FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1961 » No. 88
Ludwig Reichhold

Arbeiter und Gesellschaft

Im sozialistischen Parteiprogramm des Jahres 1958 wurde vom künftigen Verhältnis der SPÖ zur Arbeiterschaft das Folgende gesagt:

Die Sozialisten wollen ihr Ziel durch die politische Zusammenfassung aller Arbeitenden erreichen. Gestützt auf die Erkenntnisse des wissenschaftlichen Sozialismus, entwickelt sich ihre Partei auf diesem Wege aus einer Partei der Lohnarbeiter, die weiterhin das Fundament jeder sozialistischen Partei bleiben, zu einer Partei aller Arbeitenden. In ihr findet sich, gewonnen durch die sittliche Gesinnung des Sozialismus, überzeugt durch die Leistungen der Sozialisten, die Mehrheit des Volkes zusammen.

Mit diesem Satz hat sich die SPÖ von der Idee und Wirklichkeit der Arbeiterbewegung losgesagt. Als Rudiment der Vergangenheit bleibt die Feststellung übrig, daß die Lohnarbeiter auch weiterhin das Fundament jeder sozialistischen Partei bilden. Die SPÖ steht damit unter den europäischen sozialistischen Parteien nicht allein. Es gibt kaum noch eine sozialistische Partei, die sich ausschließlich als Klassenbewegung des Proletariats begreift. Dieses Abrücken von der Arbeiterbewegung ist zum Teil eine Konsequenz aus der Tatsache, daß die sozialistischen Parteien schon seit langem auch andere gesellschaftliche Gruppen als Arbeiter und Angestellte umschließen, und zum andern Teil ein Ausdruck der Erkenntnis, daß die Gesellschaft weder als Entwicklungsphänomen noch als aktuelle Wirklichkeit auf den einfachen Nenner einer Zweiklassengesellschaft gebracht werden kann. Freilich scheint dabei noch ein drittes Moment eine wesentliche Rolle zu spielen, nämlich das Bemühen, die machtpolitische Basis der sozialistischen Parteien zu verbreitern, aber am Ende steht auch hinter diesem Bemühen die Wirklichkeit einer Gesellschaft, die viel zu komplex ist, als daß sie weiterhin in das bisherige Denkschema gepreßt werden könnte.

Kann man demnach sagen, daß die Idee der Arbeiterbewegung in Europa Schiffbruch erlitten hat und daß wir uns, nach dem Abfall auch der sozialistischen Parteien von dieser Idee, auf dem Weg zu Mehrklassenparteien befinden (die etwa in den Vereinigten Staaten schon immer den Ton angegeben haben)? Die Abkehr von der Idee der Arbeiterbewegung vollzieht sich etwas zu abrupt. Sie geht vor sich, ehe noch das eigentliche Problem, das hinter dieser Abkehr steht, geistig bewältigt worden ist. Dieses eigentliche Problem besteht in der Integration der Arbeiterschaft in die Gesellschaft Europas oder, anders gesagt, in der Gewinnung der Erkenntnis, daß die Arbeiterschaft nur ein Teil dieser Gesellschaft ist — womit eine Begrenzung gesetzt wird, die eine grundlegende Voraussetzung für die echte Begegnung der Klassen bildet.

Eine solche Begegnung hat im Zeichen des marxistischen Evolutionismus bis jetzt nicht stattfinden können. Nicht daß die Arbeiterbewegung die Wirklichkeit der Gegenklassen ignoriert hätte, sie hat sie sogar in einem sehr intensiven Sinn zur Kenntnis genommen, aber sie waren für sie bloß Erscheinungen einer gesellschaftlichen Entwicklung, von der sie angenommen hatte, daß sie eines Tages sich selbst ad absurdum führen werde. Das Wesen der Klassen reduzierte sich für sie auf das Eigentumsverhältnis, auf die Setzung von Eigentumstiteln, mit deren Beseitigung ihr auch das Problem der Klasse gelöst schien. Damit lief die Auseinandersetzung der Klassen auf eine Machtfrage hinaus, nämlich darauf, die Arbeiterbewegung in den Besitz einer Machtposition zu bringen, die es ihr gestattet, die überkommene Eigentumsordnung aus dem Weg zu räumen. Aber so gewiß jede Klassenordnung ihrem Wesen nach eine Herrschaftsordnung ist und so gewiß für bestimmte Zeiten eine politische Betrachtungsweise angebracht war, bei der das Gewicht auf der Beseitigung solcher Herrschaftsordnungen lag, so läßt sich das Wesen gesellschaftlicher Schichtungen doch nicht allein auf Eigentumsverhältnisse reduzieren. Und eben deswegen, weil die Arbeiterbewegung in ihrem Hauptzweig bis jetzt auf Grund einer solchen Reduktion ihre Gegenklassen unter einem bloß negativen Aspekt gesehen und als Übergangserscheinungen abgetan hat, ist sie an einer echten Auseinandersetzung mit ihnen bisher vorbeigegangen: an einer Auseinandersetzung auf der Grundlage ihrer Wertung als geschichtliche Konstanten.

Bemerkenswerterweise nimmt auch das Programm der SPÖ die Gegenklassen nur an zwei Stellen zur Kenntnis. An der einen heißt es, sie wolle die Existenz der bäuerlichen Klein- und Mittelbesitzer sichern, und an der anderen wird festgestellt, daß die Entwicklung der modernen Technik und Wirtschaft vielen gewerblichen Kleinbetrieben neue Möglichkeiten einer gesunden Existenz biete. Damit werden zwar gesellschaftliche Tatsachen zur Kenntnis genommen, aber es wird noch nicht versucht, diese Tatsachen einer neuen Idee der Gesellschaft, die auch der Arbeiterbewegung als Leitbild dient, einzuordnen.

Das historische Beispiel für jene Übermachtung der Gegenklassen, die in der ursprünglichen Konzeption auch der westeuropäischen Arbeiterbewegung vorgesehen war, liefern die kommunistischen Systeme Osteuropas. Lassen wir die besonderen geschichtlichen Voraussetzungen beiseite, unter denen es zu dieser Übermachtung vor allem im Ursprungsland des Kommunismus, in Rußland, kommen konnte, und ebenso die politische Aufgabe, die sich der Bolschewismus mit der Umwandlung des russischen Bauernstaates in einen Industriestaat gestellt hat (obwohl hier wesentliche Erklärungsgründe für die Existenz des Kommunismus vorliegen), und beschränken wir uns auf den Systemgedanken des Bolschewismus selbst. Wir wissen heute zur Genüge, daß das russische Proletariat, in dessen Namen die Kommunisten ihre Herrschaft ausüben, nur eine ideologische Staffage abgibt — daß die eigentliche Herrschaft nicht von den Arbeitern, sondern von einer schmalen Schicht kommunistischer Funktionäre ausgeübt wird und daß sie heute wieder wie zu Stalins Zeiten in einer Ein-Mann-Diktatur kulminiert. Aber viele meinen immer noch, man habe es hier mit einer bloßen „Entartung“ zu tun, die dem Wesen des Systems nicht immanent sei. Das ist ein gefährlicher Trugschluß. Die Übermachtung der Klassen hat in den kommunistischen Systemen mit innerer Zwangsläufigkeit von der „Diktatur des Proletariats“ zur Diktatur über das Proletariat geführt oder richtiger: zur Diktatur über die Gesellschaft, von der auch die Arbeiterschaft nicht ausgenommen ist. Denn was besagte diese Übermachtung eigentlich? Mit ihr wird den einzelnen Klassen der Gesellschaft das Zeugnis ausgestellt, daß sie nicht fähig sind, sich untereinander über einen sozialen Modus vivendi zu einigen, weshalb der Staat für die entsprechende soziale Ordnung sorgen muß, die, da der Gesellschaft ja der Wille zum Recht abgesprochen wird, nur eine Zwangsordnung sein kann.

Seit Djilas in seiner „Neuen Klasse“ an Hand des jugoslawischen Beispiels das Wesen und die Gefahren dieser Zwangsordnung aufgezeigt hat, ist den Antikommunisten die Mühe abgenommen, sich darüber des langen und breiten zu äußern. Es ist jedoch notwendig, die Quintessenz des kommunistischen Systems klar herauszustellen: seinen Verzicht auf das Ethos, das durch die Mechanik der Macht ersetzt wird. Kommunismus ist der Irrglaube, der Gesellschaft eine soziale Ordnung bringen zu können, obwohl sie, sich selbst überlassen, jedes sittlichen Empfindens bar sein soll.

Damit spitzt sich das Problem der sozialen Gerechtigkeit als Grundproblem der Gesellschaft auf die Erkenntnis einer sittlichen Ordnung zu, die der Gesellschaft bereits vorgegeben ist, für alle ihre Glieder verpflichtend erscheint und von der Gesellschaft selbst in der Weise realisiert werden muß, daß der Einzelmensch immer wieder die Möglichkeit hat, die Frage nach dem Recht zu stellen. Hier trifft sich das Recht mit der Demokratie, die im tiefsten Grund der Freiheitsraum ist, in welchem dem Menschen die Chance gegeben erscheint, diese Grundfrage der sozialen Ordnung — die Frage nach dem Recht — zu stellen.

Nun unterscheidet sich die Arbeiterbewegung Westeuropas vom russischen Zweig der Arbeiterbewegung, der durch Jahrzehnte in die Illegalität gedrängt war, nicht nur graduell, sondern grundsätzlich durch ihren Charakter als demokratische Massenbewegung, die das eigentliche Objekt ihrer Auseinandersetzung in den Gegenklassen des Proletariats gefunden hat. Der Arbeiterbewegung ist dieser Charakter in Westeuropa durch die Tatsache zugewachsen, daß sie sich aus kleinen Anfängen entwickeln mußte, dann im Zuge einer fortschreitenden, nicht vom Staat, sondern von den bürgerlichen Klassen getragenen Industrialisierung allmählich in die Breite gewachsen ist und dabei in der ständigen Auseinandersetzung mit den bürgerlichen Schichten so viele demokratische Elemente angereichert hat, daß sich in der Arbeiterschaft ein lebendiges Vertrauen in die eigene Kraft entwickeln konnte, welches in ihrem Wandel zu einem Rechtsstand die objektive Rechtfertigung gefunden hat. Heute ist die Arbeiterschaft in ganz Europa Träger politischer und sozialer Rechte, ohne daß an irgendeinem Punkt eine Revolution stattgefunden hätte, durch welche sie in den Besitz der totalen Macht gekommen wäre.

Die Eschatologie stirbt ab

Mit dieser Erfahrung, daß sich das Recht auch in einem demokratischen Prozeß verwirklichen läßt, steht die Arbeiterschaft jedoch nicht allein. Die ganze europäische Geschichte ist durch Massenbewegungen aufgewühlt, durch Massenbewegungen der verschiedensten Art, die sich die unterschiedlichsten Ziele gesetzt haben, denen jedoch das eine gemeinsam ist, daß sie von unten heraufgekommen sind und sich kraft eigenen Rechtes durchgesetzt haben. Unter ihnen befinden sich auch viele Klassenbewegungen — wie die Bauernkriege im ausgehenden Mittelalter und die umfangreiche bürgerliche Bewegung in der zweiten Hälfte des 18. und ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch diese Bewegungen waren mit Gegenklassen konfrontiert und nicht so sehr mit dem Staat, ja sie haben oft die Hilfe des Staates angerufen und manchmal auch gefunden. Hier, in dieser Auseinandersetzung zwischen den Klassen, liegen die geschichtlichen Wurzeln der europäischen Arbeiterbewegung und hier sind auch die Widerstände verborgen, an denen das ursprüngliche Streben der Arbeiterbewegung nach der totalen Macht schließlich gescheitert oder — besser gesagt — durch die Realisierung ihres sittlichen Antriebs im Vollzug demokratischer Rechtsbildung überholt worden ist.

Ordnet sich die europäische Arbeiterbewegung solcherart jener Auseinandersetzung der Klassen ein, welche in Europa seit Jahrhunderten im Gange ist, so ist nunmehr nach dem Sinn ihres Kampfes zu fragen. Generationen haben ihn in der Heraufführung einer neuen Ordnung der Gesellschaft erblickt, die das Gegenteil aller bisherigen Ordnungen sein sollte, eine Ordnung der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Friedens, gegründet auf Institutionen, die a priori Unrecht und Unfrieden nicht mehr zulassen. Diese soziale Eschatologie hat alle vergangenen Ordnungen zu einem Unwert degradiert, von dem auch die Arbeiterbewegung etwas abbekommen hat, da sie unter solchen Voraussetzungen notwendigerweise als etwas Regelwidriges erscheinen mußte — als etwas, das sein Dasein ausschließlich der inneren Verderbtheit aller bisherigen Gesellschaften zuzuschreiben hatte.

Die Arbeiterbewegung hat bisher ihren Aufstieg als ein ausschließlich geschichtliches Phänomen gedeutet. Zwischen Vergangenheit und Zukunft — einer Vergangenheit der „Selbstentfremdung“ des Menschen und einer Zukunft, in der diese Selbstentfremdung endgültig und institutionell aufgehoben werden sollte — lag für sie eine menschheitliche Epoche ohne Werte, ohne irgendeinen gültigen Sinn, außer dem des Kampfes um jene Zukunft der institutionellen Harmonie. Diese Betrachtungsweise ist auch heute noch nicht ausgestorben. Sie findet sich überall dort, wo das Schicksal der Gesellschaft von wirtschaftlichen Entwicklungen abhängig gemacht wird, obwohl wir längst wissen sollten, daß jedes Problem, das gelöst wird, neue Probleme aufwirft — etwa die sich anbahnende „Freizeitgesellschaft“ das Problem der Freizeitgestaltung. Durch diese Geschichtsauffassung ist für die Arbeiterbewegung der Sinn ihres Kampfes verlorengegangen, weil jeder Erfolg durch den Blick auf die Zukunft relativiert wurde, wenn er sich nicht überhaupt als ein Phantom erwies. Heute, nach etwa hundert Jahren europäischer Sozialpolitik, ist es einfach nicht mehr möglich, mit solchen Maßstäben zu messen. Die Ergebnisse dieser Sozialpolitik bieten sich als ein Wert dar, der zu einer anderen Geschichtsauffassung führen muß, mit welcher auch die Arbeiterbewegung selbst in ein neues Bezugssystem eintritt. In diesem Bezugssystem gewinnt die Gegenwart endlich jenen Selbstwert, der ihr zukommt.

Erkennen wir aber als Thema der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen das Recht und nicht die Perfektion einer Zukunft, die in bestimmten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen besteht, dann kann die Arbeiterbewegung nur noch eine gesellschaftliche Teilwirklichkeit bilden. Sie kann nicht mehr als Repräsentant der Totalität einer gesellschaftlichen Ordnung auftreten, die als Totalität des Guten gedacht ist, für die sie die übrige Gesellschaft gewinnen und in Form bringen will. Diese Absage an eine starre Form, in der man das gesellschaftliche Heil gesichert wähnt, und diese Hinwendung zur Idee der Sittlichkeit, die in vielerlei Formen verwirklicht werden kann und vor allem nicht das Monopol einer einzigen Klasse bildet, ist das Wesentliche an jener geistigen Wandlung, die heute in der Arbeiterbewegung aller westeuropäischen Staaten in Gang ist. Nur wenn die Arbeiterbewegung bis zu diesem Punkt vordringt, kann sie die politische Legitimation zur Führung auch solcher gesellschaftlichen Schichten gewinnen, die ihr bis jetzt ferngestanden sind, nicht aber dadurch, daß sie durch taktische Zugeständnisse das gesellschaftliche „Endziel“, für das sie bis jetzt gekämpft hat, auch anderen sozialen Gruppen schmackhaft zu machen versucht.

Die europäische Arbeiterbewegung ist eine der Kräfte, die im geschichtlichen Raum des Abendlandes um die Verwirklichung von Freiheit und Gerechtigkeit ringen. Dies gilt für die Vergangenheit wie für die Zukunft. Das Ziel der Arbeiterbewegung ist die Gerechtigkeit und Freiheit der Arbeiterschaft — wie andere Kräfte um die Gerechtigkeit und Freiheit anderer sozialer Schichten kämpfen. Die Arbeiterbewegung ist eine dieser Kräfte im geschichtlichen Sinn, insofern sie das Kräftespiel der Vergangenheit fortsetzt, und im aktuellen Sinn, insofern sie diesen Kampf immer wieder mit anderen Gruppen auszutragen hat. So gesehen, ist die Arbeiterbewegung nicht eine Form der Vergangenheit, die sich in der Gegenwart zu einer „Partei aller arbeitenden Menschen“ wandelt, sondern eine europäische Konstante, die heute eine innere Metamorphose durchzumachen hat.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1961
, Seite 137
Autor/inn/en:

Ludwig Reichhold: Ludwig Reichhold, langjähriger Mitarbeiter Leopold Kunschaks als Chefredakteur der „Christlichsozialen Arbeiterzeitung“, derzeit außenpolitischer Redakteur des „Kleinen Volksblatts“, Verfasser des kürzlich im Knecht Verlag, Frankfurt/Main, erschienenen Buches „Europäische Arbeiterbewegung“.

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