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Wir wählen unseren Direktor

Solidarnosc zur Arbeiterselbstverwaltung

Polens Arbeiter wollen die volle Souveränität in den Betrieben übernehmen. Die Partei duckt sich, und Moskau speit Feuer. Der revolutionäre Text eines Solidarnosc-Gesetzentwurfs über Arbeiterselbstverwaltung wird hier dokumentiert. [1] Erstmals auf der Welt soll der Syndikalismus im vollen Sinn des Wortes ausprobiert werden: der Direktor untersteht den Arbeitern, sie üben das volle Eigentumsrecht über den Betrieb aus.

Gesetzentwurf über vergesellschaftete Unternehmungen

Allgemeines

§ 1. Das vergesellschaftete Unternehmen ist Grundelement der Volkswirtschaft, es handelt selbständig nach dem Grundsatz wirtschaftlicher Rentabilität. Als juristische Person umfaßt es die organisierte Belegschaft, die durch die Organe der Arbeiterselbstverwaltung über einen Teil des Volkseigentums verfügt.

§ 2 Absatz 1. Das vergesellschaftete Unternehmen übt seine wirtschaftliche Tätigkeit zur Erreichung wirtschaftlicher und sozialer Ziele aus, unter rationeller Nutzung der Mittel.

Absatz 2. Das vergesellschaftete Unternehmen sorgt für eine verantwortungsvolle Haltung der Belegschaft zur Arbeitspflicht und den Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Gründung von Unternehmen

§ 3 Absatz 1. Überregionale Unternehmen werden von Ministerien oder anderen Organen der Zentralverwaltung gegründet, regionale Unternehmen durch die Organe der Ortsverwaltung.

Absatz 2. Organe der Ortsverwaltung können aufgrund von Beschlüssen der zuständigen Volksräte gemeinsame Unternehmen gründen.

Absatz 3. Entsteht ein Unternehmen nicht aus dem Plan eines zuständigen Organs (Sejm, Volksrat), so bedarf es der Zustimmung dieses Organs.

Absatz 4. Im Gründungsakt werden Namen, Sitz und Tätigkeitsbereich des Unternehmens festgelegt.

§ 4 Absatz 1. Das Gründungsorgan beruft eine Vorbereitungsgruppe ein, die sich aus Vertretern des Finanzministeriums, der Staatsbank, des Wojwodschaftsvolksrats, des Zuständigen Fachministeriums, der Gewerkschaften, der Umweltschutzbehörde, der Wissenschaftervereinigung und Experten zusammensetzt.

Absatz 2. Aufgabe der Vorbereitungsgruppe ist die Vorlage eines Gutachtens über die Zweckmäßigkeit der Unternehmungsgründung.

§ 5 Absatz 1. Das Gründungsorgan überträgt dem Unternehmen einen Teil des Volkseigentums.

Absatz 2. Ausschließlich verfügungsberechtigt über das Vermögen des Unternehmens ist die Belegschaft, die durch ihre Selbstverwaltungsorgane agiert.

§ 6 Absatz 1. Das Unternehmen wird als juridische Person ins Gerichtsregister eingetragen (...).

§ 7 Absatz 1. Das Unternehmen kann sich mit einer ausländischen juridischen Person zusammenschließen.

Absatz 2. Verfahren und Prinzipien solcher Zusammenschlüsse sind in einem eigenen Gesetz zu regeln.

§ 8 Absatz 1. Die vergesellschafteten Unternehmen können Zusammenschlüsse eingehen oder lösen nach Urabstimmung der betroffenen Belegschaften.

Absatz 2. Die Zusammenschlüsse dürfen nicht zu einem Monopol führen.

Statut der Unternehmen

§ 9 Absatz 1. Das Statut wird von der Belegschaft in einer Urabstimmung beschlossen.

Absatz 2. Das Statut muß sich innerhalb der Gesetze halten.

Absatz 3. Das Statut unterliegt der Registrierungspflicht gemäß § 6.

Grundsätze der Verwaltung

§ 10 Absatz 1. Die Belegschaft leitet das Unternehmen durch ihre Seltbstverwaltungsorgane.

Absatz 2. Die Arbeiterselbstverwaltung umfaßt alle Mitarbeiter des Unternehmens.

Absatz 3. Alle Selbstverwaltungsorgane außer der Vollversammlung werden gewählt. Die Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane sind ihren Wählern verantwortlich und können nur von ihnen abberufen werden.

Absatz 4. Die höchste Form der Willensbildung der Selbstverwaltung ist die Urabstimmung der Belegschaft. Sie wird durch Beschluß des Arbeiterrats oder auf Antrag von mindestens zehn Prozent der Belegschaft einberufen.

Absatz 5. Die Selbstverwaltung verfügt über das Vermögen des Unternehmens und über die Verteilung des Gewinns.

Absatz 6. Die zuständigen Selbstverwaltungsorgane können Vereinbarungen und Verträge mit den Volksvertretungsorganen und der staatlichen Verwaltung schließen.

Absatz 7. Der Direktor des Unternehmens führt die Beschlüsse der Selbstverwaltung aus und übt die tägliche Leitung des Unternehmens im Sinne verantwortlicher Führung aus.

Organe des Unternehmens

§ 11. Die Organe des Unternehmens sind

  1. die Vollversammlung der Belegschaft bzw. der Delegierten;
  2. der Arbeiterrat;
  3. das Präsidium des Arbeiterrats;
  4. die Hilfsorgane der Selbstverwaltung;
  5. der Direktor.

Vollversammlung

§ 12 Absatz 1. Die Kompetenzen der Vollversammlung sind

  1. die jährliche Bewertung der Tätigkeit des Arbeiterrats und des Direktors;
  2. die Revision von Beschlüssen des Arbeiterrats in begründeten Fällen.

Absatz 2. In Unternehmen mit mehr als 200 Mitarbeitern kann die Vollversammlung durch Delegierte verwirklicht werden.

Absatz 3. Die Delegiertenwahlordnung wird durch Urabstimmung der Belegschaft beschlossen.

§ 13 Absatz 1. Die Vollversammlung wird vom Präsidium des Arbeiterrats einberufen.

Absatz 2. Das Präsidium hat die Vollversammlung einzuberufen, wenn der Antrag unterstützt ist von

  1. einem Zehntel der Belegschaft;
  2. von der Betriebsgewerkschaftskommission;
  3. vom Arbeiterrat.

§ 14 (...) Absatz 2. Die Beschlüsse der Vollversammlung sind — im Rahmen ihrer Kompetenzen — für den Arbeiterrat, für das Präsidium, für den Direktor und für alle Mitarbeiter verbindlich.

§ 15. Entscheidungen über Zusammenlegung, Teilung oder Auflösung von Betrieben werden durch Urabstimmung der Belegschaft gefällt.

Arbeiterrat

§ 16 Absatz 1. Die Wahlordnung bestimmt, wieviel Mitglieder der Arbeiterrat hat.

Absatz 2. Die Wahl ist allgemein, gleich, direkt und geheim.

Absatz 3. Die Wahlperiode des Arbeiterrats ist vier Jahre.

Absatz 4. Jeder Mitarbeiter des Unternehmens hat das aktive Wahlrecht.

Absatz 5. Wer mindestens zwei Jahre im Unternehmen tätig ist, hat das passive Wahlrecht. Ausnahmen bei neugegründeten Unternehmen.

Absatz 6. Ausgeschlossen vom passiven Wahlrecht zum Arbeiterrat sind der Direktor, seine Stellvertreter, der Hauptbuchhalter und der Justiziar. Leiter von Teilbetrieben und Filialen sowie ihre Stellvertreter haben kein passives Wahlrecht in ihren Bereichen.

Absatz 7. Die Mitglieder des Arbeiterrats dürfen keine Leitungsfunktionen in gesellschaftlichen und politischen Organisationen ausüben.

§ 17. Mitglied eines Arbeiterrats kann man nur in zwei aufeinanderfolgenden Perioden sein (...).

§ 19. Die Kompetenzen des Arbeiterrats sind

  1. Grundsatzbeschlüsse über die wirtschaftliche Tätigkeit und Entwicklung des Unternehmens;
  2. Beschlußfassung über die Wirtschaftspläne für das Unternehmen;
  3. Beschlüsse über die Organisationsstruktur des Unternehmens;
  4. Beschluß über die Verteilung des Gewinns;
  5. Ernennung und Abberufung des Direktors;
  6. Stellungnahme zu den Ernennungen der stellvertretenden Direktoren und des Hauptbuchhalters;
  7. Änderung des Produktionsprogramms bzw. der Dienstleistung;
  8. Annahme oder Ablehnung der Jahresbilanz, der Effektivrechnung sowie des Rechenschaftsberichts des Direktors;
  9. Abschluß von Wirtschaftsabkommen und Kooperationsverträgen mit anderen Unternehmen;
  10. Abschluß von Vereinbarungen mit Organen der Volksvertretung und staatlichen Verwaltung über Zusammenarbeit;
  11. Kaderpolitik;
  12. Festlegung der Arbeitsordnung;
  13. Kontrolle der gesamten Tätigkeit des Unternehmens;
  14. Wahl des Vorsitzenden und des Präsidiums des Arbeiterrats;
  15. Beschlüsse über Erwerb und Verkauf sowie Belehnung von Bauten und Grundstücken;
  16. Beschlüsse über soziale und kulturelle Belange der Belegschaft
  17. Beschlüsse über Ein- und Ausfuhrverträge des Unternehmens;
  18. Bestätigung der Anträge über Ordensverleihungen;
  19. Verfügung über die betrieblichen Kommunikationsmedien.

§ 20. Der Arbeiterrat kann vom Direktor und den Mitarbeitern beliebig Rechenschaft, Informationen und Klärungen verlangen. Er kann den Vermögensstand des Unternehmens prüfen. Wo Fachkompetenz erforderlich wird, können Experten beigezogen werden (...).

Präsidium des Arbeiterrats

§ 29. Das Präsidium des Arbeiterrats leitet dessen Arbeiten und ist sein ausführendes Organ.

§ 30. Das Präsidium besteht aus dem Vorsitzenden, seinen Stellvertretern, dem Sekretär und den Präsidiumsmitgliedern.

§ 31. Das Präsidium ist zuständig für

  1. Formulierung der Beschlüsse des Arbeiterrats;
  2. Kontrolle der Ausführung der Beschlüsse des Arbeiterrats;
  3. Einberufung der Sitzungen des Arbeiterrats;
  4. Organisierung von Arbeitsausschüssen;
  5. Prüfung von Meldungen über den finanziellen und technischen Stand des Unternehmens, vorgelegt vom Direktor, dem Arbeiterrat oder der Belegschaft;
  6. Kontrolle der Organe der Selbstverwaltung wie Abteilungsräte, Betriebsräte, Gruppenräte, Fabrikräte, Filialräte;
  7. Ausführung weiterer vom Arbeiterrat gestellter Aufgaben.
Zensur für Zeichner
Der populäre polnische Karikaturist Wojakiewiez hat hier ein Beispiel für das Wirken des Zensuramts Gunkkpiw auf dem Gebiete der Graphik rekonstruiert: das linke [hier: obere] Bild zeigt die Originalkarikatur, das rechte [hier: untere] die in der Wochenzeitung Razem gedruckte Version. (Brückenbauingenieur Wojakiewicz emigrierte im Sommer 1981 nach Zwischenaufenthalt in Österreich in die USA.)

Organe der Selbstverwaltung

§ 32. In Unternehmen mit mehreren Betrieben sind in den Teilbetrieben, Abteilungen, Filialen Hilfsorgane der Selbstverwaltung zu schaffen (...).

Direktor

§ 36. Der Direktor führt die Beschlüsse der Selbstverwaltung aus.

§ 37. Der Direktor hat die tägliche Leitung des Unternehmens, er organisiert die Arbeit der Belegschaft selbständig, er vertritt das Unternehmen nach außen und führt dessen Rechtsgeschäfte.

§ 38. In die Kompetenzen des Direktors fallen alle Entscheidungen, die nicht zur Kompetenz der Selbstverwaltung gehören (...).

§ 40. Vor Beschlüssen der Selbstverwaltungsorgane hat der Direktor eine schriftliche Stellungnahme über deren wirtschaftliche, soziale und rechtliche Folgen abzugeben.

§ 41. Der Direktor hat gegen rechtswidrige Beschlüsse der Selbstverwaltung Einspruch zu erheben. Der Einspruch hebt die Beschlüsse auf.

§ 42 Absatz 1. Der Direktor wird vom Arbeiterrat nach öffentlicher Ausschreibung gewählt.

Absatz 2. Der Direktor kann durch Urabstimmung der Belegschaft abberufen werden.

Absatz 3. Der Arbeiterrat legt die Funktionsperiode des Direktors im Arbeitsvertrag fest.

Absatz 4. Der Arbeiterrat beruft den Direktor ab, wenn dessen Rechenschaftsbericht abgelehnt wird.

§ 43. Der Direktor ernennt seine Stellvertreter und den Hauptbuchhalter, nachdem der Arbeiterrat seine Stellungnahme abgegeben hat (...).

Konflikte zwischen Selbstverwaltung und Direktor

§ 46 Absatz 1. Für Streitfragen zwischen den Organen der Selbstverwaltung und dem Direktor wird ein Schiedsausschuß eingerichtet.

Absatz 2. Tritt der Schiedsausschuß nicht zusammen oder scheitert er bei seinen Bemühungen, kann jede der beiden Parteien ein ordentliches Gericht anrufen.

Vermögen des Unternehmens

§ 47. Das Unternehmen hat alle Rechte auf die ihm übertragenen Vermögen.

§ 48. Das Unternehmen haftet zivilrechtlich für seine Verpflichtungen (...).

§ 51. Die finanziellen Verpflichtungen des Unternehmens gegenüber Staats- und Lokalbudgets werden durch Steuergesetze geregelt.

Staatliche Aufsicht

§ 52 Absatz 1. Der Staat nimmt Einfluß auf das Unternehmen durch Rechtsvorschriften, Steuern, Zölle, Kredite ...

Absatz 2. Preise, die nicht der staatlichen Regelung unterliegen, werden vom Unternehmen festgesetzt.

§ 53. Staatliche Organe können in die inneren Angelegenheiten eines Unternehmens nur im Rahmen der gesetzlichen Befugnisse eingreifen.

§ 54. Die Betriebe werden von den staatlichen Kontrollorganen kontrolliert.

§ 55. Das Unternehmen hat binnen sieben Tagen nach Zustellung das Recht auf Einspruch gegen die Entscheidungen der staatlichen Kontrollorgane. Der Einspruch hebt die Entscheidung auf.

§ 56. Streitfragen zwischen staatlichen Organen und dem Unternehmen werden gerichtlich entschieden.

§ 57 Absatz 1. Erleidet das Unternehmen durch die Entscheidung der staatlichen Aufsichtsorgane einen Schaden, steht ihm eine zivilrechtliche Entschädigung zu.

Absatz 2. Über Entschädigungsklagen entscheidet das Gericht.

Unternehmen und Gewerkschaften

§ 58. Beschlüsse der Selbstverwaltung oder des Direktors, die in den Bereich der Gewerkschaften eingreifen, bedürfen deren Stellungnahme im voraus.

[1Die Wiedergabe nach dem Abdruck in Zycie Warszawy am 9. Juli 1981 ist vollständig, bis auf einige Wiederholungen, die durch drei Punkte gekennzeichnet sind. Wichtige Bestimmungen haben wir fett gedruckt. Die juridische Terminologie wurde der bei uns gebräuchlichen angeglichen, die polnische Bezeichnung „Artikel“ wurde durch den bei uns üblichen § ersetzt; dessen Untergliederung haben wir mit „Absatz“ bezeichnet (in Polen: §). Anm. d. Red.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
1981
, Seite 46
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