FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1972 » No. 223
Adalbert Krims

Verstaatlichung in der DDR

Von Februar bis April dieses Jahres wurden zahlreiche private und halbstaatliche Industriebetriebe in der DDR in Volkseigentum übergeführt. Um diese Maßnahmen in ihrem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der DDR sehen und einordnen zu können, muß der Aufbau der sozialistischen Produktionsverhältnisse seit Kriegsende skizziert werden.

In den Jahren nach dem 2. Weltkrieg wurden die Kriegsverbrecher sowie die Führer und aktiven Verfechter der Nazipartei und des Nazistaates in der sowjetischen Besatzungszone enteignet. Die Sowjetunion konnte sich dabei auf das Potsdamer Abkommen stützen. In den westlichen Besatzungszonen wurden jedoch diese Punkte nicht befolgt. 1948 war in der SBZ diese Phase praktisch abgeschlossen (sie wird in der DDR als antifaschistisch-demokratische Umwälzung bezeichnet). Zu diesem Zeitpunkt wurden etwa 39 Prozent der industriellen Bruttoproduktion in volkseigenen Betrieben, 22 Prozent in sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG) und 39 Prozent in privatkapitalistischen Unternehmungen erzeugt. Ziel war vor allem die Zerstörung der sozialökonomischen Basis des Faschismus. Gleichzeitig wurden die Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus in der SBZ geschaffen, der dann (auch nach der von den westlichen Großmächten mit der neuentstehenden westdeutschen Führung betriebenen Spaltung Deutschlands) in Angriff genommen wurde.

Seit der Gründung der DDR im Jahre 1949 wurde der volkseigene Sektor vereinheitlicht und erweitert sowie eine langfristige Wirtschaftsplanung eingeführt. Schwerpunkt war vorerst der Wiederaufbau der stärker als in Westdeutschland zerstörten Industrie sowie die Schaffung einer schwerindustriellen Basis (im Deutschen Reich befand sich die Schwer- und Grundstoffindustrie fast ausschließlich im Westen). Durch Übernahme der SAG-Betriebe in den volkseigenen Sektor sowie durch weitere Verstaatlichungen betrug der Anteil der volkseigenen Industrie an der industriellen Bruttoproduktion am Ende des ersten Fünfjahrplanes (1955) bereits 87,3 Prozent. 12,7 Prozent wurden noch in Privatbetrieben erzeugt. In dieser zweiten Phase der ökonomischen Umgestaltung wurde also die eindeutige Dominanz der sozialistischen Produktionsverhältnisse gesichert, die teilweise mit staatlich-repressiven Mitteln durchgesetzt werden mußte, sowie die ungünstige Wirtschaftsstruktur durch Aufbau einer eigenen Grundstoff- und Schwerindustrie verbessert.

Die dritte Phase umfaßt die Periode des zweiten Fünfjahrplanes bis 1960. Hier ging es darum, die privaten Industriebetriebe verstärkt in das sozialistische ökonomische System zu integrieren. Ein Mittel dazu war die staatliche Beteiligung an Privatbetrieben in Form von Kommanditgesellschaften. Diese Unternehmensform setzte sich nur langsam durch: 1956 erzeugten die halbstaatlichen Betriebe erst 3 Prozent der Bruttoproduktion sämtlicher Privatbetriebe, 1959 jedoch schon über 50 Prozent. Am Ende des 2. Fünfjahrplanes wurden 88,7 Prozent der Bruttoindustrieproduktion in sozialistischen, 7,5 Prozent in halbstaatlichen und nur noch 3,8 Prozent in privaten Betrieben erzeugt. Zugleich war am Ende dieser Phase die Umgestaltung der agrarischen Produktionsverhältnisse abgeschlossen und der wesentliche Teil des Handels in Staats- bzw. Genossenschaftseigentum übergeführt.

In den sechziger Jahren und insbesondere nach dem Bau der Berliner Mauer folgte eine Periode der inneren Konsolidierung und Reorganisation der DDR-Wirtschaft. In den Richtlinien für das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft vom 11. Juli 1963 fand diese Entwicklung ihren Ausdruck. Es ging jetzt vor allem um eine Integration der verschiedenen Wirtschaftssektoren, um eine Verbesserung der Planungsmethoden, um einen sinnvollen Bezug zwischen Eigenverantwortlichkeit der Betriebe und zentralem Plan, um das Verhältnis von Plan und Markt sowie um die Einbeziehung der Werktätigen in den ökonomischen Prozeß und dessen Leitung. Eine Beurteilung dieser Maßnahmen und deren Erfolge kann in diesem Zusammenhang nicht geleistet werden. Weitere Verstaatlichungen oder Beteiligungen des Staates an Privatbetrieben standen in dieser Periode nicht im Mittelpunkt des ökonomischen Aufbaus. So nahm von 1960—1965 der Anteil des sozialistischen Sektors an der Bruttoindustrieproduktion sogar knapp von 88,7 auf 88 Prozent ab, die halbstaatlichen Betriebe vergrößerten ihren Anteil von 7,5 auf 9,8 Prozent und die Privatunternehmen sanken von 3,8 auf 2,2 Prozent. Die wesentlichen Schritte zur Durchsetzung des Neuen Ökonomischen Systems erfolgten bis 1967. Ab diesem Zeitpunkt kann die DDR-Wirtschaft als im großen und ganzen konsolidiert angesehen werden.

Inzwischen stieg jedoch der Reichtum der privaten Produktionsmittelbesitzer überproportional (man sprach bereits wieder von Millionären in der DDR) und manche privaten oder genossenschaftlichen Handwerksbetriebe nahmen industriellen Charakter an. Zugunsten des raschen Aufbaus der Volkswirtschaft wurden die daraus resultierenden Widersprüche eine Zeitlang hingenommen. 1969 versuchte man, durch Steuererhöhungen für Spitzeneinkommen diesen Prozeß zu beeinflussen. Im Februar 1971 verabschiedete die Volkskammer ein Gesetz, nach dem Erben von Privatunternehmern oder Komplementären (in halbstaatlichen Betrieben) nur den staatlichen (Bank-)Zinssatz erhielten, wenn sie nicht selbst als Betriebsleiter tätig waren. All diese Maßnahmen hatten jedoch keinen großen Erfolg. Kritiker sprachen von Erscheinungen der Rekapitalisierung — und interessanterweise nahm die SED bei der Begründung der jetzigen Verstaatlichungsmaßnahmen diesen Begriff auf (gab also diese Tendenzen zu).

Neben dieser grundsätzlichen Kritik trug jedoch vor allem das wachsende Unbehagen großer Teile der Bevölkerung über den Reichtum privater Produktionsmittelbesitzer dazu bei, daß man sich seit Anfang 1972 entschloß, neue Sozialisierungsmaßnahmen durchzuführen und die Entstehung neuer privater Industriebetriebe durch Vergrößerung handwerklicher Unternehmungen zu verhindern. Diese letzte Tendenz zeigte sich vor allem auf dem Sektor der Bauwirtschaft. (Hier war 1970 der Anteil der Privaten am Nettoprodukt in effektiven Preisen mit 8,6 Prozent am größten von allen Wirtschaftsbereichen der DDR.)

Der Auftakt zu neuen Sozialisierungen erfolgte im Februar 1972 am Parteitag der Liberal-Demokratischen Partei (LDPD). Die Privatunternehmer und Komplementäre wurden aufgefordert, sich der Weiterentwicklung der Produktionsverhältnisse nicht in den Weg zu stellen. Einige Funktionäre der LDPD (in ihr sind die meisten politisch organisierten Privatunternehmer vertreten) gaben am Parteitag demonstrativ ihre Anteile an den Staat ab. Unmittelbar darauf erließen auch die Spitzengremien der anderen Parteien des Demokratischen Blocks, vor allem die CDU und die NDPD (NationalDemokratische Partei) ähnliche Aufrufe. Die SED übte in der öffentlichen Kampagne auffallende Zurückhaltung. Im April wurde allerdings bekannt, daß die 4. Tagung des ZK der SED im Dezember 1971 „Aufgaben zur Weiterentwicklung der. sozialistischen Produktionsverhältnisse und zur Beseitigung gewisser Erscheinungen der Rekapitalisierung“ beschlossen hatte.

Ende April, also innerhalb von drei Monaten, war die Umwandlung von Betrieben mit staatlicher Beteiligung, privaten Industrie- und Baubetrieben sowie industriell produzierender Genossenschaften des Handwerks in Volkseigentum im wesentlichen abgeschlossen. Schätzungsweise waren rund 5000 Betriebe davon betroffen. Die Eigentumsform des halbstaatlichen Betriebes wurde praktisch abgeschafft. Dies erscheint insofern gerechtfertigt, als sie nur als Übergangslösung zur stärkeren Einbeziehung von Privatunternehmen in das staatliche Planungssystem gegründet worden waren. Nach dem Bericht des Politbüros an die 5. Tagung des ZK der SED vom 27. April (Berichterstatter Gerhard Grüneberg, Sekretär des ZK) „fand dieser wichtige sozialökonomische Schritt bei den Komplementären und Privatunternehmern überwiegend politische Zustimmung, Bereitschaft und Einsicht“.

In der Hälfte der betroffenen Betriebe werden die früheren Eigentümer auch weiter als Betriebsleiter der neuen VEB tätig sein. Die Entschädigungssumme wurde durch einen staatlichen Buchprüfer festgelegt und liegt durchwegs unter dem realen Verkaufswert. Die ehemaligen Unternehmer können über den ihnen ausbezahlten Betrag nicht frei verfügen, sondern erhielten ihn auf ein Sperrkonto überwiesen, von dem sie — je nach Absprache beim Kaufvertrag — eine bestimmte monatliche Summe abheben können (in manchen Fällen über 1000 Mark, meist jedoch zwischen 300 und 500 Mark monatlich).

Im Bericht des Politbüros an die 5. ZK-Tagung wurde darauf hingewiesen, daß bis 25. April 94 Prozent der Komplementäre von Betrieben mit staatlicher Beteiligung und 73 Prozent der Besitzer privater Industrie- und Baubetriebe ihre Bereitschaftserklärung zur Auszahlung ihrer privaten Anteile bzw. zum Verkauf der Betriebe abgegeben hatten. Als eine Hauptaufgabe der neuen VEB wurde in diesem Bericht die steigende Leistung und Effektivität dieser Betriebe genannt, die bisher nicht immer Begleiterscheinung von Sozialisierungsmaßnahmen waren.

Produktionsgenossenschaften des Handwerks (mit nicht-industriellem Charakter) und kleinere private Dienstleistungsbetriebe sind von den Maßnahmen praktisch nicht betroffen. Das Politbüro wies sogar auf ihre große Bedeutung für die Versorgung der Bevölkerung hin. Hier geht es gegenwärtig um die Schließung der noch häufigen Versorgungslücken im Bereich der Reparaturen und anderer Dienstleistungen. Die Einbeziehung von Kleinstbetrieben in die zentrale staatliche Planung hat sich dabei als kein günstiger Weg erwiesen.

Es ist unbestritten, daß der Abbau des Privatkapitals — insbesondere im Bereich der Industrie — eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus in der DDR darstellt. Eine andere wesentliche Voraussetzung ist jedoch die noch stärkere Einbeziehung der Werktätigen in die Planung und Leitung der Wirtschaft auf allen Ebenen. Und auf diesem Gebiet sind die vorhandenen Mechanismen der Mitbestimmung bei weitem noch nicht ausreichend, wenngleich die neue Sozialistische Verfassung von 1968 die reale Selbstbestimmung der Werktätigen vorsieht. Es ist jedoch nur für Apologeten möglich, hier eine Übereinstimmung von Verfassungsnorm und gesellschaftlicher Wirklichkeit festzustellen.

In den letzten 10 Jahren wurden vielfältige Formen der Mitbestimmung geschaffen — von der Neuererbewegung bis zur Tätigkeit der Betriebsgewerkschaftsleitungen und im Bereich der Sozial- und Arbeitsgesetzgebung. Dennoch müßte heute mehr denn je die reale Selbstbestimmung der Werktätigen im Mittelpunkt der Weiterentwicklung der sozialistischen Produktionsverhältnisse stehen. Die 5. Tagung des ZK der SED, die im übrigen weitere Verbesserungen auf dem sozialen Sektor (von Mietzinssenkungen über Förderung berufstätiger Mütter bis zu Rentenerhöhungen und Verbesserungen der Sozialfürsorge) beschlossen hat, hat in diesem Bereich keine neuen Perspektiven eröffnet. Insofern sind die neuen Sozialisierungsmaßnahmen notwendige, aber nicht hinreichende Schritte des Aufbaues des Sozialismus in der DDR.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
1972
, Seite 9
Autor/inn/en:

Adalbert Krims:

Geboren 1948 in Freistadt, Oberösterreich. Ehemals katholischer Religionslehrer und Diözesanjugendführer in Linz, Angestellter des Wiener Instituts für Entwicklungsfragen, Sekretär der Paulusgesellschaft‚ Mitbegründer der Aktion Kritisches Christentum, ab 1970 Redakteur des FORVM und Obmann des Vereins der Redakteure und Angestellten des NEUEN FORVMs.

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags

Begriffsinventar

Geographie