FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1966 » No. 146
Economicus

Warten auf de Gaulle

Als de Gaulle am 1. Juli 1965 unter gewaltigem internationalem Aufsehen den Verhandlungstisch des EWG-Ministerrates verließ und sich in den Pariser Schmollwinkel zurückzog, begann jene Krise der Sechsergemeinschaft, die der General seither in Permanenz erhielt und von der Hallstein sagte, es sei weniger erstaunlich, daß sie ausgebrochen, als daß sie nicht schon weit früher eingetreten sei.

Damals schrieben wir an dieser Stelle: „Daß die Sechsergemeinschaft von Krise zu Krise lebt und dabei gar nicht so schlecht gedeiht, ist eine Tatsache, deren sich alle Darwinisten als eines Beweises für die förderliche Kraft des Struggle for Life freuen mögen.“ [*]

Daß die EWG nicht de Gaulles Enfant gâté ist, war klar, seitdem er sein Programm eines „Europa der Vaterländer“ verkündet und damit jener Supranationalität entschieden abgesagt hatte, welche die Römer Verträge der Sechsergemeinschaft als Endziel setzen. So mußte ihm denn jener 31. Dezember 1965, an dem das bisherige Prinzip der Einstimmigkeit durch die dritte Stufe der Integration mit ihrem Mehrheitsprinzip abgelöst werden sollte, ein Tag sein, den er nicht tatenlos auf sich zukommen lassen konnte.

Die Taktik der übrigen Fünf, de Gaulle im eigenen Saft schmoren zu lassen, beantwortete der General mit genau der gleichen Taktik, so daß sich in den letzten Monaten kaum noch sagen ließ, wer nun wirklich schmorte. Angesichts des knappen Sieges bei der Präsidentschaftswahl und der bevorstehenden Parlamentswahl konnten de Gaulle die innenpolitischen Auswirkungen seiner Brüsseler Trotzhaltung nicht gleichgültig sein. Die Sorgen seiner Agrarier, vor allem über den Getreideabsatz, und die Gerüchte, Trotzköpfchen als Staatspräsident wolle der EWG, diesem großen Getreidemarkt, endgültig den Rücken kehren, waren ein recht kräftiges Feuer, auf dem de Gaulle schmorte. Brüssel anderseits schmorte nicht weniger. Zwar arbeitete seine Administration rüstig weiter, als gäbe es noch eine EWG-Regierung, und auch die EWG-Kommission mit Präsident Hallstein an der Spitze entfaltete weiterhin bemerkenswerte Aktivität. Aber wirklich grundlegende Fragen wurden nach bestem österreichischem Muster auf die immer längere Bank geschoben, der Ministerrat war handlungsunfähig.

Doch gerade die ungebrochene Rüstigkeit der EWG-Kommission nahm de Gaulle übel, ist doch Hallstein zum eigentlichen Exponenten einer supranationalen EWG geworden und zielte mit seiner sehr selbständig agierenden Kommission genau dorthin, wohin der General um keinen Preis will: zum europäischen Staatenverband. So wurde aus zwei kontroversen Europameinungen ein Duell zwischen ihren profiliertesten Repräsentanten, und daß es nicht nur um das Gesicht, sondern um den Kopf Hallsteins geht, heißt nur, daß mit diesem Kopf der Römer Vertrag und die Supranationalität der Gemeinschaft auf dem Spiele stehen.

Es ist ein Spiel, das von beiden Seiten um hohen Einsatz, von Paris noch dazu mit wechselnder Taktik, obschon mit gleichbleibender Strategie gespielt wird. Formaljuristischen Argumenten gegen die EWG-Kommission, von der die kräftigsten supranationalen Impulse ausgehen, folgten die lächerlichsten persönlichen Vorwürfe gegen ihren Präsidenten, etwa der, er habe bei einem Botschafter-Empfang einen roten Teppich auflegen lassen, als wäre er ein Staatsoberhaupt, und halte politische Reden, für die er kein Mandat habe.

Das alles sind Scherze, die den grauen diplomatischen Alltag durchsonnen. Bitterer Ernst ist es aber, daß de Gaulle die Frage nach der Funktion der EWG-Kommission zur Existenzfrage der EWG-Gemeinschaft hochgespielt hat und hochspielen mußte. Denn das Perfide an seiner Politik ist, daß er genau das sagt, was er meint: nationale Selbständigkeit innerhalb der Gemeinschaft — so daß seine Partner sicher sind, er wolle etwas anderes. Das erinnert an den Konflikt der beiden Reisenden im Bahnhof von Lodz. Fragt der eine: „Wohin willst du?“ Sagt der andere: „Nach Krakau.“ Erzürnt sich der erste: „Du sagst nach Krakau, damit ich glauben soll, du willst nach Stanislau. Du willst aber wirklich nach Krakau. Was lügst du mich also an?“

De Gaulle hat nie gelogen. Es geht ihm nicht um rote Teppiche und nicht einmal um die Agrarfinanzierung oder die Reduzierung der Kommission zu einem Sekretariat des Ministerrates — es geht ihm ausschließlich um die Gretchenfrage: wie hältst du’s mit Europa?

Nun, wie es beide Teile damit halten, weiß man zur Genüge. So konnte denn auch die Ministerratstagung vom 17. und 18. Jänner, die man feinfühlig nach Luxemburg einberufen hatte, um Frankreich keinen „Gang nach Brüssel“ zuzumuten, nicht mehr werden als eine Besichtigung der Krise, und Hallsteins Kopf wurde noch einmal gerettet.

Es gibt eine anmutige chinesische Geschichte von einem Scharfrichter, der arme Sünder so delikat zu köpfen verstand, daß ihnen das Ereignis erst bewußt wurde, wenn sie nickten. Wie lange Hallstein noch nicken kann, ist die Frage. Denn weder sind die „übrigen Fünf“ mit ihm voll und ganz glücklich, ja manche werfen ihm vor, de Gaulle ohne Not übermäßig gereizt zu haben. Noch würde, wenn Hallsteins Kopf auf goldener Schüssel den General dazu brächte, in Fragen des Abstimmungsmodus mit sich reden zu lassen, das Gemeinschaftsinteresse am Kommissionspräsidenten größer sein als das Interesse am Fortbestand der Gemeinschaft selbst.

Inzwischen ist die vierzehntägige Bewährungsfrist, die Couve de Murville seinen Ministerkollegen am 18. Jänner gab, abgelaufen, und eine neuerliche Konferenz hat in Luxemburg getagt. Ihr Ergebnis ist sensationell: eine vollkommene Coincidentia oppositorum.

Kein Standpunkt wurde aufgegeben und „volle Einigung“ erreicht. Das Prinzip der Einstimmigkeit wurde nicht angetastet, wird aber in entscheidenden Fällen nicht angewendet werden. Die Rechte der EWG-Kommission wurden nicht beschnitten, sondern sollen nur mit Durchführungsverordnungen beschränkt werden. Frankreich kehrt am 15. Februar nach Brüssel zurück, die Krise ist beigelegt.

Hallstein täte gut, einmal täglich probeweise zu nicken.

[*Economicus: Sechs der Brüder sind wir gewesen, FORVM XII/141-142.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1966
, Seite 133
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