FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 121
Economicus

... was nicht sein darf

Zum Jahreswechsel hat die EWG das sechste Jahr ihres Bestandes vollendet, und daß sie dieses Jubiläum erreichte und nicht schon im Dezember in ihre Teile zerbrochen war, nannte Präsident Hallstein „die Wiedergeburt der Gemeinschaft“. Tatsächlich war sie während der Agrarmarktverhandlungen in Brüssel in ihren letzten Zügen gelegen und hatte der künstlichen Beatmung durch die Außenminister, vor allem aber Erhards eiserner Lunge bedurft, um noch einmal davonzukommen.

Daß die EWG überlebte, dankt sie (und der ganze Westen, der ihr Weiterleben dringend braucht) vor allem der Tatsache, daß die Bundesrepublik, in anderen Fällen sehr prestigebewußt, sich beharrlich weigerte, das französische Ultimatum, bis zum 31. Dezember 1963 müsse die Agrarmarktordnung zustande gebracht sein, ein Ultimatum zu nennen. Es war lediglich „politischer Druck“, und die „Deutsche Zeitung“ nannte es einen „Irrtum, daß sich Europa ohne jeden politischen Druck nur aus der hehren Einsicht seiner Staatsmänner entwickeln könne“. Auch das Düsseldorfer „Handelsblatt“ hatte aus Paris keinerlei Ultimaten, sondern nur „schärfer formulierte Ankündigungen“ vernommen. Auch nach seiner Meinung sprach manches für die Richtigkeit der französischen These, „die Zusammenarbeit der EWG sei noch zu neu und ungewohnt, als daß man ohne Termindruck zu Entscheidungen kommen könnte“.

So sah man also die Dinge in der Bundesrepublik, wo man sie nicht gut anders sehen konnte, ohne den Selbstrespekt oder weiteren Appetit auf die EWG zu verlieren. Nur die Hamburger „Zeit“, deutscher Champion im Aus-der-Reihe-Tanzen, schrieb offen vom „ultimativen Druck“ Frankreichs und meinte: „De Gaulle blockiert ein integriertes Europa auf allen Gebieten.“ Doch schon nach kurzem Wonnemond mit Marianne schien Michel begriffen zu haben: Ce que la femme veut, Dieu le veut.

Nun kann man ja als kritischer Beobachter bezweifeln, ob Gott wirklich unbedingt bis zum Jahresende 1963 eine Einigung der EWG über Rinderdärme und Käsesorten gewollt hat. Doch man könnte diese Möglichkeit ohne schwierigste theologische Beweisführung auch nicht unbedingt verneinen, und hier geht es nicht um Theologie, sondern um Wirtschaftspolitik.

Für diese bestand die unverrückbare Tatsache, daß die bevorstehende Kennedy-Runde des GATT, also die Zukunft des gesamten Welthandels und damit auch der politischen Beziehungen zwischen den USA und Europa, maßgeblich davon abhingen, daß die EWG aus ihrer Agrarmarktkrise aktionsfähig hervorgehe und folglich einer weiteren gemeinsamen Politik fähig bleibe. So dringend de Gaulle, trotz seinen „schärfer formulierten Ankündigungen“, das Überleben der EWG zur Durchsetzung seiner politischen Großmachtansprüche braucht, so dringend braucht es Erhard zur Realisierung seiner wirtschaftlichen Liberalisierungspläne. Doch de Gaulle erwies sich als der bessere Pokerspieler: seine EWG-Partner wichen vor seinem Bluff zurück, denn er spielte mit größerem Einsatz und mehr Routine.

Schon an der Jahreswende 1961/62 hatte de Gaulle die Agrarmarktordnung zur Zerreißprobe für die Gemeinschaft gemacht und auf deren Versuche, die ihr diktierten Fristen zu verlängern, kurz und bündig „Non“ geantwortet. Als schließlich in hochexplosiver Stimmung, nach qualvoll langen Sitzungen und durch allerhand diplomatische Tricks die befohlene EWG-Einigung zustande gekommen war, schrieben wir im Februar 1962: „Die Idee, Politiker zum Erfolg zu verurteilen und so lange am Konferenztisch zu halten, bis sie ihre unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten schön brav überbrückt haben oder zusammengebrochen sind, wurde in Brüssel das erste Mal praktiziert.“

Als zu Beginn des Jahres 1963 der Beitritt Großbritanniens zur Gemeinschaft schon so gut wie gesichert war, schlug de Gaulle die Brüsseler Türen zu und sagte abermals „Non“. Damals schrieben wir an dieser Stelle: „Auf jeden Fall ist jetzt eine neue Epoche der Weltpolitik angebrochen, die alle, auch die absurdesten Möglichkeiten in sich begreift.“ Denn damals erhielt das Vertrauensfundament der Gemeinschaft einen gewaltigen Stoß. Anläßlich der jüngsten Brüsseler Zerreißprobe schrieb die Hamburger „Zeit“:

Die Krise der EWG ist ernst, weil sie eine Vertrauenskrise ist. Im Grunde ist in diesen Tagen nur offenbar geworden, daß der Schock vom Januar 1963 nicht überwunden wurde. Man sollte sich von dentechnisch kompliziertenVerhandlungen, von dem Gefeilsche um Preisschwellen und Zolldisparitäten nicht täuschen lassen. Obwohl es sich um handfeste materielle Interessen handelt, ließen sich diese Probleme lösen, wenn der Wille zur Gemeinschaft noch so stark wäre wie vor einem Jahr. Heute aber herrscht Mißtrauen.

Auch die „Frankfurter Allgemeine“ forderte vor allem: „Das Mißtrauen, das sich seit etwa Jahresfrist eingeschlichen und fortgefressen hat, muß mit beharrlicher Arbeit ausgeräumt werden.“

Die Krise in Brüssel ist wieder einmal überstanden, aber das Mißtrauen ist geblieben. Während der Pariser „Combat“ angesichts des neuen Erfolges der französischen Taktik frohlockt: „Das von Zerfall bedrohte Europa der Sechs ist im Gegenteil gestärkt worden“, findet das Düsseldorfer „Handelsblatt“ zum Jubilieren keinen Grund und schreibt: „Man bewegt sich an einem Abgrund entlang. Stil und Klima der Ministerratstagung boten im übrigen einen lebendigen Anschauungsunterricht, wie es um ein Europa der Vaterländer bestellt wäre, falls man diese Formel zum Rezept erhöbe.“ Was soll nun die Wirtschaft zu alledem sagen, wo doch nicht etwa die Handelsminister, sondern die Außenminister und Regierungschefs die maßgeblichen Dramatis personae in Brüssel waren? Ganz offensichtlich ist also um politische Konzepte gerungen worden, nur die Vordergrundkulissen waren — wenn das harte Wort erlaubt ist — aus Rinderdärmen und Käsesorten.

Wenn die Wirtschaft durch die Brüsseler Krise um eine Erfahrung reicher wurde, dann um diese: daß keineswegs die wirtschaftliche Integration zur politischen führen kann, sondern daß nur ein klares politisches Konzept die wirtschaftliche Einigung bewirken wird. Solange aber die EWG sich zwischen einem Vaterland Europa und einem Europa der Vaterländer politisch nicht entschieden hat, wird sie auch wirtschaftlich nicht mehr sein als ein Forum für nackte Interessenkämpfe. Sie hat derlei bisher nur deshalb immer wieder überlebt, weil sie ohne Katastrophe für den ganzen Westen nicht mehr sterben könnte und weil drum nicht sein kann, was nicht sein darf.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1964
, Seite 5
Autor/inn/en:

Economicus:

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags

Geographie