FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1955 » No. 13
Benedikt Kautsky

Wem gehört Karl Marx?

Eine Kritik an Leopold Schwarzschilds Marx-Monographie

Das kürzlich bei Scherz & Goverts (Stuttgart) erschienene Buch von Leopold Schwarzschild: „Der rote Preuße, Leben und Legende von Karl Marx“, aus dem wir in Nr. 11 einen Abschnitt zum Vorabdruck brachten, hat mittlerweile in Deutschland heftige Zustimmung und noch heftigere Ablehnung gefunden. Auch unser Mitarbeiter Dr. Benedikt Kautsky hat sich mit einer (sehr fundierten) Ablehnung zum Wort gemeldet.

Schwarzschilds Buch will beweisen, daß man das wahre Wesen von Marx erst aus seiner Frucht, nämlich dem Kommunismus, erkennen könne. Wer nun erwartet, daß Schwarzschild tatsächlich die Zusammenhänge zwischen der Marxschen Lehre und dem russischen Kommunismus aufzudecken unternimmt, wäre im Irrtum. Für Schwarzschild gilt in verdoppeltem Maß, was er über das Marxsche „Kapital“ schreibt: er bleibt „immer eine merkwürdige Art von Dilettant“, weil er an dieses Werk „nicht heranging als ein normaler Autodidakt, der lernen will, sondern als ein Querulant, der Bestätigung sucht für vorgefaßte Meinungen“.

Der Zusammenhang, den Schwarzschild zwischen Marx und dem Kommunismus konstruiert, läßt sich etwa auf die Formel bringen: Marx hat mit allen Mitteln nach persönlicher Macht in der Arbeiterbewegung gestrebt und wollte mit Hilfe des Proletariats seine eigene Diktatur aufrichten — Lenin und Stalin haben das ebenfalls getan, und zwar unter Verwendung der Marxschen Phraseologie und Ideologie —, also ist die Identität des Marxismus mit dem Kommunismus bewiesen, und ebenso die weitere Annahme, daß Marx genau dasselbe getan hätte wie Lenin und Stalin, wenn er die nötige Macht errungen hätte. Für Schwarzschild existiert Marx als Wissenschaftler überhaupt nicht. Er nennt ihn immer wieder einen „Autodidakten“ warum, bleibt unaufgeklärt. Aber er bringt es ja auch fertig, den Mann, dem bisher selbst seine Feinde Bienenfleiß und ungewöhnliche Kenntnis der Materie zubilligen mußten, einen Faulenzer zu nennen. Daß Marx das „Kapital“ geschrieben hat, ist — laut Schwarzschild — auf nichts anderes zurückzuführen als auf die Angst, Lassalle könnte ihm mit seinem ökonomischen Werk zuvorkommen. „Es war ein Wettlauf mit Lassalle, eine Schlacht gegen Lassalle“ (Seite 301). Wahrscheinlich hat Schwarzschild das Lassallesche „Hauptwerk der Ökonomie“, ein völlig belangloses und heute mit Recht vergessenes Buch gegen Schulze-Delitzsch, das in den Anmerkungen nicht angeführt wird, nie in der Hand gehabt — sonst hätte er sich keines so lächerlichen Vergleichs schuldig gemacht. Und auf ähnlichem Niveau stehen alle seine Ausführungen, soweit sie das wissenschaftliche Werk von Marx betreffen. Gewiß lassen sich ernste Einwände gegen die Auffassungen von Marx erheben, mehr noch gegen die Schlußfolgerungen, die er seinerzeit aus ihnen zog. Aber welcher Denker hätte nicht geirrt, welcher Prophet hätte nicht auch Falsches vorausgesagt? Sogar Schwarzschild soll es hie und da passiert sein, daß in seinem „Neuen Tagebuch“ falsche Voraussagen über den unvermeidlichen Zusammenbruch des Naziregimes veröffentlicht wurden. Trotzdem bleibt das Verdienst Schwarzschilds als eines unermüdlichen Vorkämpfers gegen den Nazismus unvermindert — ebenso wie der Wert und die Bedeutung des Marxschen Gedankenguts.

Wie verhält es sich nun mit Schwarzschilds eigentlicher These? Darf sich der heutige Kommunismus wirklich zu Recht auf Marx berufen? Zweifellos gibt es Zusammenhänge zwischen beiden. Ebenso zweifellos besteht jedoch die Bedeutung von Marx und Engels gerade darin, daß sie der modernen demokratischen Arbeiterbewegung die theoretische Grundlage, die Rechtfertigung für ihre Praxis lieferten. Man muß schon die völlige Farbenblindheit eines Schwarzschild — oder eines orthodoxen Kommunisten — besitzen, um das nicht zu erkennen. Marxens politische und wissenschaftliche Laufbahn besteht für Schwarzschild in einer Kette persönlicher Zänkereien. Nach seiner Darstellung hatte Marx immer Unrecht, gleichgültig, mit wem er sich zerstritt. Wir können die Frage ruhig auf sich beruhen lassen, ob Marx wirklich der heimtückische, ehrabschneiderische und unverträgliche Geselle war, als den ihn Schwarzschild erscheinen läßt. Sicher ist, daß er ein rücksichtsloser Kämpfer war und weder Freund noch Feind schonte, wenn es ihm darauf ankam, seine Sache durchzusetzen. Für Schwarzschild fällt allerdings bei Marx Sache und Person vollständig zusammen. Historisch ist es belanglos, ob Marx ein sympathischer oder unsympathischer Charakter war, wichtig bleibt der sachliche Inhalt seiner Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern.

Marx glaubte, eine neue Anschauung gefunden zu haben, auf der sich eine gewaltige soziale Bewegung aufbauen werde, deren Träger das Proletariat zu sein hatte. In logischer Konsequenz dieser Anschauung mußte Marx seine Lebensaufgabe darin erblicken, die Arbeiterschaft, die bis dahin mit dem Kleinbürgertum in der demokratischen Bewegung zusammenhing, aus dieser Verbundenheit zu lösen und ihr einen selbständigen Weg zu weisen. Daher hät er gerade am Beginn seiner Laufbahn mit allen demokratischen Kleinbürgern, aber auch mit allen kleinbürgerlichen Sozialisten in Streit geraten müssen. Die meisten von ihnen sind heute völlig verschollen und man kennt ihre Namen nur noch deshalb, weil sich Marx einmal mit ihnen auseinandergesetzt hat. Den bekannteren von ihnen, wie etwa Arnold Ruge, braucht man keine Träne nachzuweinen. Denn Ruge endete schließlich bei Bismarck was freilich in den Augen von Schwarzschild kein Nachteil ist. „Obwohl in diesem neuen Reich“ (schreibt Schwarzschild über die Bismarcksche Reichsgründung) „einige Zellen des absolutistischen Monopols erhalten blieben, wurde es im übrigen von nun ab mehr und mehr mit den hauptsächlichen Grundsätzen, Einrichtungen und Gepflogenheiten der liberalen Demokratie ausgestattet, und die Menschen fühlten sich wohl dabei“! (S. 340.) Hier ließe sich das psychologische Problenz Schwarzschilds aufschlüsseln. Er gehört offenbar zu jenen deutschen Juden, für die Bismarck auch dann noch der Nationalheros blieb, als sein legitimer Erbe Hitler sie ins:-Exil getrieben hatte. Wer imstande ist, das kaiserliche Deutschland in eine „liberale Demokratie“ umzufälschen, für den ist die Verfälschung des Marxschen Werkes kein besönderes Kunststück mehr.

Aber Marx hatte nicht nur die kleinbürgerliche Demokratie abzuschütteln, er hatte auch seine Mission innerhalb des revolutionären Sozialismus zu erfüllen. Er stieß zum Sozialismus zu einer Zeit, da sich dieser in Verschwörerorganisationen zusammenfand, die alle von dem Gedanken getragen waren, daß das sich bildende Proletariat zu unwissend und seiner Aufgabe zu wenig bewußt sei, als daß es selbst seine Sache führen könne. Die Intellektuellen und Halbintellektuellen, die die kleinen konspirativen Zirkel bildeten, betrachteten sich als die berufenen Vormünder der Arbeiterschaft und leiteten daraus das Recht ab, wohl alles für sie, nichts aber durch sie zu leisten.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß Marx in seinen ersten Jahren von dieser Auffassung beeinflußt wurde und daß Spuren davon noch bis in verhältnismäßig späte Zeiten nachzuweisen sind. Gerade auf diese einem primitiven Zustand der Arbeiterbewegung entsprechenden Anschauungen berufen sich die Kommunisten, weil sie in einer noch primitiveren Umgebung aufwachsen und dementsprechend primitiven Gedankengängen huldigen. Aber es ist längst erwiesen, daß Marx, soferne er nicht durch augenblickliche Stimmungen oder Situationen beeinflußt wurde, sehr rasch die Unhaltbarkeit dieses Standpunkts erkannte. Das bedeutet nicht seine Abkehr von der Revolution, auch nicht in ihrer gewalttätigen Form. Schon vor 1848 lehnten er und Engels jedoch die Verschwörertaktik ab, gerade weil sie erkannten, daß das Proletariat der Träger des Kampfes um den Sozialismus sein werde und daß es durch die wirtschaftliche Entwicklung zur zahlreichsten und maßgebenden Klasse der bürgerlichen Gesellschaft werden müsse. Darum sei das Proletariat von vornherein an der Demokratie interessiert, in deren Rahmen sich seine zahlenmäßige Stärke am vorteilhaftesten auswirken könne.

Und darum bestanden die beiden Freunde darauf, daß sich der Kommunismus eine demokratische Organisation an Stelle der bis dahin in den konspirativen Gruppen üblichen zentralistisch-diktatorischen gebe. Darum sprachen sie von der Arbeiterbewegung im Kommunistischen Manifest als der „selbständigen Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl“. Darum auch gerieten sie schon vor 1848 mit Weitlingen in Konflikt, der als Schüler Blanquis die Konspiration und den Gedanken der Diktatur in den deutschen sozialistischen Handwerkerzirkeln einführen wollte — Grund genug für Schwarzschild, Weitling als unschuldiges Opfer Marxscher Intrigen hinzustellen. Freilich ließen sich Marx und mehr noch Engels in den Revolutionsjahren 1848/49 zu Worten hinreißen, die nicht nur zur Gewalt, sondern zum Terror und zur Diktatur aufriefen — niemals allerdings zur Diktatur einer Minderheit. Weder einem Kommunisten noch Schwarzschild ist es gelungen, auch nur ein einziges Zitat aufzutreiben, das in dieser Richtung gedeutet werden könnte. Aber als die Revolution im Jahre 1850 endgültig der Konterrevolution weichen mußte, waren Marx und Engels die ersten, die daraus die Konsequenz zogen, daß es jetzt mit aller Revolutionsspielerei ein Ende haben müsse. Ich will hier nur ein Zitat anführen, das mir die Stellung von Marx und Engels zum heutigen Kommunismus in voller Klarheit darzulegen scheint und das man daher nicht oft genug anführen kann. In seinem Streit mit der „Fraktion“ Willich-Schapper im Kommunistenbund erklärte Marx am 15. September 1850 zur Begründung des Ausschlusses dieser Minderheit folgendes:

An die Stelle der kritischen Anschauung setzt die Minorität ein dogmatische, an die Stelle der materialistischen eine idealistische. Statt der wirklichen Verhältnisse wird ihr der bloße Wille zum Triebrad der Revolution. Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um Euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen, sagt Ihr im Gegenteil: Wir müssen gleich zur Herrschaft kommen oder wir können uns schlafen legen. Während wir speziell die deutschen Arbeiter auf die unentwickelte Gestalt des deutschen Proletariats hinweisen, schmeichelt Ihr aufs plumpste dem Nationalgefühl und dem Standesvorurteil der deutschen Handwerker, was allerdings populärer ist. Wie von den Demokraten das Wort Volk zu einem heiligen Wesen gemacht wird, so von Euch das Wort Proletariat. Wie die Demokraten schiebt Ihr der revolutionären Entwicklung die Phrase der Revolution unter.

(Enthüllungen über den Kommunistenprozeß in Köln, Berlin 1914, S. 52 f.)

Hier ist ganz deutlich zu sehen, wer den Gedanken der Diktatur und wer den der Demokratie vertrat. Schwarzschild stellt sich natürlich auf die Seite Willichs. Genau dasselbe Verfahren schlägt er in den beiden politisch wichtigen Streitigkeiten ein,. in die Marx im weiteren Verlauf seiner Wirksamkeit verwickelt wurde, die mit Lassalle und die mit Bakunin.

Was trennte Marx von Lassalle? Marx erkannte an, daß Lassalle eine selbständige Arbeiterbewegung in Deutschland begründete und sie aus dem Gefolge des Liberalismus herauslöste. Er hatte jedoch erhebliche Bedenken gegen Lassalles Liebäugeln mit Bismarck, der die Gefolgschaft der Arbeiter in seinem Kampf gegen den Liberalismus durch soziale Reformen und die Gewährung des allgemeinen Wahlrechts erlangen wollte — Bedenken, die sich bei Lassalles Nachfolger Schweitzer noch steigerten und die seither durch die historische Forschung durchaus gerechtfertigt worden sind. Dazu kam, daß Marx die diktatorische Organisationsform des von Lassalle gegründeten Allgemeinen deutschen Arbeitervereins ebenso ablehnte, wie das von ihm in die Welt gesetzte Schlagwort von der „einen reaktionären Masse“, die sämtliche anderen Klassen gegenüber der Arbeiterschaft bilden sollten. Auch hier, und auch gegen Bakunin, vertrat Marx den demokratischen Standpunkt. Es wirkt grotesk, daß Schwarzschild sich auf die Seite Bakunins stellt und sich dabei auf das Zeugnis von Franz Mehrings Marxbiographie beruft, der zur Zeit ihrer Abfassung in echt Mehringscher Weise zwischen dem Haß gegen Marx und der Hinneigung zum radikalen Flügel der deutschen Sozialdemokratie schwankte und bei den Kommunisten endete. Wenn man historisch zu entscheiden hätte, wen man als den geistigen Vater von Lenin zu bezeichnen hätte, Marx oder Bakunin, so wird jeder unvoreingenommene Historiker für Bakunin zu entscheiden haben. Denn von Bakunins anarchistischen, streng zentralistisch geleiteten Verschwörerklubs, die mit Dolch und Dynamit arbeiteten, hat Lenin seine zentralistische Organisation übernommen, mit deren Hilfe er zunächst die demokratisch-marxistische Sozialdemokratie Rußlands hoffnungslos zersplitterte, um schließlich 1917 in einem Putsch die Macht zu ergreifen. Es klingt wie ein Witz, wenn Schwarzschild im Namen der Demokratie Bakunin gegen Marx in Schutz nimmt.

Man kann von niemandem verlangen, daß er Marxist sei, ebensowenig wie man von jedem Marxisten verlangen kann, blindlings alles gutzuheißen, was sein Meister jemals geschrieben hat. Polemiken gegen Marx sind ein unentbehrlicher Bestandteil des historischen Prozesses der Klärung der Begriffe und Probleme des modernen Sozialismus. Aber wenn man Bücher wie das Schwarzschildsche liest, begreift man nicht, wieso die marxistische Lehre so ungeheure Bedeutung erlangen konnte. Denn sie ist heute nicht minder lebendige Wirklichkeit als vor fünfzig Jahren, und es hat keinen Sinn, sie durch Pamphlete als nichtexistent nachweisen zu wollen.

Vor allem aber erweist man der Sache der Demokratie den schlechtesten Dienst, wenn man die Kommunisten als die legitimen Erben des Marxismus hinstellt. Sie waren es niemals und sind es heute weniger denn je. Der echte Marxismus ist seinem Wesen nach demokratisch. Nur die geistige Verwirrung, die durch zwei Weltkriege und durch kommunistische und faschistische Diktaturen entstand, hat diese Grundwahrheit verschleiern können. Sie wieder ans Licht zu ziehen, ist die Pflicht der Historiker.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1955
, Seite 17
Autor/inn/en:

Benedikt Kautsky:

Benedikt Kautsky lehrt an der Otto-Möbius-Schule in Graz. Er ist der Sohn Karl Kautskys, eines der Gründer und Führer der österreichischen Sozialdemokratie, und seinerseits einer der angesehensten Theoretiker der heutigen SPÖ.

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags

Schulen der Kritik

Personen