FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1982 » No. 344-346
Janos Hajdu

Als gut balkanischer Realist

Janos Hajdu ist einer der bekanntesten Journalisten Ungarns, vor allem als Moderator von Diskussionen im Fernsehen. Im Club 2 des ORF ist er, soll der „Osten” vertreten sein und will man jemand Vernünftigen und Lebendigen, beinah Dauergast.

Wenn man Schicksalsfragen analysiert bzw. über solche diskutiert, gibt es — historischen Erfahrungen zufolge — weder einen Grund noch Möglichkeiten für den Austausch gegenseitiger Höflichkeiten. Bevor ich meine Meinung darlege, möchte ich meine verehrten österreichischen Leser darauf hinweisen, denn ich habe die Erfahrung gemacht, daß sowohl in der Republik als auch in der Volksrepublik eine gemeinsame österreichisch-ungarische Krankheit noch immer weit verbreitet ist: Unsere Mitbürger sind nicht gerade erbaut, wenn sie jemand an die objektiven Koordinaten ihrer Herkunft und geographischen Lage erinnert. Korrektur: In Ungarn sind noch immer jene in der Überzahl, die es sich ohne Überlegung verbitten, wenn jemand — sagen wir ein Amerikaner — diese Volksrepublik als einen Balkanstaat einstuft. Aber ich weiß, daß die Österreicher nicht weniger in Rage geraten, wenn sie von einem Reichsdeutschen hören, daß der Balkan bei Salzburg beginnt.

Ich schlage jetzt vor, darüber zu diskutieren: Was sind die Vorteile, die tatsächlichen und möglichen Vorteile, wenn sich Österreicher und Ungarn selbstbewußt eine Balkannation nennen. Ich möchte scherzhaft beginnen, um ernsthaft fortfahren zu können.

Sagen Sie mir, in welcher Region der Welt Österreich reale Aussichten hat, daß man aufgrund seiner Kapitalkraft, seiner industriellen Leistungsfähigkeit, des Dynamismus seiner Unternehmer und seines kosmopolitischen Flairs zu ihm aufblickt? In den Vereinigten Staaten, im Raum der Europäischen Gemeinschaft, in Japan oder auf dem Balkan?

Und beantworten Sie mir bitte auch die Frage, in welcher Region der Welt man die freiwillig gewählte Neutralität Österreichs als den Sine-Qua-Non-Institutionen des Friedens zugehörig betrachtet? Mit anderen Worten: Wer hat elementares Interesse an der Nutzung dieser Neutralität und der sich aus ihr ergebenden wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten? Die Amerikaner, die Westeuropäer, der Ferne Osten oder die— im weitesten Sinne— Balkannationen?

Auf diese beiden Fragenkomplexe gibt es — nach meinem Dafürhalten — nur eine einzige Antwort.

Dennoch: Es ist ein seltsames historisches Erbe der tragisch gestürzten Donaumonarchie, daß sich die Nachfolgestaaten aus ihrer Zwergstaaten-Existenz mehr oder anderes wünschen, als wozu sie tatsächlich fähig sind. Wäre dem in Österreich nicht so, das FORVM hätte wohl kaum diese Nummer diesem Thema gewidmet. Wäre dem in Ungarn nicht so, würde man weniger für Dollar importiertes Papier für den Beweis verschwenden, daß wir wahrlich ein Teil Mitteleuropas sind.

Die anderen Interessierten haben weder um Qualifizierung noch um Schutz gebeten.

Ich möchte jedoch hinzufügen — und damit rühre ich wohl kaum an die Empfindlichkeit Außenstehender —, daß ich die politische Taktik für klüger halte, wenn sich jemand zu den in Entwicklung begriffenen Balkanländern zählt, weil er sich den daraus zu ziehenden Gewinn ausrechnet, als daß ich um jeden Preis zu den entwickelten Ländern (selbstverständlich weit hintenan) aufstrebe, obschon das hinsichtlich des Prestiges keinen Cent oder Pfennig einbringt.

Für letzte Bemerkung wird man wohl in Budapest ein Hühnchen mit mir rupfen, weil man hier sofort herausfindet, daß ich auf Rumänien anspiele, und in dieser Hinsicht verstehe ich die Taktik Bukarests nicht nur, sondern halte sie auch für zweckmäßig. Das Beispiel habe ich aber deshalb angeführt, damit ich meine werten österreichischen Leser fragen kann, was mittelfristig mehr verspricht: Eine anständige Mittelmäßigkeit im Milieu des Westens, also Amerikas, Westdeutschlands, Japans und Singapurs, oder eine möglichst intensive Präsenz auf dem Balkan?

Wohl gemerkt: Ich spreche noch nicht von Politik, sondern von Wirtschaft. Ich schlage nicht vor, daß letzteres — nämlich die Präsenz auf dem Balkan — statt ersterem — also der Zugehörigkeit zum Westen, geschehe. Und der Ordnung halber füge ich hinzu, daß ich als guter balkanischer Realist nicht im Entferntesten an eine auch nur noch so geringe Modifizierung des Status Österreichs hinsichtlich seiner Weltanschauung, seiner institutionellen Ordnung denke.

Ich habe nur daran gedacht, ob die österreichischen Unternehmer wohl noch konsequenter als ihre deutschen Kollegen auf jenen Märkten Fuß fassen wollen, wo ihre Präsenz erwünscht und gleichzeitig nicht nur Geschäft, sondern eingefügt in das historische Koordinatensystem noch etwas mehr bedeuten kann.

Aber gehen wir um noch einen Grad ernster an die Sache heran. Die Art politischer Neutralität, die die Gründer der II. Republik zur Sicherung der ersten Errungenschaften der Erneuerung nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen, funktioniert nur in einem ganz präzise definierten Koordinatensystem. Das — so meine Überlegungen — kann man ganz leicht einsehen, liegt doch auf der Hand: Hätte sich Österreich im Frühjahr 1945 nicht von vornherein an einem nicht vollkommen geklärten Punkt des Einflußbereichs des sowjetischen bzw. des westlichen Bündnissystems befunden, wäre es niemandem jemals eingefallen, die von Österreich freiwillig übernommene Neutralität zum Tausch gegen jene Bewegungsfreiheit zu fordern, die die Österreicher mit Recht als ihre Errungenschaft betrachten und um die die eine oder andere kleine, von Österreich weit entfernte Nation das Land mit Recht beneidet.

Die österreichische Neutralität stellt nur im geopolitischen Koordinatensystem eine Voraussetzung und einen Wert dar, und ich möchte gleich hinzufügen, daß sie meiner Meinung zufolge gleichzeitig auch eine Aufgabe ist.

Von hier aus, also aus Osteuropa gesehen, war und bleibt diese Neutralität die Voraussetzung dafür, daß Österreich selbst bei dem zurückhaltendsten sozialistischen Staat als Unternehmer und Geschäftspartner über jeden Zweifel erhaben ist. Und zwar in dem Sinne, daß man bei dem Kapital Wiener Herkunft weniger nach dem tatsächlichen Besitzer fragt, als wenn eben dieser Unternehmer aus ein oder zwei Häusern weiter westlich käme.

Nun hat wohl die aufgeschlossenere europäische Entwicklung der siebziger Jahre diesen relativen Vorsprung etwas geschmälert, aber ich würde mich nicht wundern, wenn die österreichische Neutralität in der Atmosphäre der vielfältigen Krisensymptome der achtziger Jahre erneut bedeutend höher bewertet würde.

Als die sowjetische Außenpolitik vor drei Jahrzehnten aufrichtiges Interesse für die österreichische Neutralität bekundete, ließ sie sich sicherlich nicht zuletzt von der Absicht leiten, die unerwünschten westlichen Einflüsse — genauer die Möglichkeit einer Einmischung aus dieser Richtung — so weit wie möglich vom Balkan fernzuhalten, wo diese defensive Doktrin seither unverändert ist.

Es entstanden Interessenverhältnisse mit eigenen Gesetzen, die in dieser Region und im weiteren gesamteuropäischen Zusammenhang eine stabilisierende Wirkung ausüben, weil sie bei den Großmächten nie Vedacht erregten. Jetzt ziehen wir selbstverständlich nicht nur geschäftliche oder nicht nur rein geschäftliche Kontakte in Betracht, sondern auch politische.

Ich bin überzeugt, daß sich die europäische Entspannungsrichtung der siebziger Jahre trotz des momentan spürbaren Innehaltens — und ich beeile mich hinzuzufügen, daß die Gründe hiefür am wenigsten in der von uns untersuchten Region zu finden sind — auch mittelfristig nicht mehr als eine Tendenz erweist, die in eine Sackgasse führt. Doch ist nicht von der Hand zu weisen, daß wir die Herausbildung des Institutionssystems der politischen Einrichtung, die der Entspannung folgt, erst noch erlernen müssen.

Und selbstverständlich nicht nur auf dem Balkan!

In dieser Hinsicht mißt die moderne Wirtschaftswissenschaft und die Politologie der gegenseitigen Abhängigkeit eine sehr große Bedeutung zu. Nicht nur der objektiv vorhandenen gegenseitigen Abhängigkeit, sondern vielmehr dem institutionellen System der bewußt eingegangenen, kalkulierten und schrittweise zu schaffenden gegenseitigen Abhängigkeit.

Als Beispiel möchte ich — gerade um die Anschauungsweise mit weiterem Horizont dazulegen — jene in Budapest entstandenen, aber in Wien mit Interesse aufgenommenen Vorstellungen anführen, die auf eine bedeutende Liberalisierung unserer Zollgrenzen abzielen, natürlich unter Achtung unserer bestehenden wirtschaftlichen Integrationsverpflichtungen und Interessen, andererseits dennoch von der Erkenntnis geleitet, daß der Weltmarkt unteilbar ist, der Waren- und Kapitalverkehr also auch an jenen Grenzen weitgehend ungestört sein sollte, die in anderer Hinsicht stets als philosophisch-politische Wasserscheide funktionieren.

Als Realisten müssen wir selbstverständlich konstatieren, daß diese Gedankenschule heute noch nicht typisch ist — weder im Osten noch im Westen.

Denn hinter diesen Möglichkeiten verbergen sich potentielle Faktoren der Sicherheit, die eigentlich auch jene für wünschenswert halten, die sich ansonsten nicht oder noch nicht auf das Annehmen einer solchen Herausforderung vorbereitet fühlen oder deshalb zögern, weil sie meinen, die anfänglichen Vorteile würden der anderen Seite Nutzen bringen, was sie auf keinen Fall glauben riskieren zu dürfen. Die früher oder später wieder Aufschwung signalisierende Wirtschaftskonjunktur wird diese Experimente natürlich erleichtern.

Eine ebenfalls progressive Wirkung werden auch die Modernisierung der internen Mechanismen der sozialistischen Wirtschaften des Balkans sowie ihre bewußte Öffnung nach außen auf viele Prozesse ausüben. Lassen Sie mich unter den möglichen Beispielen auf die bisher getroffenen Maßnahmen im Interesse der Konvertibilität des ungarischen Forint verweisen, die auf einen erfolgreichen Abschluß hoffen lassen.

Von der Politik her können wir davon ausgehen, daß eine der wichtigsten Triebfedern der Orientierung und Übernahme von Verpflichtungen Österreichs auf dem Balkan in den achtziger Jahren die Erkenntnis sein wird, daß in der direkten Nähe der Republik die Gefahr einer, eventuell mit Folgen einhergehenden Destabilisierung vor allem von den auf dem Balkan bereits vorhandenen bzw. potentiellen Krisenherden ausgeht. Die Vernunft läßt alle Nachbarn wünschen, daß keine dieser Krisen außer Kontrolle gerate bzw. daß die eventuellen Geschehnisse den Großmächten weder Anlaß noch Möglichkeiten zum Eingreifen bieten möchten.

Aus diesem Aspekt sind unsere Möglichkeiten der direkten Einflußnahme in der politischen Sphäre äußerst gering. Selbst dann, wenn es sich um Gesellschaften mit ähnlich gerichteter Weltanschauung handelt, und noch geringer, wenn diese ein umgekehrtes Vorzeichen tragen. Doch gibt es unter den heute bekannten oder potentiell in Frage kommenden Krisen des Balkans keine einzige — selbstverständlich mit Ausnahme der überaus sonderlichen, aber vollkommen abgeschlossenen Existenz Albaniens —, die man unter günstigeren ökonomischen Sternen nicht besser in den Griff bekäme und die langfristig nicht zu heilen wäre.

Das strenge Festhalten, unter allen Umständen, an den nationalen Grundinteressen kann selbst beim Schutz unserer verhältnismäßig ruhigen südosteuropäischen Existenz noch Opfer fordern. Das bewußte Eingehen dieser nationalen, in ihrer Wirkung aber durchaus kollektiven Verpflichtungen, kann unerwünschte „Krisenmanager“ fernhalten.

Davon ausgehend, daß ich ein Ungar und von jeher ein Bürger von Budapest bin, brauche ich wohl nicht zu beweisen, daß ich mit den letzten Bemerkungen nicht den Teufel an die Wand malen wollte.

Im Gegenteil: Ich wollte die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß wir die extrem ungünstige Entwicklung der Weltpolitik ausgeklammert (und leider eben nur ausgeklammert und nicht ausgeschlossen, denn dafür bestehen heute noch keine reellen Möglichkeiten) Grund und Möglichkeiten haben davon auszugehen, was ich folgendermaßen definieren möchte:

Ausgehend von der starren Bipolarität nähert sich die Welt politisch gesehen der flexibleren Multipolarität — eine notwendige und gute Tendenz.

Wir haben in diesem Teil der Welt allen Grund, diese Tendenz zu festigen, und wir müssen auch nach Möglichkeiten forschen, die Initiative zu ergreifen. Was in den letzten sechs Jahrzehnten mit den Ländern und Völkern geschah, die bis 1918 gänzlich oder nur teilweise zur Donaumonarchie gehörten, ob sie nun in irgendeine Richtung voranschritten oder ins Schwanken kamen — manchmal sogar in ihrer nationalen Existenz —, stets waren die externen Impulse determinierend.

Die Gefahr der Balkanisierung kann auch in Zukunft heraufziehen! Aber mit bewußt geleisteter und hartnäckiger Kleinarbeit können unsere Ausichten mit negativem Vorzeichen vermindert werden.

Und das ist ein echtes Balkanprogramm!

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1982
, Seite 32
Autor/inn/en:

Janos Hajdu:

Foto: By FOTO:FORTEPAN / Urbán Tamás, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=51181271

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