FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1960 » No. 84
Franz Kreuzer

Zur Chemie des Witzes

Nachwort zu den „Brotlosen Berufen“, illustriert von Paul Flora

FORVM hat eine Theorie der „Brotlosen Berufe“ geboten, die darauf hinausläuft, daß die Echtheit eines solchen Berufes dem Grad der Entfremdung des konventionellen Wortsinnes proportional ist: Deshalb ist der „Hosenträger“ ein Paria, wogegen der „Raster“ zur obersten blaublütigen Aristokratie gehört. Ohne weitere theoretische Verarbeitung wurde dabei zugegeben, daß die Echtheit des „Brotlosen Berufes“ nicht einfach mit seiner Lustigkeit gleichzusetzen ist. Es gibt überaus lustige Paria-Berufe, was Paul Flora durch entsprechende Zeichnungen gewürdigt hat, während z.B. die „Raster“ nicht umwerfend komisch wirken.

Wonneschauer

Als Grundlage jeder theoretischen Überlegung, die das Phänomen des Lustigen betrifft, kann eine Aufschließung der einfachen verbalen Bedeutung von „lustig“ dienen. Die Herkunft von der „Lust“ ist unverkennbar. Lustig ist, was Lust bereitet oder vielleicht auch, was durch Lust hervorgerufen wird. Nun ist Lust ein Gefühl, von dem üblicherweise lebensfördernde Vorgänge im menschlichen Organismus begleitet werden (wobei es eine Isolierung des Lustgefühls von der biologischen Zweckmäßigkeit gibt, so daß, wie im Fall aller Süchte, extreme Lustempfindungen mit organisch extrem abträglichen Vorgängen gekoppelt werden können).

„Lustig“ im ursprünglichen, animalischen Sinn ist die Befriedigung der Triebe, wobei nicht nur an Nahrungsaufnahme und Sexualität zu denken ist. Es ist im wesentlichen der Funktionaltrieb, dessen Befriedigung Lust einträgt. Die Betätigung aller organischen Funktionen ist lustig: das Laufen und Springen, das Schauen, Horchen und Riechen, das Abschnurrenlassen der im Nervensystem vorgeformten Reflexabläufe und Instinktreaktionen.

Das Ablaufen lustvoller, „lustiger“ Vorgänge ist zumeist mit heftigen Atembewegungen gekoppelt, die das Zwerchfell auf- und niedergehen lassen, womit der Vorgang des menschlichen Lachens vorgeformt ist. Freilich können Tiere nicht lachen. Sie sind eben nicht im menschlichen Sinn lustig, sie sind nur lusterfüllt. Ihre „Lustigkeit“ ist eine Vorstufe der viel komplexeren und vor allem in den Hirnfunktionen verankerten Lustigkeit des Menschen. Bei ihm fällt es schwer, das Verhalten bei der Befriedigung vorwiegend animalischer Funktionstriebe von der durch geistige Massage hervorgerufenen Lustigkeit zu unterscheiden. Ob ein Kind lacht, weil es tollt, oder ob es über einen einfachen, ihm bereits zugänglichen Witz lacht, kann man kaum auseinanderhalten.

Es sind in der höheren Entwicklung, in deren Verlauf die „Lustigkeit“ primitiverer Triebbefriedigung unterdrückt wird, vor allem soziale Vorgänge, die Lust und somit Lustigkeit hervorrufen. Zum Teil sind diese Lustempfindungen positiver Natur. Dann wurzelt das Lachen im Lächeln und ist ein Ausdruck angenehmer Sympathie-Empfindungen. Oder die Lust hat negativen Ursprung und ist Schadenfreude, Befriedigung über den eigenen Sozialstatus an Hand der Degradierung eines anderen. In dieser einfachen Konstellation wurzelt der überwiegende Teil allen Gelächters. Deshalb ist der Stotterer, der Lispler, der „Dumme Kerl“ lustig.

Was ist nun die Brücke zum eigentlichen Witz, zur rein geistigen Hervorrufung der Lustigkeit? — Die Definition der Lustigkeit als Lust infolge Befriedigung von Funktionaltrieben versagt auch hier nicht. Die Hauptfunktion der grauen Hirnsubstanz ist die Assoziationsbildung, ist das Weben des millionenfach verknüpften Netzes von Bahnungen und Hemmungen zwischen den Ganglien, wodurch die gleichzeitige Gegenwart von elektrochemischen Erregungszuständen in verschiedenen Teilen des Gesamtorgans Hirn bestimmt wird. Die Herstellung einer Assoziation ist an sich lustvoll, nur die ermüdende Wiederholung des Vorganges in monotoner Weise wird als Arbeit empfunden: In dieser Beziehung unterscheidet sich geistige Arbeit von geistigem Vergnügen in der gleichen Weise wie körperliche Arbeit vom Vergnügen bei der körperlichen Betätigung in Sport und Spiel. Auch hier spielen soziale Motive hinein: die Zweckgebundenheit einer Betätigung kann ihr von vornherein die Lustfärbung nehmen.

Der Witz ist nun nichts anderes als die Herstellung einer neuen, unerwarteten, verblüffenden Assoziation. Daraus erhellt sogleich, daß jedem geistigen Niveau ein Witzniveau entspricht. Der Zehnjährige kann sich darüber totlachen, daß der Räuber Ullala auf einer Tonleiter aus dem Brunnen klettert, weil ihm die Rückkopplung des Assoziationsvorganges bei der Bildung einer Metapher völlig überraschend kommt. Anderseits muß er schon imstande sein, diese Rückkopplung zu verstehen; ein Kind, das die übertragene Bedeutung von „Leiter“ als „Tonleiter“ noch nicht erfassen kann oder noch gar nicht weiß, was eine Leiter ist, könnte schwerlich darüber lachen. Der Mensch macht im Lauf seiner geistigen Entwicklung eine Entwicklung seiner Lustigkeits-Kapazität durch, wobei der Lustigkeits-Sinn unterentwickelt bleiben kann, obwohl auf geistigen Teilgebieten ein beachtliches Format entwickelt wird. Es gibt für jeden Menschen eine obere und untere Grenze der Lustigkeit. Ein „zu hoher“ Witz ergibt keine Assoziation und erscheint sinnlos, ein zu primitiver Witz rutscht durch längst ausgeschliffene Bahnen. Freilich ist es denkbar, daß auch unterhalb der unteren Grenze des Witzniveaus unerschlossene Assoziationsreservate erhalten bleiben. Die „Brotlosen Berufe“ dürften das Ergebnis einer erfolgreichen Tiefbohrung in eine an und für sich unter dem Niveau des FORVM-Lesers liegende Assoziationsschicht sein. Gerade das verleiht dem „Brotlosen Beruf“ seine Komik. Die sprachliche Reflexion schwingt als Oberton über dem eigentlichen Witzniveau mit. Die Fähigkeit zur lustvollen Empfindung einer Assoziations-Regression auf ein niedrigeres Niveau ist möglicherweise selbst ein Niveau-Kennzeichen. Auf einem Niveau, das nur knapp über dem der Wortspielerei mit doppelsinnigen Berufsbezeichnungen liegt, wird der „Damenschneider“ möglicherweise abgelehnt, weil das Gefühl vorherrscht: Na, über einen so dummen Witz bin ich doch erhaben ...

Die Auffassung der Lustigkeit als Befriedigung des Funktionaltriebes der Hirnrinde entspricht der speziellen FORVM-Theorie der „Brotlosen Berufe“. Der Grad der Entfremdung, also die Spannweite der Assoziationsbrücke, ist das Maß. Damit scheint aber die Unabhängigkeit der „Lustigkeit“ vom Entfremdungsgrad, die eindeutig festgestellt wurde, nicht geklärt. Die funktionelle Analyse zeigt nur eine Komponente des Witzsinnes. Die zweite ist eine dynamische: der Witz ist ein Spiel mit dem Tabu.

Solange ein Tabu voll besteht, ist in seinem Bereich keine Lustigkeit denkbar. Die Erörterung tabuierter Sachverhalte erzeugt Entsetzen, Abscheu und Angst. Wenn ein Tabu anderseits völlig beseitigt ist, wird die Beschäftigung mit ihm ebenfalls als unlustig empfunden. Die Lustigkeit einer sozialen Situation — wie übrigens deren literarische Verwertbarkeit im allgemeinen — liegt im Übergangszustand. Eine ganze Reihe von erotischen Witzen hat erst durch den Bruch der Sexualtabus aus dem Bereich des Pornographischen in den gesellschaftlich respektierten Witzbereich dringen können; anderseits hat die restlose Auflösung einzelner Sexualtabus ergiebige Witzthemen völlig entwertet.

Die jüngste Witzgruppe, die durch Tabu-Bruch „gesellschaftsfähig“ geworden ist, ist die der makabren und sadistischen Witze. Noch vor zehn Jahren wäre in einer unvorbereiteten Gesellschaft die Frage „Abgesehen von dem Zwischenfall, Mrs. Lincoln, wie hat Ihnen die Vorstellung gefallen?“ eher als abgeschmackt denn als witzig empfunden worden. Der Bruch des Todes-Tabus ist freilich — zumindest hierzulande — erst von der intellektuellen Oberschicht wahrgenommen worden. Die makabren Witze erzeugen im kleinbürgerlichen Milieu noch immer den gleichen Abscheu, der ihnen seinerzeit allgemein zugekommen wäre.

Kopfschützer

Wenn man der Sache auf den Grund geht, läßt sich allerdings die dynamische Witzwirkung auf eine funktionelle zurückführen. Zu guter Letzt sind ja Tabus nichts anderes als emotionell besetzte Assoziationen. Sie aufzubrechen oder neu zu bahnen ist demnach funktionell lustvoll soweit der Widerstand nicht so groß ist, daß Unlustgefühle erregt werden. Die Lustigkeit, die durch das Spiel mit einer emotionell besetzten Assoziation erzeugt wird, wird durch diese Emotionen kompliziert; sie wird dadurch gesteigert oder beeinträchtigt. Dies ist die Erklärung für den mangelnden Heiterkeitswert der „Raster“: weder ein Muster von aufeinander senkrecht stehenden Strichen noch ein paar Männer, die nichts tun, sind sozialpsychologisch relevant. Hingegen ist eben deshalb der „Kaiserwalzer“ besonders lustig. Ein Kaiser, längst nicht mehr tabu, darf heutzutage bereits breitgewalzt werden, aber er hat noch immer so viel Tabu-Reste an sich, daß dieser Frevel als lustvoll empfunden wird.

Überdies ist die Brotlosigkeit der „Brotlosen Berufe“ an sich sozialpsychologisch und somit witzdynamisch von Belang, weil wir in einer Zeit leben, in der das Utilitäts-Ideal des Frühkapitalismus und somit die Tabuierung des Nutzlosen, des Unproduktiven und Irrationalen, durch die „Organisierung der Faulheit“, wie ein deutscher Kritiker es genannt hat, angeknackt wird. Das zeigt sich beim „Zitronenfalter“, der eine besondere Herausforderung an das Postulat der sinnvollen Berufsausübung ist und solcherart das Zwerchfell weit über das Maß dessen erschüttert, was gemäß der Entfremdungs-Regel zu erwarten wäre.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1960
, Seite 453
Autor/inn/en:

Franz Kreuzer:

Chefredakteur der „Arbeiter-Zeitung“.

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