FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1966 » No. 146
Erwin Weissel

Zur Mythologie der Investition

Dr. Erwin Weissel, unorthodoxer Vertreter der jüngeren Generation sozialistischer Nationalökonomen in der Wiener Arbeiterkammer, setzt hiemit seinen Emmythologisierungsfeldzug fort, siehe „Der Mythos vom Defizit“ in Heft VIII/93, „Pyrrhus als Sozialpolitiker“ in Heft IX/103-104‚ „Steuerzahlers Märchen“ in Heft X/118, „Wirtschaftswunder oder Keynes“ in Heft XII/135. Zweck dieser Aufsätze ist nicht die blanke Zustimmung, sondern die Nährung der in Österreich noch immer recht mageren wirtschaftspolitischen Grundsatzdiskussion.

Erwchsene Menschen im allgemeinen und Wirtschaftspolitiker im besonderen haben mit kleinen Kindern eine unangenehme Eigenschaft gemeinsam: Wenn sie ein neues Spielzeug bekommen, vergessen sie ihre anderen Spielsachen und beschäftigen sich so lange ausschließlich mit dem neuen, bis sie es kaputt gemacht haben. Daher sind wir heute nicht bloß wachstumsbewußt, sondern wachstumssüchtig. [1] Der allseits offen verdammte und allseits heimlich praktizierte Nationalismus hat ein neues, unverdächtiges Betätigungsfeld gefunden: das Auf- und Übertrumpfen mit hohen und noch höheren Wachstumsraten. Wir laufen Gefahr, die wirtschaftliche Entwicklung zu einem Ziel zu erheben, dem alles andere bedenkenlos und manchmal auch gedankenlos untergeordnet wird. [2]

Solche Gedankenlosigkeit greift bisweilen auch auf die nationalökonomische Argumentation über. So zählte Nationalbankpräsident Prof. Kamitz in einer Rede vor der Generalversammlung der Österreichischen Handelskammer in der Schweiz zu den Mitteln der Wachstumsförderung auch die Investitionsförderung und die Konsumkrafterhöhung durch Steuersenkungen. Es ist eine schwierige Frage, wieweit Steuersenkungen tatsächlich zu einer Vermehrung von Investitionsaufwand oder Konsum führen; wenn der Staat seine Ausgaben im gleichen Ausmaß reduziert, ist die Wirkung kontraktiv und nicht expansiv. Klar ist jedenfalls, daß man nur entweder die Investitionen oder den Konsum fördern kann; denn bei Vollbeschäftigung (die heute, und gerade in Österreich, vorausgesetzt werden muß) bedeutet mehr Investieren weniger Konsum und umgekehrt.

Im folgenden wollen wir uns mit einem anderen, sehr wichtigen Aspekt der Wachstumssucht beschäftigen, nämlich mit dem Gedanken, der Staat müsse das Sparen und Investieren fördern, um das Wachstum zu beschleunigen. Es kann kaum Zweifel darüber bestehen, daß vermehrtes Sparen und daraus folgende vermehrte Investitionen eine Vergrößerung des Produktionsumfanges und damit ein rascheres wirtschaftliches Wachstum ermöglichen. [3] Aber diese Binsenweisheit ist ebensowenig ein taugliches Argument für Konsumeinschränkung wie die Binsenweisheit, daß alle Menschen sterben müssen, ein taugliches Argument für die Abschaffung des medizinischen Studiums darstellt.

Zum ersten wäre festzustellen, daß Investitionen nicht immer dort und in der Form vorgenommen werden, die den größten Nutzen bringt. Auch bei gleichem Investitionsvolumen kann eine Verbesserung der Investitionsstruktur samt Vermeidung von Fehlinvestitionen das Wirtschaftswachstum merklich beschleunigen. Man muß nicht unbedingt mehr investieren, um rascher zu wachsen. Aber es ist ein Zug der Zeit, daß man alles Heil in quantitativen Verbesserungen sucht und die Möglichkeit qualitativer Verbesserungen ignoriert.

Zur Anatomie des Konsumenten

Zum zweiten ist ein rascheres, mit größerem Konsumverzicht verbundenes Wirtschaftswachstum nicht unbedingt besser als ein langsameres, das mit geringerem Konsumverzicht verbunden ist. Es gilt hier jener von Böhm-Bawerk formulierte Grundsatz der Zeitpräferenz, wonach die Menschen im Regelfall eine gegenwärtig verfügbare Menge von Gütern einer in der Zukunft verfügbaren gleichen Menge der gleichen Güter vorziehen. Damit die Menschen auf Gegenwartsgüter zugunsten von Zukunftsgütern verzichten, müssen ihnen dafür mehr Zukunftsgüter zur Verfügung stehen; die Differenz ist der Zins. Eine Beschleunigung des Wirtschaftswachstums durch höhere Investitionen, also durch vermehrten Konsumverzicht, bedeutet ganz einfach, daß Gegenwartsgüter aufgegeben und dafür Zukunftsgüter erworben werden. [4] Dieser Tausch ist wegen der Zeitpräferenz bei gegebenem zusätzlichem Sparen nur ab einer bestimmten Mindestbeschleunigung des Wirtschaftswachstums vorteilhaft und damit für die Bevölkerung akzeptabel. Es besteht jedoch nicht die geringste Garantie, daß diese Mindestbeschleunigung erreicht wird.

Hiezu kommt als drittes ein Umstand, der obigen Sachverhalt kompliziert. Die Zeitpräferenz ist bei Konsumenten der gleichen Einkommensstufe verschieden stark ausgeprägt und verschiebt sich überdies auch beim selben Konsumenten, wenn sich seine Einkommensstufe verschiebt. Die Beschleunigung des Wirtschaftswachstums durch eine höhere Investitionsquote kann für manche Menschen vorteilhaft, für andere jedoch nachteilig sein. Ob in der Volkswirtschaft die Vorteile oder die Nachteile insgesamt überwiegen, ist eine Frage, die von der Theorie nicht gelöst werden konnte und deren Lösung auch in der praktischen Näherungsform auf erhebliche, wo nicht unüberwindbare Schwierigkeiten stoßen dürfte.

Viertens ergeben sich aus einer Erhöhung der (freiwilligen) Sparquote erhebliche Probleme im Zusammenhang mit dem stabilen Geldwert. Das zusätzliche Nominaleinkommen, das durch eine zusätzliche Investition geschaffen wird, ist insgesamt wesentlich größer als die ursprüngliche Investitionsausgabe. Dieser Multiplikatoreffekt ist um so geringer, je höher die Sparquote ist. Steigt nun infolge der vermehrten Investitionen die Produktion real, während die Summe der Nominaleinkommen infolge des durch die höhere Sparquote verringerten Multiplikatoreffektes nur langsamer wächst, dann kann die gesamte Warenmenge nicht mehr zu denselben Preisen wie bisher abgesetzt werden. Die Folge sind verringerte Investitionen, Depressionserscheinungen, wirtschaftliche Schwierigkeiten.

Dieser Überlegung liegt der einfache Sachverhalt zugrunde, daß innerhalb eines bestimmten Zeitraumes die Summe der Einnahmen zwangsläufig gleich der Summe aller Ausgaben ist. Daran scheitert auch der bekannte Gedanke, die Einkommensteuer durch eine Konsumsteuer zu ersetzen, um das Sparen zu fördern. [5] Zwar läßt sich zeigen, daß der einzelne Haushalt aus einem gegebenen Einkommen bei einer Einkommensteuer weniger sparen wird als bei einer Konsumsteuer mit gleichem Ertrag. Aber wenn alle mehr sparen und folglich weniger ausgeben, verringert sich das Volkseinkommen; setzen wir dagegen bei beiden Steuern ein gleiches Volkseinkommen voraus, dann wird bei beiden Steuern gleich viel gespart. [6]

Fünftens schließlich ist die Behauptung, es könne nur soviel investiert werden, wie gespart werde, zwar richtig, aber die in der öffentlichen Diskussion daraus gezogenen Schlußfolgerungen sind falsch. Schon der Begriff der Investition wird fehlerhaft interpretiert. Die Unternehmer investieren nicht nur in Maschinen, Gebäude usw., sondern auch in Lagerbestände an Rohstoffen, Halbfertigwaren und Endprodukten. Was daher in einer Volkswirtschaft investiert wird, findet zwangsläufig seinen realen Niederschlag in eigentlichen Investitionsgütern wie auch in Konsumgütern. Insofern sind in einer Volkswirtschaft Investieren und Sparen (ist gleich Nicht-Konsumieren) stets gleich. Die entscheidende Frage ist, wie es zu dieser Gleichheit kommt, denn Sparer und Investoren sind ja nicht dieselben Personen. Wird in einer Volkswirtschaft freiwillig soviel gespart, wie freiwillig investiert wird, dann besteht ein Gleichgewicht. Sind die freiwilligen Investitionen geringer als die freiwilligen Ersparnisse, dann bleiben die Unternehmer auf Gütern sitzen — sie haben im Ausmaß der Differenz unfreiwillig investiert. Sind umgekehrt die freiwilligen Investitionen größer als die freiwilligen Ersparnisse, dann können die Konsumenten nicht soviel konsumieren, wie sie wünschen — sie haben im Ausmaß der Differenz unfreiwillig gespart, und zwar infolge von steigenden Preisen.

Die Details solcher Anpassungsprozesse interessieren uns hier nicht. Jedenfalls ist freiwilliges Sparen in der Höhe der Investitionen nicht die Voraussetzung für Investieren schlechthin, sondern für Investieren bei konstantem Geldwert. Zur Beschleunigung des Wachstumstempos genügt also eine Erhöhung der Investitionen. Das Sparen nimmt dann zwangsläufig — nämlich ex definitione — zu. Aber nur wenn das freiwillige Sparen entsprechend zunimmt, kommt es dabei nicht zum Zwangssparen über Preiserhöhungen.

Sparförderung und Investitionsförderung sollen nach dem Willen unserer Wirtschaftspolitiker Hand in Hand gehen. Die Begründung, die dafür in der Öffentlichkeit gegeben wird, ist jedoch falsch. Sie kann nicht lauten: Wir müssen mehr sparen, damit wir mehr investieren können. Sie muß vielmehr lauten: Wir müssen mehr sparen, damit wir ohne inflationäre Impulse von der Investitionsseite her mehr investieren können. Manche Wirtschaftspolitiker, aber nur sehr wenige, ringen sich bei peinlicher Befragung zu dieser Begründung durch. Bei ihnen stoßen wir aber auf die letzte Irrationalität, mit der wir uns zu beschäftigen haben. Denn auf die Frage, warum denn ein stabiler Geldwert so wünschenswert sei, verweisen sie — wie alle Politiker — auf die armen Sparer, die durch die Inflation Geld verlieren und folglich nicht oder doch in geringerem Umfang sparen. Also: Es soll mehr gespart werden, damit der Geldwert stabil bleibt, und der Geldwert soll stabil bleiben, damit mehr gespart wird. Das Musterbeispiel eines Zirkelschlusses ist fertig.

Es gibt natürlich eine ganze Reihe von Argumenten gegen sinkenden Geldwert. Fatalerweise folgt aus ihnen jedoch nur, daß steigender Geldwert gut ist; über stabilen Geldwert ist damit nichts gesagt, außer daß er die zweitbeste Lösung ist. Ich bin der Auffassung, daß die Forderung nach stabilem Geldwert völlig irrational und die Berücksichtigung dieser Forderung in der Wirtschaftspolitik ein störender Faktor ist.

Zur Orthopädie des Zinsfußes

Mit der Begründung des Gedankens, der Staat müsse durch Förderung von Sparen und Investieren das Wirtschaftswachstum beschleunigen, ist es also nicht weit her. Dem paßt sich die praktische Durchführung des Gedankens würdig an. Beginnen wir mit der Sparförderung.

Das Kontensparen wird auf verschiedene Weise gefördert. Man zahlt für längerfristig eingelegte Beträge Prämien, die teilweise der Staat finanziert (Prämienkontensparen); man läßt die gesparten Beträge vom steuerpflichtigen Einkommen absetzen (Bausparen, auch wenn nicht gebaut wird). Man erhöht also den Ertrag, den die Sparsumme abwirft. Faktisch ist dies mit einer Erhöhung des Zinsfußes gleichzusetzen. Offenbar wurde dabei von der Auffassung ausgegangen, daß jeder um so mehr spart, je höher der Zinsfuß ist. Diese Auffassung ist jedoch keineswegs gesichert. Es gibt eine ganze Reihe von Nationalökonomen, die der Ansicht sind, daß um so weniger gespart wird, je höher der Zinsfuß ist. Heute neigt man dazu, den Einfluß des Zinses auf das Sparen als „indeterminiert“ anzusehen. Freilich kann es vielleicht gelingen, durch einen höheren Zinsfuß gehortete Summen aus Sparstrümpfen, Schubladen und Kaffeedosen in die Sparkassen und Banken zu leiten. Aber erstens ist das Gelingen sehr fraglich, zweitens rechtfertigen diese Summen keineswegs den hohen Aufwand und drittens ist dies für die Geldwertstabilität belanglos, da die Konsumneigung davon nicht berührt wird.

Dazu kommt noch, daß die Folgen sozialpolitisch wenig attraktiv sind. Wieviel der einzelne spart, hängt nicht nur von seinem subjektiven Wollen, sondern auch von seinem objektiven Können ab. Ein Familienvater mit vier Kindern und einem Monatseinkommen von 3000 Schilling wird durch eine Erhöhung des Zinsfußes kaum dazu gebracht werden, mehr zu sparen als bisher (sofern er überhaupt sparte), aber nicht weil er nicht will, sondern weil er nicht kann. Je höher das Einkommen, je günstiger die Einkommensverhältnisse, desto eher können wir eine Reaktion auf eine Änderung des Zinsfußes erwarten. Aber je höher das Einkommen, desto höher die Sparsummen und desto höher auch die Begünstigungen.

Auch die Begünstigung des Wertpapiersparens weist nachteilige Folgen auf. Erstens besteht die Gefahr einer Fehllenkung von Kapitalien. Die Rendite der Wertpapiere wird durch die Begünstigungen über jenes Ausmaß hinaus aufgebläht, das den tatsächlichen Verhältnissen, der wirklichen Rentabilität des Projektes entspricht. Damit wird aber das in der Volkswirtschaft vorhandene, für Investitionszwecke zur Verfügung stehende Kapital nicht optimal eingesetzt. Zweitens ist, sozialpolitisch betrachtet, die Begünstigung des Wertpapiersparens so wenig attraktiv wie die Begünstigung des Kontensparens, und zwar aus dem selben Grund. Wieder sind es die Begüterten, die den Löwenanteil bekommen. Je höher man auf der Einkommensleiter steht, desto tiefer kann man in den Gabentopf greifen.

Gehen wir nun zu den Säulen der Investitionsbegünstigung über und betrachten wir zunächst die beschleunigte (oder vorzeitige) Abschreibung. Im Zuge des Produktionsprozesses werden Kapitalgüter abgenützt. Zu den Materialkosten, Lohnkosten usw. muß daher ein Kostenelement dazugeschlagen werden, das die Wertminderung durch Abnützung darstellt, und dieses Kostenelement ist die Abschreibung. Nehmen wir einmal an, eine Maschine besitze eine voraussichtliche Lebensdauer von zehn Jahren. Wird nun in jedem Jahr ein Zehntel der Anschaffungskosten abgeschrieben, dann sprechen wir von einer linearen Abschreibung. Das Wesen der beschleunigten Abschreibung besteht darin, daß — um bei unserem Beispiel zu bleiben — in den ersten Jahren mehr als ein Zehntel und in den späteren Jahren weniger als ein Zehntel abgeschrieben wird.

Nun sprechen einige Argumente für die Annahme, daß sich etwa eine Maschine nicht linear abnützt und die Wertminderung am Anfang der Lebensdauer höher ist als am Ende. [7] Insofern geht der Gedanke einer beschleunigten Abschreibung in Ordnung — obwohl die Einführung der vorzeitigen Abschreibung gerade damit nicht begründet wurde. Aber über eine Tatsache muß man sich im klaren sein: Übersteigt die Abschreibung die tatsächliche Wertminderung, dann wird praktisch das Unternehmen von der öffentlichen Hand subventioniert. [8] Das dürfte gerade in Österreich der Fall sein, wo im ersten Jahr ein unverhältnismäßig hoher Teil der Anschaffungskosten abgeschrieben werden kann.

Dazu kommt, daß in Österreich — im Gegensatz zu anderen Ländern — das Ausmaß der Beschleunigung nicht der Lebensdauer angepaßt ist; im ersten Jahr kann ein bestimmter Prozentsatz der Anschaffungskosten zusätzlich zur gewöhnlichen Abschreibung abgeschrieben werden, unabhängig von der Lebensdauer des Kapitalgutes. Der Vorteil ist hiebei um so höher, je länger die Lebensdauer (das heißt je geringer die normale jährliche Abschreibungsquote) ist; folglich tendieren die Unternehmen zu Kapitalgütern mit langer Lebensdauer, was den technischen Fortschritt bremst.

Fortschritt durch Vergeudung

Versuchen statt dessen die Unternehmer, in kurzer Zeit abzuschreiben und eventuell schon vorzeitig, unter Verlusten — die durch anfängliche Vorteile mehr als kompensiert werden —, alte Kapitalgüter gegen neue und moderne zu tauschen, dann wird zwar der technische Fortschritt eher beschleunigt, dafür tritt jedoch eine Kapitalvergeudung auf, die freilich der Unternehmer nicht fühlt. [9] In beiden Fällen ist es fraglich, ob das Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung günstig beeinflußt wird und ob, selbst wenn dies der Fall ist, der dafür bezahlte Preis auch angemessen ist.

Schließlich birgt die beschleunigte Abschreibung noch eine weitere Gefahr in sich. Sie bringt den größeren Betrieben, die wesentlich mehr investieren, mehr Gewinne erzielen und die Abschreibungsmöglichkeit bis zum letzten Schilling ausnützen können, größere Vorteile als den kleineren. Der Umstand, daß Einkommensteuer und — bis zu einem gewissen Grad — Körperschaftsteuer progressiv sind, daß also der Steuervorteil infolge beschleunigter Abschreibung bei hohem Gewinn größer ist als bei niedrigem, verstärkt diese Tendenz. Je weniger ein Unternehmen auf die Begünstigungen angewiesen ist, desto mehr hat es davon. Die Großen werden gestärkt, und dies hat seine negativen Auswirkungen auf die Wettbewerbsverhältnisse der ohnehin nicht gerade konkurrenzlüsternen österreichischen Unternehmen.

Was die zweite investitionsfördernde Bestimmung im Steuerrecht betrifft, die Geltendmachung früherer Verluste, so wird die Notwendigkeit dieser Maßnahme mit der unsymmetrischen steuerlichen Behandlung von Gewinnen und Verlusten begründet. Ein Gewinn ist mit einer Steuer verbunden, ein negativer Gewinn (Verlust) jedoch nicht mit einer negativen Steuer (Subvention). Hat ein Unternehmen in einem Jahr mit einem Verlust abgeschlossen und im nächsten Jahr mit einem Gewinn, dann darf bei der Berechnung des steuerpflichtigen Gewinnes der Verlust des Vor-Jahres als Gewinnabzugsposten eingetragen werden. Mit diesem Verfahren nähert man sich einem System, bei dem nicht das jeweilige Jahreseinkommen, sondern das durchschnittliche Jahreseinkommen mehrerer Jahre besteuert wird.

Wieder lassen sich nachteilige Folgen beweisen. Der Verlustausgleich wird als Investitionsanreiz angesehen. Nun läßt sich zeigen, daß bei einer proportionalen Einkommensteuer mit vollem Verlustausgleich (d.h. mit einer Subvention im Falle von Verlusten) die Risikobereitschaft keine Änderung erfährt. [10] Sowohl eine progressive Steuer wie auch ein bloß partieller oder überhaupt fehlender Verlustausgleich verringern die Bereitschaft der Unternehmer, Risken zu übernehmen. Weniger Bereitschaft zur Übernahme von Risken bedeutet jedoch nicht zwangsläufig weniger Investitionen. Progression und fehlender Verlustausgleich zwingen die Unternehmer zu mehr Investitionen mit mehr (unversteuerten) Gewinnen, wenn sie die Einkommenseinbuße infolge der höheren Steuerlast wettmachen wollen, und es kann nicht von vornherein entschieden werden, welcher der beiden einander genau entgegengesetzten Effekte die Oberhand behält, ob daher weniger investiert wird als bei fehlendem Verlustausgleich.

Zweitens werden, wenn man Verluste nur gegen spätere, nicht aber gegen frühere Gewinne aufrechnen kann, die konjunkturellen Schwankungen verstärkt. Verluste treten am häufigsten in Depressionszeiten auf, Gewinne in Prosperitätsphasen. Die Steuerlast wird daher gerade in Hochkonjunkturen verringert, und die Wirtschaft erhält Geldinjektionen gerade zum volkswirtschaftlich ungünstigsten Zeitpunkt.

Drittens erzielen — wie bei der beschleunigten Abschreibung — gerade die größten Unternehmen die größten Vorteile. Je höher der Gewinn ist, der durch die Einrechnung des Verlustes verringert wird, desto größer ist — wegen der Steuerprogression — die Steuereinsparung. Und hohe Gewinne wird man im Regelfall bei großen Unternehmen antreffen. Der Wettbewerb wird durch diese Mastkur für die Großen nicht gerade gefördert.

Die Investitionsbegünstigungen sind nichts als der Versuch, einen Fehler durch einen anderen Fehler auszubessern. Verglichen mit dem Ausland, ist in Österreich das Zinsniveau abnorm hoch. Hohe Kreditkosten schrecken die Unternehmer von Investitionen ab. Man erhöht daher durch die Begünstigungen künstlich die Rendite der Investitionen, um die hohen Zinskosten zu kompensieren. Im Endeffekt subventioniert der Staat die Banken.

Bei einiger Überlegung erkennt man leicht, daß zur Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung auch andere Mittel zur Verfügung stehen als die plumpe Erhöhung der Investitionsquote. Auch in dieser Frage gilt das Prinzip der Wirtschaftlichkeit; der Erfolg soll mit dem geringstmöglichen Aufwand erreicht werden.

Was getan werden kann, ohne der Bevölkerung neue Lasten — sei es in der Form höherer Steuern, sei es in der Form einer höheren Sparquote — aufzuerlegen, wurde vor einiger Zeit in einer Publikation der Arbeiterkammer Wien skizziert. Es wird vorgeschlagen, die Investitionsquote auf ihrem bisherigen Niveau zu stabilisieren (und nicht zu erhöhen!) und das Hauptgewicht auf eine Verbesserung der Investitionsstruktur zu legen. [11]

Möglichkeiten zu Strukturverbesserungen gibt es in Hülle und Fülle; Österreichs Wirtschaft weist eine ganze Reihe von strukturellen Schwächen auf. Wie die Erfahrung der Fünfzigerjahre gezeigt hat, vermag eine säkulare Inflation für einige Zeit die Wirtschaft über die Klippen der Strukturschwäche hinwegzutragen, aber sie kann dies nicht ewig bewirken. Steuerliche Investitionsanreize entwickeln eine analoge Wirkung. Sie sind sozusagen ein Dopingmittel, mit dessen Hilfe man für begrenzte Zeit die Symptome wirtschaftlicher Ermüdungserscheinungen wegmogeln kann. Die Strukturverbesserung hat demgegenüber den Vorteil, das Übel an der Wurzel zu bekämpfen.

Öl für Preise

Generelle steuerliche Investitionsbegünstigungen sind überdies ein wenig geeignetes Mittel zur Ankurbelung der Investitionstätigkeit. In einer Zeit säkularer Inflation, in der auch der Staat durch permanente Defizite für ständigen Nachfragesog sorgt, gießen Investitionsbegünstigungen nur Ölin das Feuer des Preisauftriebs. Selektive Begünstigungen eignen sich dagegen vorzüglich für günstige Beeinflussung der Investitionstätigkeit. Im Jahre 1951 wurde in Kanada die Abschreibungsmöglichkeit bei bestimmten Kapitalgütern erheblich reduziert, was de facto einer Begünstigung der anderen, nicht diskriminierten Kapitalgüter gleichkommt. Innerhalb eines Jahres stiegen die gesamten Investitionen um 9 Prozent, aber die Investitionen in nicht diskriminierte Kapitalgüter stiegen um 34 Prozent, während jene in diskriminierte Kapitalgüter um 17 Prozent abnahmen. [12]

Unsere Wirtschaftspolitiker sind in einer schwierigen Lage. Sie müssen bei ihren Maßnahmen nicht nur die wirtschaftliche Situation, sondern auch die Meinung des berühmten „Mannes von der Straße“ ins Kalkül ziehen nicht bloß wegen dessen politischer Reaktion, die sich im Ergebnis der nächsten Nationalratswahl niederschlägt, sondern ebensosehr wegen seiner ökonomischen Reaktion. Stabilisierungsmaßnahmen, die von der breiten Masse abgelehnt werden, können durch autonome Lohnerhöhungen, die Preiserhöhungen induzieren, ebenso zum Scheitern gebracht werden wie durch autonome Preiserhöhungen, die Lohnerhöhungen induzieren. Es mag gar nicht selten sein, daß die Wirtschaftspolitiker aus diesem Grund zur zweitbesten Lösung greifen müssen. Bei der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung ist der günstige Fall gegeben, daß die beste Lösung zugleich jene ist, die auf breiteste Zustimmung rechnen kann. Wir sollten diese seltene Chance so rasch wie möglich nützen. Je eher wir beginnen, desto geringer sind die erforderlichen Korrekturen an unserer Wirtschaftspolitik.

[1E. Phelps hat diese Wachstumssucht („growthmanship“) gehörig verulkt. Siehe „The Golden Rule of Accumulation: A Fable for Growthmen“, American Economic Review, Sept. 1961.

[2Man lese über die zahlreichen Möglichkeiten einer Kollision von wachstumspolitischen und anderen Zielsetzungen bei T. Wilson: „The Price of Growth“, Economic Journal, Dez. 1963.

[3Nach dem neuesten Stand der Theorie gilt diese Feststellung nicht uneingeschränkt. Langfristig (d.h. über Jahrzehnte hinweg) ist das Wachstumstempo der Wirtschaft vielleicht sogar unabhängig von der Höhe der Akkumulationsrate. Zu dieser äußerst komplizierten Frage siehe den instruktiven Überblick von W. Krelle: „Investition und Wachstum“, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Februar 1964.

[4E. C. Brown hatte besonders diesen Punkt im Auge, als er im Zusammenhang mit der Investitionsförderung meinte, man diskutiere in der Öffentlichkeit immer nur deren Vorteile, ohne die Kosten (also die Nachteile) zu erwähnen. „Es ist eben eine bedauerliche ökonomische Tatsache, daß wir nicht etwas für gar nichts bekommen können ... Man kann sehr leicht für mehr von irgend etwas sein, wenn alles andere gleichbleibt. Aber das ist nicht die Wahl, vor die wir gestellt sind.“ („Purposes and Functions of Depreciation under the Income Tax“, in: „Depreciation and Taxes“, Princeton 1959, Seite 13.)

[5Der Gedanke findet sich zumindest schon bei J. St. Mill. Neuere Proponenten sind I. Fisher und N. Kaldor.

[6Siehe E. Rolph und G. Break: „Public Finance“, New York 1961, Seite 180 ff.

[7Es gibt allerdings auch einige Gegenargumente. Kapitalgüter haben nicht nur infolge der Abnützung eine begrenzte Lebensdauer, sondern sie werden durch die technische Entwicklung unwirtschaftlich. Der Gedanke der Abschreibung beruht auf dem ersten Faktor. Heute ist jedoch der zweite Faktor viel wichtiger, was den fiktiven Charakter der Abschreibung als Kostenelement noch verstärkt. (Siehe D. Walker: „Depreciation Problems and Taxation“, in: „Depreciation and Replacement Policy“, Amsterdam 1961, Seite 142 ff.)

[8Über die gesamte Lebensdauer der Maschine summiert, sind natürlich Abschreibung und Anschaffungskosten gleich hoch. Man redet daher der Öffentlichkeit ein, es handle sich bei der Beschleunigung lediglich um ein „zinsenloses, befristetes Darlehen“. Das ist eine Untertreibung, denn das „Darlehen“ wird nicht unbedingt zurückgezahlt (etwa wenn später keine Gewinne vorhanden sind oder der Betrag immer wieder reinvestiert wird). R. Prest spricht hier schlicht und einfach von einem Geschenk, das bei einem wachsenden Unternehmen sogar mitwächst („Public Finance“, London 1960, Seite 317 ff.).

[9Diese Vergeudung garantiert aber die Vollbeschäftigung und spielt insofern eine wichtige Rolle (vgl. E. Domar: „Essays in the Theory of Economie Growth“, New York 1957, Seite 77 ff. über den „junking Process“).

[10Die grundlegenden Arbeiten auf diesem Gebiet stammen von E. Domar und R. Musgrave. Siehe deren Essay „Proportional Income Taxation and Risk-Taking“, Quarterly Journal of Economics, Mai 1944, und das 14. Kapitel der „Theory of Public Finance“ von Musgrave.

[11„Wachstumsperspektiven der österreichischen Wirtschaft“, Wien 1963. Die Vorschläge erschöpfen sich nicht in Maßnahmen von der Kapitalseite her. Es werden auch Maßnahmen erörtert, durch Erfassung noch vorhandener Arbeitskraftreserven und rationelleren Einsatz der Arbeitskräfte die Entwicklungschancen zu verbessern.

[12Siehe E. Rolph und G. Break: „Public Finance“, New York 1961, S. 229.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1966
, Seite 134
Autor/inn/en:

Erwin Weissel:

Geboren 1930, gestorben 2005. Professor für Volkswirtschaft und Finanzpolitik an der Universität Wien. Nationalökonom in der Arbeiterkammer Wien, Leiter der Sozialakademie in Mödling und Leiter des Instituts für Gesellschaftspolitik. Vortragender an der Verwaltungsakademie des Bundes. Zwischen 1969 und 1995 Beisitzer am Kartellgericht in Wien.

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