Context XXI » Print » Jahrgang 1997 » ZOOM 4+5/1997
Peter Steyrer

Vom Funktionsverlust des Militärs


Mit der Schaffung neuer Bedrohungsbilder reagiert das Militär auf seinen weltweiten massiven Funktionsverlust.

Die Aufgabe der bewaffneten Verteidigung von Staaten und Blöcken ist vor einem halben Jahrzehnt praktisch abhanden gekommen. Die Produktion von Sicherheit und Stabilität hängt immer stärker von den politischen – genauer gesagt den außenpolitischen – Beziehungen der Staaten zueinander ab. Senkungen der Wehr- und Rüstungshaushalte in den meisten europäischen Staaten sind die Folge dieses Funktionsverlustes des Militärischen. Deshalb werden neue Bedrohungsbilder und Wehrkonzepte geschaffen.

Die Ausgaben für die Armeen sind selbst in NATO-Mitgliedstaaten nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes in den vergangenen fünf Jahren um bis zu 30 Prozent reduziert worden. Der Umsatz der Rüstungsindustrie hat sich beinahe halbiert. Dennoch sind in Österreich weder die Verteidigungsbudgets noch die Rüstungsumsätze bedeutend gesunken. Wobei die Ausgangsniveaus zugegebenermaßen niedriger waren als bei den Rüstungsgroßmächten Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder Italien. Im Verhältnis zu den Nachbarländern Ungarn, Slowenien, Slowakei oder Tschechien hat Österreich inzwischen echten Abrüstungsbedarf.

Die Bedrohungslage hat sich im weltweiten Zusammenhang völlig verändert. Die NATO sucht nach neuen Aufgabenfeldern, nachdem der Warschauer Pakt als Gegenpart für die militärische Abschreckung abhanden gekommen ist. Sowohl bei Großwaffensystemen wie Atomwaffen und Raketen (START II) als auch im Bereich der konventionellen Rüstung und Truppen (KSE) sind tatsächliche Abrüstungsschritte vollzogen worden. Die Politik der Abschreckung und der kollektiven Verteidigung gegenüber der Sowjetunion ist also seit Ende der 80er Jahre überholt.

ExpertInnen stellen eine Änderung der Kriegsszenarien fest. Nicht mehr der Krieg zwischen Staaten sei die reale Bedrohung, sondern der Krieg in Staaten, der Bürgerkrieg und der ethnische Konflikt präge das Aufgabenfeld der Sicherheitspolitik. Auf weltweiter Ebene wird ein zweites vorerst abstraktes Konfliktszenario des Zusammenstoßes der Kulturen errichtet. Beide diagnostizierten Entwicklungen dienen als Legitimation neuer strategischer Anstrengungen. Die Bürgerkriege werden zum Anlaß für die Etablierung von Interventionsstreitkräften genommen. Der große „Clash of Civilizations“ (Samuel Huntington) wird zur Aufrechterhaltung der Verteidigungskräfte und zum Aufbau einer militärischen Hegemonie gegenüber den „feindlichen“ Kulturen genutzt.

Auch in Österreich läßt sich eine Legitimationskrise der militärischen Sicherheitsanstrengungen feststellen. Im „Situationsbericht 96“ des Verteidigungsministeriums gilt das Szenario des großen Angriffs auf Österreich als weitgehend überwunden. Als Restfunktion für militärische Verteidigung werden Grenzverletzungen angesehen. Gleichzeitig werden eine ganze Reihe neuer „Bedrohungen“ auf die Tagesordnung militärischer Sicherheitspolitik gesetzt. „Migrationsströme, subkonventionelle Bedrohungen, Umweltkatastrophen“ sind der Anlaß für den Aufbau einer umfassenden Sicherheitspolitik, die die Militärs als Antwort auf ihren Funktionsverlust sehen. Unter „subkonventioneller Bedrohung“ sind Briefbombenattentate, „Terroranschläge“ wie bei Ebergassing und derlei traditionelle Anlässe für innere Sicherheitsorgane zu verstehen. Migrationsströme werden auch international immer häufiger als Anlaß zur militärischen Bekämpfung angesehen, wobei vor allem auch daraus hervorgehende bewaffnete Eskalationen imaginiert werden. In Österreich verweist das Heer durch seinen Assistenzeinsatz an der Grenze immer wieder auf seine Leistungen in der „Flüchtlingsbekämpfung“ und findet darin bereits heute seine Aufgabe im Hinblick auf Migration. Auch durch den Einsatz bei Umweltkatastrophen will sich das Bundesheer profilieren. Bei all diesen neuen Bedrohungen geht es um die Erfindung neuer Aufgaben für eine in der Krise befindliche Institution.

Ein anderes wichtiges neues Arbeitsfeld sind die internationalen Einsätze, die vorbereitet und geplant werden. Hier bieten NATO und österreichisches Bundesheer dieselbe Antwort: Interventionen statt Landesverteidigung. Offenbar denkt man in Wien mittels eines Vertrages mit der NATO unter dem Titel „Partnerschaft für den Frieden“ die Planungen, Vorbereitungen und Manöver für Militärinterventionen besser tarnen zu können. Die Neutralität, an der die ÖsterreicherInnen – laut Propaganda „sentimental“, also irrational – hängen, steht diesem neuen Arbeitsfeld im Wege. Aber mittels eines neuen Entsendegesetzes (das in der Neusprache der Sicherheitsexperten „Kooperations- und Solidargesetz“ heißt) und den entsprechenden Sicherheitsabkommen mit NATO und WEU glaubt die Regierung, sich über die öffentliche Meinung hinwegschwindeln zu können. Das Entsendegesetz schafft die Voraussetzungen für Militärinterventionen jeglicher Art sowie für die Beteiligung an NATO-Manövern im Ausland. Gerade Einsätze wie in Bosnien-Herzegowina sind ausgezeichnete Anlässe für die stetig fortschreitende Aushöhlung der Neutralität. Eigentlich ist der NATO-Beitritt der Rettungsanker der österreichischen Militärs. Es ist absehbar, daß nur durch einen solchen Schritt eine Steigerung oder wenigstens das Halten der derzeitigen Rüstungsausgaben zu bewerkstelligen ist. Es ist der einzige Weg, auf dem sich die marode Rüstungsindustrie in Österreich am Markt der starken NATO-Armeen als Zulieferer wird halten können. Für diese beiden wirtschaftlich begründeten Eigeninteressen ist die Regierung gerne bereit, die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der westlichen Industriemetropolen auch international durchzusetzen.

Für diese sich herauskristallisierende neue internationale Aufgabe des Bundesheeres ist eine Professionalisierung der Streitkräfte notwendig. Die „Heeresgliederung-Neu“ leitete diese Entwicklung ein: Die Berufsteile und die mobilen Teile des Heeres wurden gestärkt. Auf Sicht – nach einem NATO-Beitritt von Ungarn, Slowenien und der Tschechischen Republik – wird es auch zu einer Anpassung des Wehrsystems hierzulande kommen. Ähnlich wie in Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Italien wird dann auch Österreich seine Wehrpflicht abschaffen. Die klassischen Verteidigungsaufgaben des österreichischen Bundesheeres werden bis dahin endgültig in den Hintergrund getreten sein. Internationale Militärinterventionen werden dann die eigentliche Aufgabe sein. Diese Funktion erfüllt ein Berufsheer besser als ein Milizheer. Die antidemokratischen Nebenwirkungen dieser Berufsarmee werden dann in erster Linie andere Völker fernab der „Heimat“ zu spüren bekommen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
1997
, Seite 21
Autor/inn/en:

Peter Steyrer:

Dr. phil, Kommunikationswissenschaft und Philosophie, war langjähriger Aktivist und „tragende Säule“ der ARGE für Wehrdienstverweigerung, Gewaltfreiheit und Flüchlingsbetreuung. Seit 1999 EU-Koordinator des Grünen Klubs im Parlament. Redaktionsmitglied von Context XXI (ZOOM) bis März 1999.

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