FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 129
Hans Strotzka

Wien hat viel vergessen

Im Zusammenhang mit Ihrer Frage drängt sich die Erinnerung an drei Gesprächsstereotypen auf, die beim zuhörenden Psychiater das gleiche Gefühl milder Verzweiflung auslösen.

Erstens; am häufigsten in Österreich und Deutschland: „Ach, Sie sind Psychoanalytiker! Freud ist ja doch schon völlig überholt, nicht?“ Es ist eine rhetorische Frage, bei der sich die Gesprächspartner auf der Höhe der geistigen Entwicklung ihrer Zeit fühlen. Oft wird hinzugefügt, daß die Psychoanalyse ja nur in der längst verstaubten Großväterwelt mit seiner auf lächerliche Weise verdrängten Sexualität entstehen konnte.

Zweitens; im Ausland: „Ach, Sie sind Psychoanalytiker und leben in Wien, der Stadt Freuds! Wie beneide ich Sie!“ Dieses Gesprächsstereotyp wird allerdings mit zunehmender internationaler Kenntnis der Wiener wissenschaftlichen Szenerie immer seltener.

Drittens; gleichfalls im Ausland: „Ach, Sie sind Psychoanalytiker in Wien! Sagen Sie, wie ist es möglich, daß dort Freud so ganz vergessen werden konnte?“ Dieses Gesprächsstereotyp wird mit zunehmender internationaler Kenntnis der Wiener Situation immer häufiger.

Freud bestimmt weitgehend die Psychiatrie der westlichen Welt. Aber auch Literatur und Kunst sowie Wissenschaft, soweit sie soziale und psychologische Probleme berührt, sind ohne Freud nicht mehr denkbar. Im Osten beginnt eine Freud-Renaissance bei jungen Psychiatern und Psychologen, welche die Bedürfnisse der Patienten unmittelbar spüren; dies ist in den letzten Jahren aus inoffiziellen Gesprächen sehr deutlich geworden. Fast nur noch Wien liegt im Dämmerschlaf eines durch Selbstreflexion ungestörten Provinzialismus. Soweit hier Freud überhaupt zur Diskussion steht, wird bestenfalls nicht mehr der „Pansexualismus“ gegen die Psychoanalyse vorgebracht, sondern die angeblich fehlende Wissenschaftlichkeit.

Woher dieses Phänomen des Widerstandes in Wien und in weiten Teilen des deutschen Sprachgebietes? Freud selbst hat betont, daß die Entdeckung der Rolle des Unbewußten, des psychischen Determinismus und der frühkindlichen Sexualität eine schwere narzißtische Kränkung in der Größenordnung der Entdeckungen des Kopernikus und Darwins darstellt. Dort, wo sich diese Entwicklung unmittelbar im Kampf gegen besonders kräftige entgegenstehende Traditionen abspielte, mag daher der Widerstand stärker gewesen sein als in anderen Ländern, von denen die Freud’sche Entdeckung erst aus einer gewissen Distanz übernommen wurde.

Heilsame Isolierung

Dazu kommt ohne Zweifel, daß die Ablehnung durch Universität und Öffentlichkeit die Psychoanalytiker ihrerseits in eine Außenseiterposition gedrängt hat, was zu einem starken inneren Gruppenzusammenhalt mit immer strengeren Aufnahmebedingungen und zu beträchtlicher Isolierung von der Außenwelt führte.

Diese Isolierung ist allerdings auch aus einem anderen Grunde verständlich. Man konnte bereits sehr früh sehen, daß der Psychoanalyse nichts heftiger schadet als ihre Popularisierung, Vulgarisierung und Simplifizierung durch unberufene Kreise. Obwohl sich die Vulgarisierung natürlich nicht verhindern ließ, hat die strenge Abschließung doch den Vorteil mit sich gebracht, daß in der Internationalen Vereinigung für Psychoanalyse die Freud’sche Tradition in ihrer reinen Form vermittelt werden konnte. Auch die Gefahr der Scharlatanerie, die bei keiner anderen therapeutischen Disziplin so groß ist, konnte dadurch wenigstens einigermaßen eingedämmt werden.

Alle von der Psychoanalyse abzweigenden Schulen, wie jene von Jung, Adler, Schultz-Hencke, Horney, Fromm, Binswanger, um nur die wichtigsten zu nennen, haben sicherlich manches richtig gesehen, ergänzt oder unterstrichen. Fast alle jedoch haben gemeinsam, daß sie Kernstücke der Freud’schen Theorie, wie etwa das energetische Prinzip (Libidotheorie), vernachlässigen und in ihrer Technik zu wenig mit Widerstand und Übertragung arbeiten. Sie stellen eine nicht ungefährliche Verharmlosung der ursprünglichen Konzepte dar.

Konfrontiert mit der Entstehung mannigfacher tiefenpsychologischer Schulen, betrachtete es Freud als eine seiner hauptsächlichen Aufgaben, durch eine starke internationale Vereinigung das Prinzip der Legitimität aufrechtzuerhalten. Natürlich impliziert dies die Gefahr der Stagnation und der Beschränkung auf bloße Freud-Interpretationen. Die bisherige Entwicklung, insbesondere durch Hartmann und Erikson, zeigt jedoch, daß auch in dieser Organisation neue Tendenzen durchaus nicht ausgeschlossen sind. Die eigentliche Aufgabe der Vereinigung ist aber mit Recht die Wahrung strenger Ausbildungskriterien. Im Vordergrund steht hiebei die emotionelle Erfahrung durch persönliche Lehranalyse und Kontrolltherapie.

Viele Analytiker lehnen es offen oder unausgesprochen ab, in Diskussion und Polemik mit Psychologen und Psychiatern einzutreten, die nicht durch die Erfahrung der persönlichen Lehranalyse gegangen sind; ohne solche Erfahrung fehle die Voraussetzung zum Verständnis der schwierig zu beschreibenden innerpsychischen Vorgänge. Diese Argumentation erregt das begreifliche Mißfallen aller Nichtpsychoanalytiker; sie behaupten nicht ohne Grund, daß die große Investition von Zeit, Geld und Energie in die Lehranalyse zu Voreingenommenheit und einseitiger Prägung führen müsse. Das Eindringen empirischer soziologischer Forschung, auch von psychoanalytischer Seite, in die Vorgänge der psychotherapeutischen Ausbildung trägt in den letzten Jahren stark dazu bei, daß die Atmosphäre dieser Diskussion sich versachlicht und Argumente ad hominem seltener werden.

Aller Anfang bleibt neu

Die Inhaber von akademischen Lehrstühlen für Psychiatrie und Psychologie mit ihrer großen Autorität, besonders im deutschen Sprachgebiet, haben eine entscheidende Rolle im Widerstand gegen Freud gespielt. Die positive Einstellung Bleulers war sicherlich eine der Ursachen dafür, daß die akademische Integration der Tiefenpsychologie in der Schweiz um soviel leichter vor sich gegangen ist.

In Deutschland und Österreich war die Situation völlig verschieden. Man denke nur an die dominierende Rolle der Konstitutionslehre Kretschmers. Ich erinnere mich lebhaft seiner Rede zum 100. Geburtstag Freuds, die unter dem Motto stand: „Man rühre nicht an den Schlaf der Welt.“ Entscheidend war dann die Unterbrechung der geistigen und biologischen Kontinuität durch die nationalsozialistische Austreibung fast aller Psychoanalytiker. Der Widerstand gegen die Psychoanalyse wird allerdings vor wie nach dem Nationalsozialismus noch aus vielen anderen Quellen gespeist.

In jüngster Zeit hat sich die Wiener Situation erheblich gebessert. Der derzeitige Vorstand der Psychiatrischen Klinik steht der Psychoanalyse positiv gegenüber. Die Tradition der Psychoanalyse ist, weitgehend unbewußt, auch im avantgardistischen Teil des Wiener Kunstlebens wiederum spürbar. Ich denke hier vor allem an die Schule der phantastischen Realisten, an Ingeborg Bachmann und an manche Programme und Inszenierungen der Kellertheater. Der Kreis bleibt jedoch klein und hat keinen entscheidenden Einfluß auf Kultur und Gesellschaft.

Beunruhigend ist der Mangel an Nachwuchskräften, besonders in der Medizin. Ökonomische Faktoren dürften dabei eine entscheidende Rolle spielen. Man kann im gegenwärtigen System seinen ärztlichen Lebensunterhalt leichter mit organischer Orientierung erwerben als unter den hohen Anforderungen, die durch eine psychoanalytische Einstellung bedingt wären.

Die Schweiz hat’s besser

Wie der lokale ist auch der allgemeine Widerstand gegen die Psychoanalyse durchaus noch nicht beseitigt. Sicherlich wird nicht jedes Wort, das Freud geschrieben hat, von bleibendem Wert sein. Er hat sich ein Leben lang selbst korrigiert und darf nicht wie ein Kirchenvater behandelt werden. Manche seiner Schüler haben ihm hier mehr geschadet als genützt.

Insgesamt ist, wie Görres feststellt, „das Werk Freuds nicht überholt, es ist nicht einmal eingeholt, noch ist es überholbar; denn es enthält Elemente, die nicht geeignet sind zu veralten. Die Psychoanalyse hat den Charakter eines klassischen Anfangs; solche Anfänge veralten nicht.“

Das, was bleibt, ist der wache, wahrheitsfanatische Beginn eines allgemeinen Prozesses der Bewußtwerdung in der Gesinnung des hohen Respektesfür den Menschen als Person. „Freud hat zwar gemeint“, sagte Thomas Mann in seiner Rede zum 80. Geburtstag Freuds, „die Zukunft werde wahrscheinlich urteilen, daß die Bedeutung der Psychoanalyse als Wissenschaft des Unbewußten ihren Wert als Heilmethode weit übertreffe. Aber auch als Wissenschaft des Unbewußten ist sie Heilmethode, überindividuelle Heilmethode, Heilmethode großen Stils. Nehmen Sie es als Dichterutopie — aber alles in allem ist der Gedanke nicht so unsinnig, daß die Auflösung der großen Angst und des großen Hasses, ihre Überwindung durch Herstellung eines ironisch-künstlerischen und dabei nicht notwendigerweise unfrommen Verhältnisses zum Unbewußten einst als der menschheitliche Heileffekt dieser Wissenschaft angesprochen werden könnte.“

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
1964
, Seite 429
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Hans Strotzka:

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