FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1961 » No. 86
Tamás Aczél • Tibor Méray

Zur Anatomie der neuen Klasse

Die beiden jungen ungarischen Intellektuellen Tamás Aczél und Tibor Méray gehörten zum engsten Freundeskreis Imre Nagys. Nach der Oktoberrevolution 1956 gelang ihnen die Flucht in den Westen. Hier schrieben sie ihren Erlebnisbericht „The Revolt of the Mind“, die erste authentische Genesis jener verblüffenden Umwälzung im kommunistischen Denken, deren Zeugen sie damals — selbst noch Kommunisten — gewesen sind. Das Werk erscheint demnächst in deutscher Sprache („Die Revolte des Intellekts“, Verlag Langen-Müller, München). Der nachstehende Text befaßt sich mit der „Neuen Klasse“ Ungarns zur Zeit der Herrschaft Rákosis. Da nach dem heroischen Zwischenspiel des Oktober 1956 die gleiche Klasse wiederum am Ruder ist, scheint uns der Bericht, trotz seiner Vergangenheitsform, von besonderem gegenwärtigem Interesse.

Die Mehrzahl der Generale und Minister, der Abgeordneten und Parteifunktionäre und Mitglieder der verschiedenen Parteikomitees war tatsächlich von bäuerlicher oder proletarischer Herkunft. Dieses neue Regime hatte ihnen Achtung und eine Stellung verschafft. Es hatte ihnen Villen, Autos und — wichtiger noch — Macht gegeben. Sie hatten nie vergessen, woher sie kamen, und sie waren stolz auf ihre Herkunft. Wenn es früher als Beleidigung galt, jemanden Bauer zu nennen, so war es heute ein Kompliment. Statt der neunzackigen Krone gravierten die Heraldiker die Namen von Arbeitervierteln auf die Schilde der neuen Aristokratie.

Natürlich waren nicht alle von bäuerlicher oder proletarischer Herkunft. Nicht alle konnten für sich in Anspruch nehmen, Söhne des „Volkes“ zu sein. Sie stammten von kleinbürgerlichen oder bestenfalls intellektuellen Eltern ab, und wegen dieser unverzeihlichen Herkunft war ihr Leben jämmerlich und unsicher. Obwohl sie die gleichen Rechte und Pflichten hatten wie jene Glücklichen, die zufällig in Proletarierwohnungen geboren worden waren, konnten sie sich nicht verheimlichen, daß das System die andern dennoch von ihnen absonderte. Ein Vater, der Geschäftsinhaber, Angestellter oder gar Anwalt (der Anwalt war der typische Diener der Bourgeoisie) war, bedeutete eine sehr unbequeme Bürde für seinen Sohn, und die Furcht, daß der tausendäugigen Partei doch nichts geheim blieb, veranlaßte ihn, den Vater sehr rasch zu vergessen. Nein, es war nicht ratsam, etwas vor der Partei zu verbergen. Sie kannten das Schicksal jener, die in einem Augenblick der Schwäche ihre Herkunft gefälscht und erklärt hatten, daß ihre Väter einfache Arbeiter gewesen seien, während sie in Wirklichkeit als Handwerksmeister vier Gesellen beschäftigt hatten. Die Partei anzulügen, war eine unverzeihliche Sünde und ein Fehler, der einen gemeinen Charakter offenbarte; und deshalb sagten sie wohl oder übel die Wahrheit und fanden sich mit den Folgen ab. Ihre Treue zur Partei, ihre disziplinierte proletarische Einstellung mußte genügen, um sie — trotz dieses Schandflecks in der amtlichen Personalakte — in den Augen der Partei denen gleichzustellen, die von der wahren Aristokratie, den Bauern und Arbeitern, abstammten.

Allmählich verschwanden dann die Unterschiede, und die Ähnlichkeiten traten in den Vordergrund. Denn auf seltsame Weise ähnelten einander diese Menschen — sowohl in ihrem Benehmen wie auch in ihrer Sprechweise (die sie in den Parteischulen lernten); sogar ihre Ausdrücke, ihre Aussprache und ihr Satzbau wurden stereotyp. „Ich will euch offen sagen“, begannen sie stets, ob sie nun Proletarier oder Kleinbürger waren. „Wir Arbeiter erwarten von unsern Schriftstellergenossen, daß sie unser Leben, unsere Probleme darstellen.“ Sie sprachen immer in der ersten Person Pluralis: es war „unser Leben“, „unsere Literatur“, „unsere Ansicht“. Genau genommen besaßen sie auch nur sehr selten eine eigene Ansicht. Sie sagten nur, was sie gehört oder gelernt hatten, wenn sie es auch so sagten, als sei die Idee eben in den komplizierten Windungen ihres eigenen Gehirns entstanden. „Wie ist die Lage?“ fragten sie fachmännisch, weil Genosse Stalin gewohnt war, seine Fragen so zu formulieren. Oder sie sagten: „Die Imperialisten behaupten, unser System sei nicht das System der Arbeiter, Bauern und Intellektuellen. Trifft das zu, Genossen? Nein. Es trifft nicht zu.“ Diese Wendung liebten sie. Sie entsprach ihrem Temperament und ihrer Denkfähigkeit. „Gewiß, ein einfacher Arbeiter wie ich weiß wenig über Literatur ...“, begannen sie gern, weil das einmal die Tatsache betonte, daß sie Arbeiter waren, und zum andern ihre Einfachheit und Gewöhnlichkeit. Sie sagten es ein wenig ironisch, weil sie nur zu gut wußten, daß sie keineswegs waren wie alle andern. Im Gegenteil, sie allein waren auf Grund ihrer Herkunft und ihrer Stellung dazu berufen, die Ordnung und Entwicklung aller Dinge zu beurteilen. Doch der gute Ton und der ungeschriebene Gesellschaftskodex verlangten, daß sie auf diese Weise redeten, ganz besonders, weil sie im zweiten Teil des Satzes fortfuhren: „... doch ich muß euch offen sagen, daß das, was unsere Schriftstellergenossen heutzutage produzieren, alles andere als sozialistischer Realismus ist. Die Genossen vergessen die Partei ... die Partei!“ Diese Formel machte es völlig klar; daß der einfache Arbeiter sehr viel mehr von Literatur verstand als der gebildete Autor — daß er viel besser wußte, was der Schriftsteller viel schöner ausdrücken könnte, daß das Herz des Schriftstellers immer noch von kleinbürgerlichen Vorstellungen gequält wurde und daß der Schriftsteller selbst noch keineswegs eins mit der Partei war. „Und ist das so, wie es sein sollte, Genossen?“ pflegten sie dann fortzufahren. „Nein, das ist es nicht ...“

Nur wer im Wohlstand lebt ...

Diese Einstellung war bei Arbeitern und Kleinbürgern gleich. Allmählich vergaßen sie den Beruf, den sie gelernt hatten. Sie vergaßen Kindheit, Jugend und die schwere Arbeit in der Fabrik oder auf dem Acker. Sie waren von den gleichen neuen Träumen, den gleichen neuen Ängsten erfüllt. Sie hatten sich alle an den Wohlstand gewöhnt und fürchteten im Innersten dauernd, daß sie, falls sie einen Fehler in Wort oder Tat begingen, zurück an die Drehbank oder den Pflug getrieben werden könnten, um gemeinsam mit denen zu schuften, die heute für sie nur in nebelhafter Ferne existierten. Und obwohl sie ihre Banalitäten („Wir haben es leicht“, sagten sie, „wir können jederzeit in die Fabrik zurückgehen und unsern Lebensunterhalt wie tausend andere anständig verdienen!“) oft und geläufig wiederholten, fürchteten sie doch nichts so sehr, als wieder leben zu müssen wie die Tausende von Schwerarbeitenden.

Es wäre wirklich seltsam gewesen, diese Lebensweise wieder mit jener andern zu vertauschen. Morgens wurden sie im Auto abgeholt und ins Büro gefahren. Es war ein bequemes Auto mit Vorhängen. Der Chauffeur — wenn sie ihn auch „Genosse“ anredeten und ihn auf Überlandfahrten an ihren Tisch im Gasthaus luden — öffnete weit den Schlag. Sie stiegen ein, die „Szabad Nép“ in der Hand, um den Leitartikel zu lesen, ehe sie ins Büro kamen. Sie waren verpflichtet, zu wissen, was das offizielle Blatt schrieb. Außerdem konnte ja etwas Interessantes darinstehen — irgendein Angriff gegen ihre Person, gegen das Amt, in dem sie arbeiteten, gegen ihre Parteiorganisation oder vielleicht sogar ein Lob. „Nun, was gibt es Neues, Genosse Kis?“ fragten sie den Fahrer, nicht weil sie eine Antwort erwarteten, sondern aus Gewohnheit oder Pflichtgefühl, weil von ihnen erwartet wurde, daß sie den Fahrer als Menschen behandelten, und weil er der gleichen Partei angehörte und auf Parteiversammlungen die gleichen Rechte hatte wie sie.

Dann vergruben sie sich in die Zeitung, und das Auto ließ die bescheidene Vier- bis Fünfzimmervilla hinter sich, die die Partei für sie beschlagnahmt hatte. Früher hatte die Villa einem nun deportierten oder geflohenen „fremdklassigen Element“ gehört, und sie war zumeist reich und geschmackvoll möbliert. Die Villa machte ihnen wenig Sorge. Sie bezahlten keine Miete — oder fast keine Miete. Die Partei wünschte, daß ihre besten Funktionäre die sehr knappe Freizeit nach der schweren Tagesarbeit in einer idealen Umgebung genossen. Ihre Ehefrauen arbeiteten gewöhnlich ebenfalls in der Partei oder in irgendeiner Massenorganisation, und diese Frauen waren die loyalen Partner ihrer Ehemänner und ergebene Dienerinnen der Partei; deshalb hatten die Frauen keine Zeit, sich um die Wohnung zu kümmern oder sich viel Sorgen um die Kinder zu machen. Dazu stellten sie Dienstboten ein, deren Lebenslauf sorgfältig von der Staatssicherheitsorganisation geprüft worden war.

Das junge Bauernmädchen, das von der AVO geprüft worden war, fand sich sehr bald in das häusliche Leben. Morgens, wenn der Genosse und seine Frau in ihre Büros gefahren waren, wartete sie darauf, daß der Wagen zurückkam, um die Kinder abzuholen. Die älteren wurden in jene exklusive Schule gebracht, die für die Söhne und Töchter der Parteifunktionäre eingerichtet worden war, die Gorki-Schule, an der alle Lehrkräfte Sowjetbürger waren, die Kinder eher Russisch als Ungarisch lernten und mehr über russische Geschichte als über die des eigenen Landes erfuhren. Ihre Väter und Mütter waren darauf besonders stolz, und wenn sowjetische Genossen kamen, wurden die Kinder geholt, um sich mit den erlauchten Gästen zu unterhalten. Außer für Kinder der höchsten Funktionäre war es nahezu ausgeschlossen, Aufnahme in die Gorki-Schule zu finden. Und natürlich erschien es auch den Kindern ganz selbstverständlich, miteinander zu wetteifern — wo nicht in den Leistungen, so doch in der Größe des elterlichen Wagens.

Wenn die älteren Kinder zur Schule gefahren waren, brachte das junge Dienstmädchen das kleine Kind an die Ecke der Pasáret-Avenue und Aron-Gábor-Allee, wo pünktlich 8 Uhr 45 der Sonderautobus zum Rákosi-Kindergarten hielt. Wenn der Bus fort war, stieg das Dienstmädchen in den Wagen, setzte sich neben den Chauffeur und fuhr zu dem Lebensmittel-Magazin in der Fo-Straße. Während überall in der Stadt die Hausfrauen stundenlang um ein bißchen Fleisch oder Butter Schlange stehen mußten (und oft genug nach Haus gingen, ohne überhaupt etwas zu erhalten), war in diesem Magazin alles zu haben und um 30 bis 40 Prozent billiger als in allen andern Geschäften. Hier gab es Apfelsinen, Datteln und Bananen — Waren, die man in der Stadt seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Nachdem die Hausgehilfin die Einkäufe beendet hatte, stieg sie wieder in den Wagen und fuhr zur Villa zurück. Nachdem sie eine Minute mit dem Posten der Staatssicherheitsorganisation vor dem Tor geflirtet hatte, machte sie sich an die tägliche Arbeit. Sie brauchte sich nicht zu fürchten. Der Posten stand immer da. Die Partei wachte sorgfältig über ihre treuen Funktionäre. Doch der Funktionär selbst wußte nie ganz genau, ob der Posten zu seinem Schutz dastand oder um ihn zu bespitzeln.

Sobald ein höherer Parteifunktionär das Haus verließ, folgte ihm ein verdrossener Staatssicherheitsbeamter, der keine andere Aufgabe hatte, als über die körperliche und geistige Sicherheit seines Schutzbefohlenen zu wachen und täglich einen Bericht über die Wege des Funktionärs bei seinen Vorgesetzten einzureichen. Wie Spinnen waren die Funktionäre an ihre eigenen Fäden gefesselt. Nie konnten sie unbemerkt ihre Freunde besuchen oder unbewacht einen Spaziergang machen. Selbst der Fahrer, der sie zum Büro und wieder nach Haus fuhr, war Beamter der AVO und mußte über jede Sekunde Rechenschaft ablegen.

Natürlich kümmerte sich die Partei auch darum, daß ihre leitenden Funktionäre den Sommerurlaub ruhig und recht behaglich verbrachten.

Die Rangordnung der Gleichen

Wie auf jedem andern Gebiet zeigte sich auch hier die „sozialistische Hierarchie“. Die Partei war unbedingt gegen jede „Gleichmacherei“ — dieses kleinbürgerliche Überbleibsel. Nur eingefleischt bürgerliche Träumer hätten sich vorgestellt, daß — sagen wir — Mihály Farkas in dem gleichen Wasser des Balaton-Sees badete, das auch die Leiber einfacher Bezirksratsvorsitzender umspülte, von gewöhnlichen Sterblichen ganz zu schweigen. Denn das gefürchtete und geehrte „Viergespann“, das die Geschicke des Landes lenkte — Rákosi, Gerö, Révai, Farkas —, stand an der Spitze der Privilegiertenliste.

Danach kamen die Mitglieder des Politischen Komitees.

Dann die Mitglieder des Zentralkomitees.

Dann die Minister.

Und die stellvertretenden Minister.

Und so weiter, die ganze Liste hinunter.

Es war ganz offensichtlich, daß die Mitglieder des Politischen Komitees größere Vorrechte genossen als die des Zentralkomitees. So wurden ihre täglichen Bedürfnisse aus den Geheimspeisekammern bestritten, ohne daß sie etwas dafür zu bezahlen brauchten. Im Jahr 1950 wurde auf Gerös Initiative das sogenannte „offene laufende Konto“ für die Mitglieder des Politischen Komitees eingeführt. Danach konnten diese führenden Staatsmänner von den auf ihre Namen eröffneten Konten abheben, wann und wieviel sie wollten — und brauchten darüber der Partei keinerlei Rechenschaft abzulegen. Ein Mitglied des Politischen Komitees zahlte keine Miete. Die Kosten seiner Kleidung trug die Partei. Die Partei bestellte für ihn die Kohlen und lieferte sie ihm ins Haus. Das Dienstmädchen, der Gärtner und die Chauffeure (jeder hatte zwei, die sich gegenseitig ablösten) wurden von der Partei entlohnt. Ebenso war es mit allen Ausgaben für seine Familie. Es war kein sozialistisches System, in dem sie lebten, es war vielmehr bereits eine perfektionierte Kommune, wo das Geld, wie Marx, Engels, Lenin und Stalin uns lehren, seinen Sinn verliert und jeder an den verfügbaren Gütern nach seinen Bedürfnissen und Wünschen teilhat.

So war es nur natürlich, daß sie auch einen besonderen Urlaubsort hatten, wo sie nicht gezwungen waren, sich mit Leuten zu mischen, die in der gesellschaftlichen und Partei-Hierarchie unter ihnen standen. Ihr Kurort Balatonaliga war von Stacheldraht eingezäunt und von bewaffneten Gardisten der Staatssicherheitsorganisation bewacht.

Der Ort selbst war nicht ungewöhnlich. Er war nicht viel besser als ein Urlaubsplatz westlicher Millionäre. Es standen einige behagliche Villen da, die auf Staatskosten erbaut worden waren; darin wohnten die Mitglieder des Politischen Komitees. Jede Villa besaß eigene Dienstboten, die das Haus in Ordnung hielten und für die Mahlzeiten sorgten. Die Dienstboten wurden natürlich mit „Genosse“ und „Genossin“ angeredet. Der eigens ausgebaute Strand besaß eine Mole für kleine Jachten, Segelboote und Ruderkähne. Ein verstärkter Stacheldraht lief am ganzen Strand entlang und an beiden Seiten bis tief ins Wasser hinein. Ein wachsamer Posten des Staatssicherheitsdienstes achtete dauernd auf verdächtige Erscheinungen.

Die Mitglieder des Zentralkomitees besuchten Balatonoszód.

Die Mitarbeiter des Parteiapparats Balatonlelle.

Den hohen Partei- und Staatsbeamten standen natürlich auch noch andere Mittel der Unterhaltung zur Verfügung. Eines der beliebtesten war die Jagd. Dieser aristokratische Zeitvertreib war im aristokratischen Ungarn außerhalb der Möglichkeiten armer Leute gelegen. In der Volksdemokratie wurde das natürlich geändert. Minister und Generale, Söhne von Arbeitern und Bauern, jagten in Gebieten, die außer den wenigen Bevorzugten nur die Treiber betreten durften — häufig genug die gleichen Treiber, die in der Vergangenheit den Grafen und Baronen gedient hatten, da das sozialistische System immer großen Wert auf Fachleute legte.

Es war nicht mehr als recht und billig, daß die Freizeit dieser sehr beschäftigten Leute so entspannend und behaglich wie möglich gestaltet wurde. Wer hätte darüber murren wollen? Nur ihre Ehefrauen wurden bisweilen unzufrieden und beklagten sich bei ihren Männern, daß der Bewohner der Nachbarvilla einen nagelneuen Mercedes habe, während sie selbst sich noch mit einem schäbigen Pobeda begnügen müßten. Bei solchen Gelegenheiten taten die Ehemänner ihr Bestes, ihre Frauen zu beruhigen — Frauen, die wie sie selber in den Straßen der Arbeiterviertel aufgewachsen waren. Doch früher oder später wurden sie von der Ungeduld ihrer Frauen angesteckt und ruhten nicht bis auch sie ihren nagelneuen Mercedes hatten.

Die Führer wurden fett und rosig. Die tiefen Furchen, die sich während der Kämpfe der frühen Jahre in ihre Gesichter eingegraben hatten, füllten sich nun aus und verschwanden. Es waren nicht mehr die gleichen Männer. Als sie das alte Arbeitermilieu hinter sich ließen, gaben sie auch ihre alten Freunde und Bekannten auf. Sie rasierten sich jeden Morgen und zogen jeden Tag ein frisches Hemd aus feinstem Seidenpopelin an (Nylon wurde als imperialistische Extravaganz betrachtet). Sie vergaßen, daß man von einem Ort zum andern auch auf andere Weise als im Auto gelangen oder daß man seinen Urlaub auch anderswo als in einer Privatvilla verbringen konnte.

Die konservativen Revolutionäre

Auf diese Weise verwandelten sich die mutigen und ehrgeizigen Revolutionäre der Vergangenheit in ausgeglichene, früh gereifte und bedächtige kluge Kleinbürger, spießiger als die alten Spießer. Sie hatten keine Leidenschaften, weil sie innerlich vertrocknet waren. Sie hatten keine Gefühle, die verachteten sie — ganz besonders die Liebe, die sie als ein parteifeindliches Sentiment betrachteten.

Die Parteifunktionäre wurden zu heuchlerischen Konservativen, die kein Interesse an Neuem hatten und sich begnügten, den Status quo aufrechtzuerhalten. Sie predigten gegen schlechte Führung, weil sie das Ansehen der Partei schädigte. Sie verurteilten Treulosigkeit und Korruption. Und sie kämpften mit Feuer und Schwert gegen jedes Günstlingswesen — was sie jedoch nicht davon abhielt, ihren Vettern, Schwiegervätern oder guten Freunden die größten Vorrechte zuzuschanzen oder neue, überflüssige und erstaunlich gut bezahlte Posten für sie zu schaffen.

Diese große Familie der höchsten Parteifunktionäre lebte als exklusive und isolierte Kaste: sie heirateten untereinander; sie pflegten nur untereinander gesellschaftlichen Umgang; und sie kümmerten sich überhaupt nicht um die Masse, die tief unter ihnen schuftete und litt — die Masse, in deren Namen sie planten und neu planten, fluchten oder segneten und einander ernannten oder hinrichteten.

Die einst einfachen — und überwiegend rechtschaffenen — Männer hatten sich in eitle, hochmütige Führer verwandelt, die alle außerhalb ihres eigenen Kreises verachteten, aber so große Macht besaßen, daß ein Lächeln oder Stirnrunzeln von ihnen über das Schicksal von Zehntausenden entscheiden konnte. Ihr Leben, ihre Seele, ihre innersten Gefühle waren in der Teufelsmühle verschrottet worden. Sie dachten nicht mehr nach, sie gehorchten nur. Sie gehorchten und führten Befehle aus.

Sie lebten in einer luftdicht abgeschlossenen, isolierten Welt, in einer blitzenden Glaskugel, in die kein Laut von außen eindringen konnte. Sie lebten nach ihren eigenen Regeln, und sie beantworteten sich ihre Fragen auf eine Art, wie es ihnen paßte. Das Leben war eine endlose Folge von Siegen, und sie waren die Sieger.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1961
, Seite 53
Autor/inn/en:

Tamás Aczél:

Tibor Méray:

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