kurve zur Siebensterngasse, meine Kinderohren traf es als überaus munteres Gekreisch. 1917/18 diente mein Vater bei der Fliegertruppe in Trient, das heißt er benagelte als gelernter Tapezierer die Tragflächen der damaligen Flugzeuge mit Leinwand, geflogen sei er nie, gestand er später ohne sonderliches Bedauern. Nach dem Zusammenbruch kam die Zeit der „Klapperer“, Holzsandalen, die ein amerikanisches Hilfswerk im Bezirksamt verteilen ließ, das war ein Genuß für uns Buben, denn Schuhe waren rar. Im Winter freilich wurde es fürchterlich, frierend fuhren wir mit einem Handschlitten zur Westbahn, um Braunkohle zu ergattern, und eines Tags brach aus der eher proletarischen Hermanngasse ein wildbewegter Demonstrationszug, die Rolläden wurden geschlossen, meine kleinbürgerlichen Eltern, die weniger zu verlieren hatten als andere ihresgleichen, zitterten schrecklich vor den blutrünstigen Revoluzzern, den „Roten“, und ahnten nicht, daß sie knapp fünfundzwanzig Jahre später von wohldisziplinierten Mördern zur Gaskammer transportiert werden sollten.

Zur Schule ging ich in die Zollergasse, der erste Schultag muß noch ins Ancien Régime gefallen sein, die Lehrerin hieß Frau Gattera, und daß ich den Namen behalten habe, wundert mich eigentlich, denn ich mochte sie nicht, die Frau Gattera. Zwar erzählte sie uns am ersten Tag ein hübsches Märchen und dann durften wir nach Hause, aber einmal behielt sie mich mittags zurück und fragte so nebenbei, ob ich daheim gelegentlich Prügel bekäme, was ich ganz gegen die Wahrheit gedankenlos verneinte. Draufhin griff Frau Gattera zum Rohrstock und verdrosch mich fürchterlich, wahrscheinlich zu Recht, denn ich war ein Miniaturteufel in ebensolcher Gestalt, was mir jedoch durchwegs vertretbar erschien, auch in den folgenden Dezennien. Erst seit kurzem nagen schüchterne Zweifel an mir, ob man privatim ein Waldschratt sein darf, und seither ist das Leben nicht mehr schön. — Jedenfalls rannte ich damals mit brennendem Buckel, Rotz und Wasser heulend, nach Hause und fraß allen Ingrimm mit dem von der Mutter grad an diesem Tag bereitgestellten Kaiserschmarrn in mich hinein, was ich als doppelten Schicksalsschlag empfand, denn Kaiserschmarrn war meine Leibspeise, auf die ich mich sonst immer freute. — Frau Gatteras Aktion, der bittere Kaiserschmarrn, die mit Wachsleinen gedeckte Kohlenkiste, an der ich, mit der Welt zerfallen, ingrimmig Mittagstafel hielt — all dies ist mir gegenwärtig als sei es gestern gewesen, ebenso das dumpfe Bewußtsein, mich im Grund nie geändert zu haben, allerwegen Kind geblieben zu sein: Qual, die später zur Quelle wurde, manchmal — günstigenfalls — zu Qualität.

Im dritten Schuljahr bekamen wir einen andern Lehrer, der hieß Wildner und liebte die schönen Künste, das Schachspiel, den Chorgesang und das Wandern. Wenn ich jemandem frühzeitige Anregung zur Bühnenschreiberei verdanke, dann wohl ihm, dem Lehrer Wildner. Ein hochgewachsener, rotblonder Mann, der sich nicht viel um den Lehrplan kümmerte und zwischendurch pathetisch eine blutrünstige Römererzählung vortrug oder schluchzend vom Erdenleben Franz Schuberts berichtete. Oft saßen wir an freien Nachmittagen im Klassenzimmer um den Katheder und unser guter Lehrer demonstrierte am Schachbrett das geniale Endspiel eines Meisters namens Zuckertort — unglaublich, wie selbst gleichgültige Eigennamen durch Jahrzehnte im Gedächtnis haften, nie wieder hörte ich von einem sichern Zuckertort. — Eines Tages blieb mein Sitznachbar vom Unterricht weg, er hieß Apfel und wieder staune ich, daß ich den Familiennamen behalten habe, während mir der Vorname entfallen ist, aber ich weiß noch, daß es ein stiller, lieber Bub war, der Scharlach bekam und nach Wochenfrist starb, der Lehrer schilderte uns die letzten Stunden, den Schmerz der Eltern und weinte bitterlich, wie er denn überhaupt gern in Tränen ausbrach. Um die Weihnachtszeit zogen wir alle mit einem geschmückten Tannenbäumchen hinaus auf den Friedhof, nichts wußten wir von Sterben und Tod und zündeten fröhlich die blauen Kerzen an, während der Lehrer vor dem kleinen Grab niederkniete und für das abgeschiedene Seelchen betete. Wildner blieb Junggeselle bis an sein frühes Ende, bald nachdem ich die Volksschule hinter mir hatte, sah ich ihn an Krücken humpeln, ein Bein bis zum Oberschenkel amputiert, der Unglückliche ließ sich einen Rübezahlbart wachsen, er kam mir seltsam fremd vor, aus wars mit der Wanderschaft, er starb blutjung, Ehre seinem Andenken, ich sehe ihn noch, wie er die Schulklasse zu Nachmittagsvorstellungen ins Raimundtheater führte, dort gab man den „Bauer als Millionär“ und den „Verschwender“, unvergeßliche Eindrücke bis zum heutigen Tag und für immer. — Noch eine Erscheinung aus der Frühzeit ist mir gegenwärtig, sie tauchte regelmäßig an Samstagnachmittagen im Kosmos-Kino auf und war eitel Jugendstil wie die Wandbemalung im Foyer, Milena Gnad hieß die Rezitatorin, fasziniert sahen wir sie die bis zu den Ellbogen weißbehandschuhten Arme schwenken, Märchen und Balladen bildeten ihr Repertoire, mir schien es der Gipfel der Vortragskunst, nie wieder habe ich Ähnliches vernommen.

Zwischendurch gab es gewöhnlichere Eindrücke, und die gingen allesamt von der Gasse aus, wo sich das Leben des Kindes von früh bis abends abspielte, Ferdinand Sauters lyrisches Bekenntnis: „Auf der Gassen! Auf der Gassen!“ hatte auch für mich Gültigkeit, ich war ein gelernter Gassenbub und böswillige Zungen behaupten, ich sei’s zeitlebens geblieben, da mag was dran sein, zumindest bis vor kurzem. — Wenn ich „Kindheit“ sage, dann denke ich an die Gassen des 7. Bezirks um die spätbarocke Schottenfelder Kirche, dann fühle ich, schmecke und rieche all das, was andere der Landschaft ihrer Kindheit zuschreiben, statt Wiese und Wald ersteht nicht minder romantisch die abendliche Westbahnstraße, im Trubel des Wochentags gleichwie in feierlicher Sonntagsstille, und die untergehende Sonne gleißt in den hohen Fensterscheiben der Bürgerschule drüben in der Neubaugasse — ich war ein Stadtkind und bin es geblieben, nie könnte ich dauernd auf dem Land leben, als ich nach 1945 erstmals nach Paris kam, fühlte ich mich wie zu Hause, der marché de Buci wehte mich heimatlich an wie einst der Naschmarkt.

Auf der Gassen ... Makabres, vom Kind keineswegs so empfunden, ereignete sich auf der Gasse — Leichenbegängnisse, die ein kleines Fest waren, da lag feierlich aufgebahrt in dunkler Kirchenkapelle der Herr Soundso, zeitlebens ein armer Mann, aber wie aufgebahrt! — barock gestanztes Papier umgab prunkvoll den bescheidenen Sarg, schon damals fiel mir die Ähnlichkeit des Schmuckes mit den Tortenunterlagen beim Zuckerbäcker auf, aber sonst wärs keine „schöne Leich“ gewesen, von der man noch lange sprach, wohlverdienter Nachruhm anonymen Lebens. Als der alte Friedhof auf der „Schmelz“, dort, wo sich heute die Stadthalle erhebt, aufgelassen wurde, sah ich stundenlang den Exhumierungen zu und bestaunte die rostbraunen Särge, gegenüber war der Zirkus Schumann, ein Jahrzehnt später verschwand auch dieser zugunsten der gewerblichen Fortbildungsschule, deren Zeugnisse ich noch aufbewahre. — Durch die Gassen zog der „Narrische Gustl“, ein Hansltippler — heute würde ich sagen: ein Clochard den man als „Amperdieb“ verspottete, Eingeweihte behaupteten, die absonderliche Bezeichnung sei aus einer Vermanschung der Worte „Ambo“ und „Tip“ entstanden, tatsächlich gab der Narr auf Verlangen Ratschläge fürs Kleine Lotto. — Kaum hörte er den Schmähruf, mit dem wir Gassenbuben nicht sparten, überschüttete er uns mit Kaskaden ordinärer Flüche, sowie er sich beruhigt hatte, pflegte er zu versichern, er werde nie ins Versorgungshaus gehn, „mich bringen s’ nicht nach Lainz, lieber sterb’ ich im Telefonhäusl“, was in einer strengen Winternacht auch geschah. Friede seiner Asche. — Die Welt Nestroys war zu meiner Kinderzeit so lebendig, wie sie es wohl noch immer ist, der gallische Esprit wienerischer Färbung herrscht wie damals, als ein beleibter Wachmann anläßlich einer Demonstration vor dem „Wimberger“ gummiknüppelschwingend ausrief: „ Wennsnichtauseinandergehts, wend’ ich Bronchialgewalt an!“ — Aus der Notzeit der frühen Dreißigerjahre, da niemand ohne zwingenden Grund etwas kaufte, ist mir ein Hausierer in Erinnerung, der einen genialischen Verkäufertrick erfand: kaum öffnete eine Hauspartei mißtrauisch die Tür, löste er blitzschnell den „Bauchladen“ und warf die Ware dem Verdutzten mit den Verzweiflungsworten zu: „Da ham S’ alles umsonst, ich geh’ in die Donau!“ woraufman dem Enteilenden nachlief und ihn händeringend beschwor, doch am Leben zu bleiben, man werde ihm gern was abkaufen, nur widerwillig ließ sich der Lebensmüde überreden, er starb als vermögender Mann, auf seine Weise hatte er es in dürftiger Zeit geschafft.

Das eindrücklichste Erlebnis, dessen ich mich zu entsinnen vermag, ist gleichfalls mit der Gasse verbunden, es ereignete sich an einem Schreckenstag, dem 15. Juli 1927, als hundert Menschenleben einem grausigen, beiderseits verschuldeten Pallawatsch zum Opfer fielen. Frühmorgens erschien die „Arbeiter-Zeitung“ mit der aufreizenden Schlagzeile „Ein Klassenurteil!“ was sich auf den Schattendorfer Prozeß bezog, der, soviel ich weiß, durch ein Geschworenengericht entschieden wurde. Jedenfalls war die unmittelbare Folge eine spontane Demonstration der Wiener Arbeiterschaft, unter die sich dunkle Elemente mischten, die Polizei unter dem feinsinnigen Präsidenten Schober — er zitierte mit Vorliebe Rückert — stand dem unangemeldeten Ereignis hilflos gegenüber, man setzte Wachleute ein, die kaum mit Gewehren zu hantieren wußten, die Leute verloren den Kopf und feuerten blindlings in die Menge. — Obgleich ich nachmittags vor dem Justizpalast den sinnlosen Exzeß der Brandstiftung genoß, den dramatischen Auftritt des Bürgermeisters Seitz beobachtete — „Zurück, Bürgermeister!“ — und kurz danach vor den Salven der Polizei auf der dunklen Volkstheaterbühne in der Dekoration von „Der Musikant Gottes“ Zuflucht suchte, prägten sich mir weniger die spektakulären Ereignisse des Tages ein als eine Szene am Rand, deren Augenzeuge ich in den frühen Vormittagsstunden wurde. — Ich stand an der Ecke Siebenstern- und Stiftgasse, als eine berittene Polizeiabteilung aus der schmalen Stiftgasse auftauchte und hinunter zur Burggasse zog, wo sich Demonstranten massiert hatten. Kreideweiß im Gesicht waren die blutjungen Reiter, die anscheinend noch keinen gefährlichen Einsatz erlebt hatten, schwitzend vor Angst hielten sie sich mit Mühe im Sattel, so folgten sie auf nervös tänzelnden Pferden ihrem Kommandanten, einem silberhaarigen Polizeioffizier, den ich kaum dreißig Sekunden lang sah, dennoch machte er auf mich einen unauslöschlichen Eindruck, blitzartig überkam mich das Bewußtsein, den personifizierten kühlen Mut an mir vorbei reiten zu sehen: gleichmütig und bis ins Innerste gelassen zog der alte Herr seinen schlotternden Gefolgsleuten voran, als ginge es nicht auf Tod und Leben, sondern zum friedlichen Morgentrab in die Hauptallee ... Die Abteilung schwenkte in die Burggasse stadtauswärts, und sofort danach setzte die Menge zu einem einzigen wilden Wutschrei an, Eisenstücke und Steine hagelten auf die berittenen armen Teufel, es erfolgte jedoch keine Attacke, der alte Offizier hatte den Kopf nicht verloren und führte seine Leute ruhig weiter, möglicherweise ist er im Lauf des mörderischen Tages gefallen — hätten andere ebenso kaltblütig-besonnen gehandelt, wäre es vielleicht nicht zu dem schauerlichen Massaker gekommen, das die Atmosphäre der Ersten Republik auf Jahre hinaus vergiftete. — Echter Mut ist allezeit und allerorten selten.

Was dann kam, klingt traurig genug, diese Jugenderinnerung ist nicht freundlich: bei ansteigender Arbeitslosigkeit eine irrwitzige Bürgerkriegssituation, groteske Provinzpolitiker tauchten auf, die Herren Steidle und Pfrimer, die den Marsch auf die Hauptstadt ankündigten, Sonntag für Sonntag demonstrierten Heimwehr und Schutzbund, mitten im Elend gingen die Verbände, zum Weinen lächerlich, mit Überschwung und Stahlrute aufeinander los, der sterbenskranke Staat verübte sozusagen Selbstmord am laufenden Band. Ich war als sogenannter „Jugendordner“ dabei, wie eines Sonntags das aufgebotene Bundesheer in Sankt Pölten den gesamten Wiener und Niederösterreichischen Schutzbund vom Trabrennplatz weg verhaftete und zum Bahnhof eskortierte, worauf dann auf der Heimfahrt die aufgebrachten „Sozis“ ingrimmige Rache an zufällig daherkommenden „Hahnenschwänzlern“ nahmen, es war eine einzige andauernde Kirtagsrauferei, wer diese Zeit nicht aus eigenen Erleben kennt, möge die bisher nicht übertroffene Abhandlung von Marie Lazarsfeld „Die Arbeitslosen von Marienthal“ lesen und den Kopf schütteln über Hunger, Elend, jahrelange Arbeitslosigkeit. Nach abgeschlossener Handwerkslehre stand ich wie die meisten meinesgleichen auf der Straße, die Unterstützung betrug, wenn ich nicht irre, knapp zehn Schilling pro Woche, ich ernährte mich von der üppigen Gulaschsuppe, die im „OK“ gegenüber der Oper erhältlich war, die Suppe war in segensreicher Weise abendfüllend und kostete dabei nur zwanzig Groschen, in besonderer Not gab es eine Mahlzeit, die einem für einen vollen Tag den Appetit verdarb: eine zehn Zentimeter dicke Cremeschnitte aus dem Automatenbuffet, man sieht: das zur Zeit so dringliche Problem des Abmagerns stellte sich damals nicht. — Und doch: hätte mir jemand prophezeit, ich würde die zweite Hälfte meines Lebens im Ausland verbringen, fern von der Stadt, deren Sprache unverwechselbar die meine ist, unter Zwang erst, sodann freiwillig verbannt aus den Gassen meiner Kindheit — ich hätte dem Phantasten ins Gesicht gelacht ... Woraus erhellt, daß es kein Planen gibt für uns armselige Gesellen, über die blindes Geschick verfügt.

Lyrik ist nicht mein Fach, auch habe ich zu großen Respekt davor, seit ich früh, noch vor 1930, den österreichischen Dichter Theodor Kramer kennenlernte, persönlich und in seinem Werk, das für jene spricht, die ohne Stimme sind. Dennoch dilettiere ich zeitweise im Gedicht, insgeheim hoftend, als Lyriker zu enden. Da es gilt, von Kindheitseindrücken zu berichten, sei eins meiner klandestinen Erzeugnisse an den Schluß gesetzt, nicht zufällig in Trochäen verfaßt, denn irgendwo im Geist mündet die Donau in den Ebro, wie mein väterlicher Freund Franz Theodor Csokor zu behaupten pflegt.

Krumlik und Gruda

 
Westbahnstraße, Hermanngasse,
Siebenstern- und Neubaugasse,
Apotheke, Puppen-Pfeiffer,
Branntweiner, Tabak-Trafık;
Vater haust in finstrer Werkstatt,
Söhnchen läuft gassauf-gassab.
 
Die Friseure, Schreckensmänner
Für den Buben, stehn vorm Laden:
Zwei Geschäfte, Konkurrenten,
Rechts Herr Gruda, links Herr Krumlik,
Einmal der und einmal jener
Nimmt den Schrappen in die Schur.
 
Wie, das nennt Herr Krumlik scheren:
Was man für dich ausgibt, Lausbub,
Ist zum Fenster rausgeschmissen,
Marsch zurück, und kürzer, kürzer —
Nächstens gehst du zu Herrn Gruda,
Weh, wenn dieser auch versagt!
 
Krumlik, Gruda — Gruda, Krumlik,
Keiner schor nach Vaters Weisung
Und das Kind wohnt in der Fremde
Und das Haar schwand mit der Hoffnung. —
Ach, was gäb ich drum, noch einmal
Bloßfüßig herumzulaufen:
 
Westbahnstraße, Hermanngasse,
Siebenstern- und Neubaugasse,
Apotheke, Puppen-Pfeiffer,
Und vom abgeplagten Vater
Zum Friseur geschickt zu werden,
Zu Herrn Krumlik, zu Herrn Gruda.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1966
, Seite 273
Autor/inn/en:

Fritz Hochwälder:

Foto: Von Nanuksen - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=66043310

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags

Begriffsinventar

Geographie