FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1961 » No. 88
Franz Theodor Zölch

Vom Klassenkampf zum Rassenkampf (II)

Der Antisemitismus in der Sowjetunion

Auf Stalins Betreiben wurde im November 1952 in Prag der Schauprozeß gegen den Generalsekretär der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei, Rudolf Slánský, und dreizehn seiner Mitarbeiter inszeniert. Elf Angeklagte waren Juden. Der Prozeß verfolgte den Zweck, eine angebliche amerikanisch-zionistische Verschwörung gegen den Ostblock aufzudecken. In den Verhandlungsprotokollen ist ständig von „Kosmopoliten“, „Freimaurern“, „Zionisten“ und „Juden“ die Rede, von der „Wühlarbeit zionistischer Organisationen“ sowie davon, daß im Rahmen eines angeblichen „Morgenthau-Plans“ aus dem Jahre 1947 der Staat Israel mit Unterstützung der „amerikanischen Monopolisten“ errichtet worden sei und zwar unter der Bedingung, „daß die zionistischen Organisationen in größtem Maßstab für Spionage und andere zersetzende Tätigkeit in den Volksdemokratien verwendet werden“.

Schon vor dem Slánský-Prozeß waren die (im Juni 1960 verstorbene) jüdische Außenministerin Rumäniens, Anna Pauker, sowie andere prominente jüdische KP-Funktionäre unter oft recht merkwürdigen Umständen gestürzt worden. In der deutschen Sowjetzone war zu jenem Zeitpunkt Rudolf Herrnstadt, ehemals Chefredakteur des kommunistischen Zentralorgans „Neues Deutschland“, der letzte Jude im Zentralkomitee der SED. Nachdem am 26. Juli 1953 auch er — wegen „parteifeindlicher Fraktionsbildung“ — ein Opfer des Stalinisten Ulbricht geworden war, präsentierte sich die Spitze der Zonen-KP, zumindest vorübergehend, „arischer“ als selbst Hitlers Parteiführung, in der es einige Inhaber nicht hundertprozentig einwandfreier Ahnenpässe gegeben haben soll. Zwar diente die von der SED am 6. Januar 1953 unter der Devise „Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slánský“ eingeleitete Säuberung sicherlich auch als willkommene Gelegenheit zur Beseitigung persönlicher Widersacher Ulbrichts, aber in erster Linie trug diese Aktion antijüdische Züge. Sie war in diesem Sinne unmittelbar nach dem Slánský-Prozeß vorbereitet worden, was den ehemaligen Chef der Präsidialkanzlei des Sowjetzonen-„Staatspräsidenten“ Pieck, Professor Dr. Leo Zuckermann, veranlaßt hatte, schon Mitte Dezember 1952 mit seiner Familie nach Westberlin zu fliehen.

Mitte Januar 1953 holte Stalin zu seinem letzten Schlag gegen die Juden aus. Es kam zur „Entlarvung“ der zumeist jüdischen Kreml-Ärzte, von denen ein Teil in der Voruntersuchung „gestand“, im Auftrag „jüdischer Spionage- und Terrororganisationen“ politische Morde begangen oder geplant zu haben. Vieles deutet darauf hin, daß der durch Stalins Tod unterbliebene Schauprozeß gegen die Kreml-Ärzte und die geplante nachfolgende Säuberung als Überleitung zu einem unverhüllt antijüdischen Kurs gedacht waren.

Durch Stalins Tod wurde diese Aktion vorläufig gebremst, aber durchaus nicht beendet. Schon im Januar 1954 gab es in der Tschechoslowakei ein Nachspiel zum Slánský-Prozeß. Eine Reihe ehemaliger KP-Funktionäre, mit einer einzigen Ausnahme durchwegs Juden, wurde zu schweren Zuchthausstrafen verurteilt. Im April des gleichen Jahres verhängte ein Preßburger Gericht schwere Haftstrafen über eine Anzahl ehemaliger Mitarbeiter des im Slánský-Prozeß zum Tode verurteilten und hingerichteten ehemaligen Außenministers Clementis. Sie waren zwar keine Juden, aber man beschuldigte sie der Zusammenarbeit mit dem „Joint Committee“, einer „jüdischen Spionage- und Terrororganisation“, die schon in Verbindung mit der Affäre der Kreml-Ärzte genannt worden war. Ferner wurde ihnen die Duldung der Auswanderung slowakischer Juden nach Israel zur Last gelegt. [14]

Im Laufe des Jahres 1957 verschwand in einigen südosteuropäischen Gefolgsstaaten Moskaus wiederum eine Anzahl prominenter jüdischer Kommunisten von der politischen Bühne. Am auffälligsten war diese „rote Arisierung“ in Rumänien. Am 3. Juli 1957 wurden zwei angesehene und zeitweise sehr einflußreiche Parteiführer, Miron Constantinescu und Josif Chisinevsci, aus dem Politbüro ausgeschlossen; Constantinescu blieb zunächst Erster stellvertretender Ministerpräsident sowie Minister für Kultur und Erziehung, wurde jedoch wenig später auch dieser Ämter enthoben. Am 15. Juli 1957 folgte die Absetzung des Außenministers Grigori Preoteasa, welcher durch den späteren rumänischen Staatspräsidenten und derzeitigen Ministerpräsidenten Ion Gheorghe Maurer abgelöst wurde. Constantinescu war mit einer Jüdin verheiratet, Chisinevsci war Jude und Preoteasa Halbjude. Alle drei waren enge Freunde sowie zeitweise Mitarbeiter und Berater der einstigen „starken Frau“ Rumäniens, der 1952 gestürzten Jüdin Anna Pauker, was ihnen ganz offen vorgeworfen wurde.

Die im Januar 1959 durchgeführte sowjetische Volkszählung ergab, daß auf dem Territorium der UdSSR zu jenem Zeitpunkt 2.268.000 Juden lebten, was etwa 1,1 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. 20,8 Prozent dieser mehr als zweieinviertel Millionen Juden, also rund eine halbe Million, gaben die „Sprache des gleichen Volkstums“, d.h. offenbar Jiddisch, als ihre Muttersprache an. [15] Für diese immerhin erhebliche Zahl von Juden — wobei sicherlich nicht nur die 20,8 Prozent mit jiddischer Sprache als Glaubensjuden anzusehen sind — gibt es in der Sowjetunion etwa sechzig Rabbiner. Aber auch die Tätigkeit dieser wenigen wird von den Kommunisten mit Argwohn beobachtet und nach Möglichkeit behindert. „Sowjetskaja Moldawia“, das KP-Organ in der Moldauischen SSR, brachte am 28. April 1960 einen unverhüllt judenfeindlichen Artikel unter dem Titel „Im Schutz der Synagoge“, in dem es heißt: „Unsere besten Schüler versucht die Synagoge mit dem Gift der Religion zu vergiften. Sie erzieht sie zu Lügnern, Angebern und Pharisäern.“ Der Artikel berichtet über einen Schauprozeß gegen zwei Rabbiner und einige andere Mitglieder einer jüdischen Gemeinde, denen zur Last gelegt wurde, an männlichen Kindern die Beschneidung nach jüdischem Ritus vorgenommen zu haben. [16]

„Antijudaismus“

Die gegenwärtige sowjetische Kampagne gegen die Juden, welche sich in diesem Prozeß wie in vielen anderen Aktionen offenbart, wird nicht mit dem seit Hitler diskreditierten Wort „Antisemitismus“ gekennzeichnet. Vielmehr spricht man von „Antijudaismus“, womit die selbe Sache nur noch zutreffender benannt wird. Es mag übrigens zu denken geben, daß die neue „antijudaische“ Aktion allem Anschein nach begonnen wurde, sobald Chruschtschew fest etabliert war und daran ging, seinen Vorgänger Stalin an ungezügeltem außenpolitischem Übermut noch zu überbieten. Vorläufig gehen die offiziellen sowjetischen Stellen noch nicht so weit, diese Dinge offen zuzugeben. Im Mai 1956 reiste eine Delegation französischer Sozialisten nach Moskau. In einer Unterredung mit führenden Persönlichkeiten der UdSSR kam man auch auf die Judenfrage, den Antisemitismus und den Antizionismus, zu sprechen. Bei dieser Gelegenheit sagte Mikojan: „Wir verfolgen niemanden wegen Zionismus. Es gibt (bei uns) keinen antizionistischen Prozeß ... Wenn aber Zionisten Spione der Amerikaner oder anderer antisowjetischer Staaten sind, können sie unter dieser Bezeichnung verfolgt werden. Ebenso können sie verfolgt und bestraft werden wegen Diversion, nicht aber wegen zionistischer Tätigkeit.“ [17]

Solche Antworten sind bloßes Spiel mit Worten. Ihnen stehen Tatsachen entgegen, die sich selbst hinter dem Eisernen Vorhang nicht restlos verheimlichen lassen. So berichteten zwei jüdische Heimkehrer, die jahrelang in sowjetischen Zwangsarbeitslagern gelebt hatten und zusammen mit entlassenen deutschen Kriegsgefangenen im Herbst 1955 in Westberlin eintrafen, von tausenden Juden in den sibirischen Arbeits- und Konzentrationslagern. Viele von ihnen hatten ihre Strafe dem „Verdacht zionistischer Gesinnung“ zu verdanken und die meisten von ihnen waren im Zusammenhang mit der Gründung des Staates Israel festgenommen worden. [18]

Am 24. Juli 1957 gab Chruschtschew selbst in einem Interview mit amerikanischen Touristen zu, daß jüdische Sowjetbürger keine Pässe zur Ausreise erhielten, weil man befürchtete, sie würden damit nach Israel auswandern. Daran hat sich anscheinend bis heute nichts geändert. Im August 1960 mußte, einer Reuter-Meldung zufolge, der israelische Außenminister, Frau Golda Meir, vor dem israelischen Parlament bekanntgeben, daß die Sowjetunion im Laufe der letzten fünf Jahre 9263 Gesuche israelischer Staatsbürger, die ihre in der Sowjetunion lebenden Verwandten nach Israel nachkommen lassen wollten, als „ungenügend begründet“ abgelehnt habe.

[14Vgl. Ernst Halperin: Der siegreiche Ketzer, 2. Auflage, Köln 1958, S. 299 ff.

[15„Der aktuelle Osten“, Bonn, Nr. 10-11 vom 14. März 1960, S. 4 und 7.

[16„Der aktuelle Osten“, Bonn, Nr. 27-28 vom 21. Juli 1960.

[17Fejtö a.a.O., S. 121 f.

[18Nach einer UP-Meldung in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 4.11.1955.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1961
, Seite 139
Autor/inn/en:

Franz Theodor Zölch: Mitarbeiter einer Reihe von angesehenen Zeitungen und Zeitschriften in Österreich, der Bundesrepublik, der Schweiz und den USA („Salzburger Nachrichten“, „Basler National-Zeitung“, „New Yorker Staatszeitung & Herold“). Sein besonderer Themenkreis sind die Zusammenhänge zwischen kommunistischer Ideologie und Realität.

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