FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 125
Willy Brandt

Vaterland statt Vaterländer

Wir müssen offen sagen: Es steht nicht gut um Europa. Wo die Zusammenarbeit verstärkt werden müßte, herrscht Wirrwarr. Wo die Ziele weiter gesteckt werden müßten, herrscht Kleinmut.

Die wirtschaftliche Einigung im Bereich der Sechs schreitet trotz allem voran. Sie entwickelt sich immer mehr zu einer eigenständigen Größe, die auch in der übrigen Welt anerkannt wird. Das darüber hinaus reichende Ziel hingegen, die eigentliche politische Einigung, stagniert und kommt trotz weithin anerkannter Dringlichkeit nicht über Reden von Staatsmännern hinaus.

Viele Menschen betrachten die Entwicklungen in Europa mit Unruhe und Sorge. Sie beklagen, daß der Schwung vergangener Tage abhanden gekommen ist. Es fehlt auch der lebendige Kontakt zwischen den europäischen Institutionen und den Bürgern, die diese tragen sollten. Man muß sich erinnern, mit welcher Hoffnung aktive Kräfte in den verschiedenen Völkern die Einigung Europas zu ihrer Sache gemacht hatten; mit welchem Elan nicht nur Vereinigungen mit diesem Ziel gegründet wurden, sondern auch die Parteien, die Gewerkschaften, Jugendverbände und andere sich des europäischen Gedankens annahmen. Grenzpfähle wurden abgerissen und Zollschilder verbrannt. Das Zeitalter der europäischen Aussöhnung nach einem schrecklichen Kriege schien angebrochen.

Viele dieser Kräfte sind müde geworden. Die Ursachen sind nicht allein in spektakulären Ereignissen zu sehen. Aber die Absage an das Beitrittsersuchen Großbritanniens vom Januar 1963 hat natürlich auf viele enttäuschend gewirkt. Das gilt auch für die Alleingänge, die mangelhafte Zusammenarbeit, die hemmenden Vorbehalte der Gemeinschaft.

Es geht noch um etwas anderes: Der Bürger in Europa hat ein Gefühl der Ohnmacht. Er sieht keine Möglichkeit, selbst tätig zu werden oder Einfluß zu nehmen. Der Bürger in Europa findet sich im Durcheinander der europäischen Institutionen, Räte und Kommissionen nicht zurecht. Der Bürger in Europa sieht die Dinge vielfach nur als ein Streben nach eurokratischem Perfektionismus, der für ihn weder überschaubar noch kontrollierbar ist.

Der Bürger in Europa hört viel vom Schutz der Produzenten, aber wenig vom Schutz der Konsumenten. Der Bürger in Europa ist enttäuscht, weil sich der Abbau der Zollschranken für ihn nicht auszuzahlen scheint. Für ihn steigen die meisten Preise, statt zu fallen.

Die Aufgabenstellung ist umfassender, als manche Politiker glauben, wenn sie ihr Wort für den Motor aller Dinge halten. Die Entwicklungen in Europa müssen wieder mehr in die Hände der Völker und ihrer aktiven Bürger gelegt werden.

Unser Europa ist kein Museum. Dieser unser Kontinent birgt immer noch Kräfte in sich, die nur geweckt und geordnet werden müssen, um Wesentliches zu vollbringen. Der Druck der Völker hat bewirkt, daß unmittelbar nach Beseitigung der ersten Nachkriegsnot jene großen Einrichtungen geschaffen wurden, die als Beginn der europäischen Einigung umjubelt wurden. Männer, deren Namen inzwischen in die europäische Geschichte eingegangen sind, haben sich an die Spitze dieser Kräfte gesetzt und haben sie politisch geformt. Niemand durfte und darf jedoch glauben, daß man Europa erstürmen kann wie eine Bastille. Diese Neugestaltung ist ein dorniges Werk.

Millionen, vor allem junge Menschen, sehen voll Hoffnung auf eine Entwicklung, von der sie wissen oder ahnen, daß in ihrem Erfolg zugleich die eigene Zukunft begründet liegt. Diese Hoffnung ist Bürde und Ansporn zugleich für die Männer, die in der Gegenwart politische Verantwortung tragen.

Ist diese Hoffnung nun berechtigt? Ich glaube, daß wir trotz allem zuversichtlich sein dürfen. Gemessen am Ausgangspunkt sind die Gemeinschaftsleistungen von Luxemburg und Brüssel und Straßburg unbestreitbar Erfolge. Daran können auch die Negativisten nichts ändern, die aufzählen, was alles nicht geschafft worden ist.

Wenn es nun gelingen sollte, mehr als 80% der nationalen Landwirtschaften in europäische Bestimmungen einzuordnen, dann wird damit eine Leistung vollbracht worden sein, die der Montanunion nicht nachsteht.

Nach den schwierigen Auseinandersetzungen im Ministerrat der EWG besteht wohl auch Anlaß zu der Hoffnung, daß aus der Gemeinschaft kein sich abkapselndes Gebilde werden wird, sondern daß sie jene weltoffene Haltung einnehmen wird, mit der allein sie sich in den größeren Zusammenhängen behaupten kann.

Übergang zu 1975

Sicher dürfen wir nicht verkennen, daß jedes Aufgehen nationaler Souveränitätsrechte in neue Formen überstaatlicher Souveränität schwerfällt. Nationale Interessen wiegen oft immer noch schwerer als europäische Notwendigkeiten. Vor der gemeinsamen Heimstatt Europa liegen immer noch viele Barrieren unserer einzelnen Vaterländer.

Ich habe persönlich nichts gegen die Formel vom Europa der Vaterländer. Aber sie darf nicht den Weg verbauen zur größeren Heimstatt Europa.

Auch wenn sich viele dagegen wehren: Wir sind bereits in der Phase des Übergangs. Jene Kräfte, deren Denken noch über Gebühr von nationalen Gesichtspunkten geprägt wurde, werden nach und nach durch unverbrauchte Kräfte abgelöst. In den Völkern wachsen neue Generationen heran, für die die schrecklichen Erlebnisse der nationalstaatlichen Exzesse Geschichte sind. Ihr Blick geht nicht zurück nach 1945, sondern vorwärts nach 1975.

Diese Chance gilt es zu nutzen. Es gilt, den retardierenden Kräften eine europäische demokratische Strategie gegenüberzustellen. Dadurch können wir auch das Mißverhältnis überbrücken zwischen dem Unbehagen des Bürgers und den nachweisbaren Teilerfolgen europäischer Zusammenarbeit und Integration. Die begeisterte Zustimmung, die John F. Kennedy in der ganzen Welt über seinen Tod hinaus gefunden hat, sollte uns aufhorchen lassen. Dies war ein Beweis dafür, daß die Völker bereit sind, wenn sie gerufen werden.

Vor uns liegen vier Aufgaben:

  1. Die Vereinigung Europas durch die Zusammenführung der bisherigen Gemeinschaften und die Verbesserung ihrer demokratischen Struktur.
  2. Die Vereinigung Europas mit Hilfe einer neuen politischen Initiative, durch die Außenpolitik, Sicherheit und Kultur einbezogen werden.
  3. Die Vereinigung Europas durch die Ausdehnung der Kernzelle der Sechs auf die Länder, die zur Mitarbeit bereit sind.
  4. Die Vereinigung Europas durch entschlossene Schritte auf dem Wege zur Atlantischen Partnerschaft.

Wenn wir von den europäischen Möglichkeiten sprechen, dann ist die Zusammenlegung der drei Exekutiven der Gemeinschaften EWG, Montanunion und Euratom das nächste Ziel. Daran wird gearbeitet. Bei der Zusammensetzung der neuen Kommission sollte sichergestellt sein, daß die Mitgliedsstaaten und die maßgebenden demokratischen Kräfte angemessen beteiligt werden. Ein Mitglied sollte das besondere Vertrauen der Gewerkschaften genießen.

Für den Bürger in Europa kann dieser Vorgang bedeuten, daß die Dinge überschaubar werden. Im Zusammenhang damit steht die Straffung der Politik und die Rationalisierung der Verwaltung. Das ist lohnend genug und mag zu einer Weiterentwicklung auf anderen Gebieten anregen.

Jeder kämpft für seine Bauern

Aus den Vertragstexten der drei Gemeinschaften wäre dann ein einheitliches Vertragswerk zu machen. Dieser Vorgang muß aber in allen seinen Aspekten durchdacht werden, sonst kann mehr Schaden als Nutzen angerichtet werden. Ohne einen in wesentlichen Fragen übereinstimmenden politischen Willen müßte diese Fusion Stückwerk bleiben.

Die europäischen Exekutiven haben den Auftrag, für 172 Millionen Menschen europäisch zu denken und zu handeln. Aber es hat sich gezeigt, daß das politische Gewicht, das den Exekutiven zugemessen wird, in keinem rechten Verhältnis zu ihren Möglichkeiten steht. Dies ist nicht nur eine Frage der Ausstattung mit eigenen Finanzmitteln. Es ist auch eine Frage des Nicht-Steckenbleibens im Nur-Fachlichen.

Denn es bleibt die eigentliche Aufgabe, die politische Einigung Europas voranzubringen.

Den Exekutiven gegenüber stehen die Ministerräte. Die Erfahrung hat gezeigt, daß bei ihnen das europäische Gewissen meist schwächer ist als das nationale Denken. Man kommt dann über einen Ausgleich nationaler Interessen kaum hinaus. Jeder kämpft für seine Bauern, jeder kämpft für seine Produzenten. Dem einzelnen Minister kann man das nicht einmal übelnehmen. Aber es gibt auch einen europäischen Normalverbraucher. Er kann den Eindruck gewinnen, für ihn werde weniger gekämpft als für andere.

Auf zahlreichen Sachgebieten läßt sich das Interesse an einer europäischen Lösung überzeugend darlegen. Es gilt, sie aufzuzeigen. Soll das große Abenteuer des Weltraums amerikanischen und russischen jungen Menschen vorbehalten bleiben? Resigniert Europa im Wettkampf um technische Spitzenleistungen? Kann irgend jemand behaupten, daß die einzelnen europäischen Staaten allein zu solchen Leistungen befähigt sind? Wer wagt es aber, auf sich zu nehmen, der Jugend unserer Völker eine zweitrangige, eine eingeschränkte Zukunft anzubieten?

Auf dem Weg, der jetzt unmittelbar vor uns liegt, muß dem Europa-Parlament mehr Verantwortung übertragen werden. Budgetaufstellung und -kontrolle sind die stärksten Funktionen eines Parlaments neben der Gesetzgebung. Sie sollten deshalb zuerst entwickelt werden. Schritt für Schritt sollte die Delegierung weiterer Rechte vom Ministerrat und den nationalen Volksvertretungen auf das Europa-Parlament erfolgen. Von der Umwandlung des Konsultationsrechts in ein Mitwirkungsrecht bis zur Kontrolle des Verordnungsrechts bieten sich viele Möglichkeiten, den erklärten Willen zur Demokratisierung endlich in die Tat umzusetzen.

Ein europäisches Parlament

Das Ziel bleibt ein Parlament, das durch europäische Wahlen zustande kommt. Das ist vertraglich auch vorgesehen. Es kommt darauf an, formale Bedenken Schritt für Schritt zurückzudrängen. Die politische Einigung Europas bleibt das Erfordernis des Tages, trotz allen Schwierigkeiten. Die Völker Europas haben einen Anspruch darauf. Sie warten darauf.

Eine Weiterentwicklung ist aber nur möglich, wenn weitere Regierungsbefugnisse zusammengefaßt werden. Notwendig ist dies auf den Gebieten der Außenpolitik, einschließlich ihrer Sicherheits-Komponente und der Kultur, d.h. vor allem der großen neuen Aufgaben, vor die uns die wissenschaftlich-technische Revolution stellt. Erst wenn Europa wenigstens in den Grundfragen mit einer Stimme spricht, kann es zu einem wirklichen Partner der USA werden — zur zweiten Weltmacht im Westen und damit auch zu einem wirklichen Faktor gegenüber dem sowjetischen Machtblock. Nicht nur im Sinne des Sichbehauptens, sondern auch im Sinne der Vorbereitung und Gestaltung einer friedlichen Koexistenz, die diesen Namen verdient.

Regelmäßige Treffen der Regierungschefs können eine Starthilfe sein. Sie führen aber nur dann zu dem erstrebten Ziel, wenn der Wille besteht zu einer Delegation nationaler Befugnisse auf eine europäische Körperschaft mit klarer parlamentarischer Verantwortung.

Nun stehen wir der Tatsache gegenüber, daß die politische Führung Frankreichs keine Souveränitätsrechte abgeben möchte, und — was oft übersehen wird — daß hier bei allen sonstigen Meinungsverschiedenheiten eine tatsächliche Übereinstimmung mit Großbritannien vorliegt.

Es gibt kein Europa ohne Frankreich und es gibt kein Europa, das gegen den Willen Frankreichs geschaffen werden kann. Das gilt aber auch für England. Die Frage ist: Sollen wir resignieren? Die Antwort lautet: Nein. Europa ist erst dann verloren, wenn wir wegen der Schwierigkeiten des Heute unsere Vorstellungen vom Morgen aufgeben.

Bevor dieses Morgen erreicht ist, müssen wir unberührt und zäh Schritt für Schritt vorangehen. Das heißt: Es darf keinen Beschluß geben, der die Weiterentwicklung blockiert. Eine Körperschaft der Regierungschefs darf nicht so konstruiert werden, daß sie zur nationalen Revisionsinstanz gegenüber den Beschlüssen der Gemeinschaft wird. Eine solche Fehlkonstruktion ist abzulehnen, weil sie das Erreichte in Frage stellen würde.

Der Zusammenschluß der Sechs ist nicht der Weisheit letzter Schluß und nicht schon Europa. Für die Gemeinschaft des freien Europa brauchen wir die Schaffenskraft und die demokratischen Traditionen Großbritanniens und der skandinavischen Länder. Der bündnisfreie Status von Österreich, Schweden und der Schweiz schafft für diese Staaten eine besondere Lage. Aber es können und müssen Formen der Zusammenarbeit gefunden werden, die diesem Status Rechnung tragen.

Wir müssen auch an der Hoffnung festhalten, daß die Völker der iberischen Halbinsel den Weg zur demokratischen Zusammenarbeit finden werden.

Die Ansätze einer Kommunikation mit den Staaten des Ostblocks sollten erweitert werden. Auch dort lebt Europa als Hoffnung der Menschen. Und wir müssen eine Perspektive deutlich machen, die das osteuropäische Lebensniveau dem westeuropäischen angleicht. Es ist nicht zu früh, diesen weiteren Horizont ins Auge zu fassen.

Offenheit der Zusammenarbeit und Offenheit des Beitritts sind die Prinzipien, nach denen wir angetreten sind. Sie schließen jede Diskriminierung Dritter aus. Das trifft auch zu auf die jungen Nationen Afrikas, die einen Anspruch auf unsere Hilfestellung haben.

Bleibt die große Aufgabe der atlantischen Partnerschaft. Sie ist in einem gewissen Sinne der Schlußstein, auch wenn die europäische und atlantische Entwicklung parallel laufen mögen. Es kann heute kein Streitobjekt mehr sein, ob Europa als Dritte Kraft oder als weltpolitischer Schiedsrichter fungieren soll. Das ist geschichtlich überholt.

Amerika wartet auf Antwort

Nur durch die Partnerschaft mit den USA besteht die Chance, Europa wirksam zu schützen, damit den Frieden zu sichern und sich den großen konstruktiven Aufgaben zuzuwenden, die über die Fragestellungen des Kalten Krieges weit hinausführen.

Es geht nicht um ein Satellitenverhältnis zu den USA. Auf dem Tisch liegt immer noch das Angebot vom 4. Juli 1962. Noch bei seinem Besuch in Deutschland im vorigen Sommer sagte der verstorbene amerikanische Präsident: „Wenn die Vereinigten Staaten nach der Vorherrschaft in Europa strebten, so würden sie sich nicht für dessen Einigung einsetzen.“

Das Angebot, das Präsident Johnson sich zu eigen gemacht hat, erwartet immer noch eine angemessene Antwort. Sie wird zunächst zu geben sein bei den Zollverhandlungen in Genf, die das Ziel haben, die Handelsbeschränkungen zwischen Amerika und Europa und darüber hinaus in der freien Welt abzubauen.

Ich möchte es mit Nachdruck betonen: Die Kennedy-Runde ist die Bewährungsprobe für den Außenwirtschaftskurs der EWG, desgleichen für die Einstellung der EWG zu anderen europäischen Ländern.

Zollsenkungen sind nur erste Schritte. Die Mitarbeit am Aufbau einer liberalen Weltwirtschaft bedeutet mehr. Sie bedeutet ein Miteinander, eine laufende Abstimmung der Wirtschaftspolitik, ja, weiter Bereiche der Politik überhaupt.

Partnerschaft ohne eine gemeinsame Sicherheitspolitik ist undenkbar. Dies gilt auch für die Fragen der Verteidigung mit nuklearen Waffen. Es gehört zum Wesen der Freiheit, daß man Verantwortung mittragen will. Und es entspricht dem gesunden Selbstvertrauen der Völker Europas, daß sie teilhaben wollen an den schicksalsschweren Entscheidungen auch der nuklearen Strategie.

  1. Die europäischen Völker können auf das Mitspracherecht für strategische Entscheidungen nicht verzichten, und sie dürfen sich ihrer Mitverantwortung nicht entziehen.
  2. Es gibt nach Lage der Dinge nur eine einheitliche atlantische Strategie, die wirkliche Sicherheit bringen kann. Das steht nicht im Gegensatz dazu, daß Europa wissenschaftlich und auch politisch eine Weltmacht werden kann. Uns Europäern kann aber nicht daran gelegen sein, die Zahl der Atommächte wachsen zu lassen.
  3. Auch bei gemeinsamen militärischen Vorhaben innerhalb des atlantischen Bündnisses muß die einheitliche, zentrale Entscheidungsbefugnis über die nuklearen Verteidigungsmittel erhalten bleiben.

Europa hört nicht an der Mauer auf

Als deutscher Politiker darf ich hinzufügen: Die Bundesrepublik hat auf die Herstellung von Atomwaffen verzichtet, und dabei soll es bleiben. An den gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen haben wir uns zu beteiligen. Wegen unserer besonderen politischen Situation fällt uns Deutschen gleichzeitig die Aufgabe zu, den Fragen der Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle besondere Bedeutung beizumessen.

Ich trage in einer Stadt Verantwortung, die entgegen dem Willen ihrer Bevölkerung oftmals im Brennpunkt der Weltpolitik gestanden ist. In Berlin wurde vor kurzem sichtbar demonstriert, wie sehr die Menschen sich danach sehnen, daß die willkürliche Trennung unzähliger Familien und eines ganzen Volkes überwunden oder zunächst mindestens gemildert wird.

Wenn von Europa die Rede ist, dann habe ich die Pflicht, auch für jene meiner Landsleute zu sprechen, die hinter Mauer und Stacheldraht leben. Der Wille zur europäischen Einheit muß die Überwindung widernatürlicher Spaltung mit einschließen.

Aus meiner Berliner Erfahrung und deutschen Verantwortung muß ich sagen: Wir dürfen im Ringen um menschliche Erleichterungen nicht nachlassen. Hieran wird die Bereitschaft zur Entspannung zunächst zu messen sein.

Wir dürfen aber nicht auf die eigentlichen, dauerhaften Lösungen verzichten. Sonst dienen wir nicht den wohlverstandenen Interessen einer echten Koexistenz. Wir dürfen vor allem nicht zulassen, daß Europa durch westliche Rivalitäten weiterhin geschwächt und gespalten wird.

Das Werk der Aussöhnung mit unserem französischen Nachbarvolk bleibt für uns Deutsche etwas Großes und Unverzichtbares. Natürlich kann es nicht Selbstzweck sein, sondern muß der Entwicklung in Europa zusätzliche Energien zuführen.

Die große Kraftquelle der Demokratie ist die öffentliche Meinung. Sie gilt es zu mobilisieren, damit wir aus der Lethargie herauskommen. Wir sind wohl alle etwas lahm geworden. Die Einigung Europas darf nicht zur Utopie werden. Sie muß die Aufgabe von heute bleiben, damit wir morgen leben können.

Der Regierende Bürgermeister von Berlin hielt die oben in ihren wesentlichen Teilen wiedergegebene Rede vor dem Gewerkschaftskongreß der EWG-Staaten in Paris. Willy Brandt kam im FORVM bereits mit dem Vortrag „Abschied vom 19. Jahrhundert“ (X/118) zu Wort.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1964
, Seite 238
Autor/inn/en:

Willy Brandt:

Willy Brandt war von 1964 bis 1987 Vorsitzender der SPD, von 1969 bis 1974 Bundeskanzler der BRD.

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