FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1970 » No. 197/II
Josette Alia

Unternehmen Goldmann

Der Staat Israel, im Teufelskreis der Gewalt, gleicht kaum mehr der sozialistischen und pazifistischen Nationalheimstätte der Juden, von der die den großen Progromen Eintkommenen träumten. Die Gründer dieses Staates sind in den Krieg hineingeschlittert. Zumindest einen gibt es noch, der versucht, Traum und Wirklichkeit zu versöhnen. Nahum Goldmann, 75 Jahre alt, groß, massig, Präsident des Jüdischen Weltkongresses, ein faszinierender und umstrittener Mann, wollte endlich die Öffnung wagen: er wollte Nasser in Kairo treffen, ihn anhören, ihm antworten, vielleicht ins Gespräch kommen.

Seit mehr als 20 Jahren wurde kein israelischer Bürger von einem arabischen Staatschef empfangen. Nasser hatte dem Besuch zugestimmt. Eine einzigartige Chance. Hätte diese „private“ Kontaktaufnahme nicht Anfang eines Dialogs sein können, Vorspiel zu Verhandlungen, erster Schritt zu einem „direkten“ Frieden?

Durch die Schuld Golda Meirs ist aus all dem nichts geworden.

Im Prinzip hätte dieses Rendezvous erfolgreich sein müssen. Alles sprach dafür: die seriöse Vorbereitung, das günstige Klima, der Mann, um den es ging. Nahum Goldmann ist weder Diplomat noch Politiker, weder Staatschef noch graue Eminenz, sondern all das und noch etwas mehr. Als Präsident des Jüdischen Weltkongresses, das heißt der Organisation, die alle jüdischen Gemeinschaften, Parteien, Bewegungen in der Welt umfaßt, übt er unleugbare moralische Autorität über das vielfältige, zerstreute und spezifische Volk der Juden.

Sein Leben beginnt wie das einer Figur aus einem Chagall-Bild: Visznevo, wo er 1895 geboren wurde, ist ein „Stetl“ — eines jener kleinen russischen Dörfer, in denen eine kleine, sehr religiöse Judengemeinde lebt. Dort lernt er bei seinem Großvater, einem Rabbiner, niemals auch nur den geringsten Minderwertigkeitskomplex zu empfinden („Gegenüber den Großen dieser Welt habe ich mich immer anders, aber nie klein gefühlt“, sagt er). Als überzeugter Zionist opponiert er sehr bald gegen Hitler, als er in Deutschland an der Heidelberger Universität Rechtswissenschaften und Philosophie studiert.

1934 wird er wegen antinazistischer Tätigkeit zum Tod verurteilt; er entgeht nur um ein Haar der Gestapo. 1935 flieht er in die Schweiz, wo er in Genf die Jewish Agency vertritt. Hier beginnt seine internationale Laufbahn im Dienst des Zionismus, im Dienst der jüdischen Interessen in der Welt, im Dienst der Geheimdiplomatie und der Verwirklichung seiner eigenen, oft originellen, nonkonformistischen Anschauungen. 1945 ist er der erste, der für Verhandlungen mit Deutschland eintritt und die Zahlung von beträchtlichen Reparationsgeldern durchsetzt.

1948 empfindet er es als „tragisch“, daß Israel, der Staat, dessen Errichtung er so lebhaft gewünscht hat, auf dem Weg über einen Krieg und nicht über Verhandlungen entstanden ist. Er spricht dies auch offen aus und schafft sich damit in Israel ein paar solide Feinde. Später ist es wieder er, der dank seinen sowjetischen Freunden eine Reihe heikler Verhandlungen mit der Sowjetunion führt und seit fünf Jahren die Auswanderung einiger tausend Juden pro Monat nach Israel durchsetzt. Er ist der Mann der großen Coups, der langen und heiklen Geschäfte, die er sorgfältig vorbereitet, bevor er sie mit all den Gaben, die er hat, zum Erfolg führt — mit Intelligenz, mit ungestümem Talent, Überzeugungskraft und der erstaunlichen Fähigkeit, sich überall berühmte Freunde zu machen.

Goldmann hätte sicher auch bei seinem letzten „Geschäft“ Erfolg gehabt, bei seinem Geschäft mit Nasser. Er hatte es schon sehr früh eingefädelt, nach dem Sechstagekrieg, in der Überzeugung, daß Israel nur dann aus der Sackgasse findet, wenn es sich wirklich mit den Arabern verständigt, sei es auch um den Preis einiger Konzessionen.

Schon im März 1968 schickt er seinem Freund Tito einen Brief, um ihn für die Vorbereitung eines Treffens mit Nasser zu gewinnen.

Der Plan ist nicht neu; 1956, vor der Suezexpedition, wäre er fast schon einmal gelungen, aber der Krieg kam dazwischen.

Ende 1969 nimmt Goldmann mit den Sowjets Kontakt auf, insbesondere mit seinem Freund Dobrynin. Sie treffen sich in Washington. Dobrynin überbringt die Botschaft nach Kairo. Nassers erste Antwort ist eher reserviert. Er will Goldmann zwar empfangen, aber man einigt sich nicht über die Form.

Am 18. Februar 1970 scheint sich in der Politik der israelischen Regierung ein Wandel anzubahnen: erstmals scheint Golda Meir nachzugeben. Sie ist bereit, ihre Regierung der nationalen Einheit zu beenden, wenn sie sicher ist, daß ein arabischer Staat wirklich den Frieden will. Gibt dies für Nasser den Ausschlag? Diesmal akzeptiert er, via Tito, prinzipiell ein Treffen mit Goldmann. Er stellt zwei Bedingungen: der Besuch Goldmanns in Kairo wird „weder heimlich noch offiziell“ sein, und die israelische Regierung muß hierüber informiert werden.

Goldmann ergreift sofort alle Initiativen. Anfang April fährt er nach Jerusalem und trifft Golda Meir. Sein Ziel ist klar: nach langem Schweigen hat er seinen eigenen „Friedensplan“ für Israel entwickelt, insbesondere in einem Artikel in „Foreign Affairs“, dann auch in der israelischen Presse (die großen Züge dieses Planes legt er im folgenden Interview dar). Aber er geht nicht als Verhandlungspartner nach Kairo, und er wird dort nicht im Namen der israelischen Regierung agieren. In Kairo wird er sich zunächst darauf beschränken, Nassers Standpunkt anzuhören. Was in dieser Frage zählt, ist im Augenblick die konkrete Geste. „Ich bin nicht der israelische Jarring“, stellt Goldmann klar.

Frau Meir versteht nicht oder gibt vor, nicht zu verstehen. Eine alte persönliche Feindschaft trennt sie von Goldmann. Handelt es sich um eine oberflächliche, emotionelle Reaktion oder geht es um einen inhaltlichen, grundsätzlichen Gegensatz? Sie beginnt die Frage sofort zu dramatisieren: es komme nicht in Frage, Goldmann zu „ermächtigen“, ohne vorher das ganze Kabinett einzuberufen.

Das bedeutet, die ganze Frage an die Öffentlichkeit zu bringen; die so aufgedeckte Aktion kann nur scheitern ...

Sie scheitert tatsächlich, bevor sie überhaupt noch in die Wege geleitet ist. Aber der Preis, den die israelische Regierung hierfür zu bezahlen hat, wird hoch sein.

Zunächst gerät die Regierung selbst an den Rand einer ernsten Krise. Zwei Tendenzen stehen einander gegenüber: Golda, Weizmann und alle Anhänger des „harten“ Kurses sind gegen Goldmann, mit dem Vorwand, ein solcher Mann könne sie in keinem Fall vertreten, da er nicht ihre Ansichten teile. Dayan dagegen ist der Meinung, man solle Goldmann nach Kairo fahren lassen. „Wenn es Risken dabei gibt, soll er sie eingehen.“

Ebenso wie Goldmann, den er seit langem kennt und sehr schätzt, ist Dayan der Ansicht, daß man die Dinge voran und Nasser in die Enge treiben soll. Wird er gegen Golda stimmen? Dies wäre eine offene Krise, der Bruch der heiligen nationalen Einheit ... Die kleine patriotische Erpressung funktioniert: Dayan steht schließlich doch zu Golda Meir, widerwillig akzeptiert er die Entscheidung der Regierung, Goldmann täuscht sich nicht: „Wenn Dayan Premierminister wäre, wäre ich in Kairo gewesen“, sagt er zu Freunden.

Der zweite Schock folgt bald darauf: er kommt von der öffentlichen Meinung in Israel. Zum erstenmal seit Jahren wird die Regierungspolitik offen kritisiert. Der Mann von der Straße, der Durchschnittsisraeli, fragt sich: Nasser hat schließlich einmal einen Kontakt, wenn auch nur einen privaten, so doch einen direkten Kontakt gesucht. Warum hat man diese Gelegenheit nicht erfaßt?

Eine Meinungsumfrage, die kürzlich in der israelischen Tageszeitung „Haaretz“ veröffentlicht wurde, erbrachte ein sensationelles Ergebnis: 63 Prozent der Israelis stehen einem Treffen zwischen Nasser und Goldmann positiv gegenüber.

Dies ist zwar vielleicht noch nicht der Zusammenbruch des nationalen Konsens, der seit drei Jahren in Israel herrscht, aber ein gewaltiger Riß in dieser Einheit.

Trotzdem sind die schwersten Folgen des politischen Fehltritts von Golda Meir vielleicht noch gar nicht sichtbar. Diese Folgen betreffen die Diaspora, die wesentliche Unterstützung, das unerläßliche Hinterland Israels. In New York ist die jüdische Gemeinde verärgert über den Schritt der israelischen Regierung, der ihr nicht nur als unverständliche Intransigenz, sondern auch als politischer Fehler erscheint. Aus der ganzen Welt, aus allen jüdischen Gemeinschaften kommen negative Reaktionen.

Damit wird eine wertvolle Unterstützung Israels gefährdet, und dies zu einem Zeitpunkt, wo die USA mit der Entsendung Joseph Siscos nach Kairo vielleicht einen neuen Kurs einschlagen wollen, vielleicht sogar die lang unterbrochenen Beziehungen mit Nasser wieder anknüpfen wollen.

Eine düstere Bilanz. Ist dies der Tod einer großen Hoffnung? Nicht unbedingt. Nahum Goldmann ist ein hartnäckiger Mann, er lernt aus einem Mißerfolg. Er wird zwar nicht nach Kairo fahren — aber in Israel und in Ägypten hat er etwas in Bewegung gesetzt.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1970
, Seite 563
Autor/inn/en:

Josette Alia:

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