FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1967 » No. 167-168
Hans Thirring

Unbewaffnete Neutralität — zweite Runde

Die Herren Minister Prader, Generalmajor Spannocchi und mein verehrter Kollege Verdroß haben sich in Artikeln, die in den Heften Juni/Juli und November/Dezember 1966 des Neuen FORVM erschienen sind, mit meinen ebendort im Juni/Juli-Heft dargelegten Thesen über eine unbewaffnete Neutralität auseinandergesetzt. Bevor ich auf ihre Einwände eingehe, möchte ich zur Vermeidung von Mißverständnissen betonen, daß ich unter dem von mir geprägten Wort „Neomilitarismus“ in gar keiner Weise etwas Diffamierendes verstehen will, wie etwa einen Neonazi, dem man ja tatsächlich mit Recht einen Vorwurf machen muß, weil er aus der Vergangenheit nichts gelernt hat. Meine Definition des Neomilitaristen lautete:

Dem Neomilitaristen fällt es zwar nicht ein, selbst aggressiv zu sein; für ihn dient das Militär nur zur Verteidigung, aber er setzt mit voller Selbstverständlichkeit die Angriffslust der anderen Staaten voraus. Darum gilt ihm geradezu als Dogma, daß nur die Existenz einer eigenen, glaubhaft starken Verteidigung die Heimat vor Raub und Unterdrückung schützen könne.

Die damit gekennzeichnete Denkweise ist sehr weit verbreitet und ich bitte die sehr geehrten Gegner meiner Auffassung, es nicht als Beleidigung aufzufassen, wenn ich sie als Neomilitaristen bezeichne. Im gegenwärtigen Zustand der mangelhaften Aufklärung über die Absichten der Politiker auf der jeweils anderen Seite des Eisernen Vorhanges sind die Neomilitaristen auf beiden Seiten wahrscheinlich in der Überzahl. Es ist insbesondere den Berufsoffizieren gar nicht zu verargen, daß sie so denken; wenn sie schon einmal den Offiziersberuf gewählt haben, dann ist es ganz begreiflich und in Ordnung, wenn sie von seiner Notwendigkeit und Bedeutung überzeugt sind. Nur sollte man in diesen Fragen wie in allen anderen nicht so weit gehen, daß man die Ohren gegen die Argumente Andersdenkender völlig verschließt.

Beim Problem der bewaffneten oder unbewaffneten Neutralität handelt es sich von vornherein um die beiden Fragen:

  1. Darf ein neutraler Staat einseitig abrüsten, ohne da durch den Status seiner Neutralität zu verlieren?
  2. Kann er dies tun, ohne zu riskieren, daß er von irgend einem anderen Staat vergewaltigt wird?

Die Autoren Prader, Spannocchi und Verdroß beschäftigen sich in erster Linie mit der Frage der Zulässigkeit einer Abrüstung neutraler Staaten vom Standpunkt des internationalen Rechtes. In den Diskussionen darüber war innerhalb der letzten Jahre eine deutliche Verschiebung der Argumentation erkennbar. Anläßlich des Beginnes der Genfer Abrüstungskonferenzen im Jahre 1962 diskutierte ich über die Möglichkeit einer Abrüstung Österreichs mit Kollegen aus dem Bundesrat und mußte mit Erstaunen feststellen, daß viele von ihnen meinten, wir seien durch den Staatsvertrag zur Aufrechterhaltung eines Bundesheeres verpflichtet. Demgegenüber war leicht nachzuweisen, daß diese Auffassung falsch ist. Man braucht sich nur die Mühe zu nehmen, den Staatsvertrag (Bundesgesetzblatt 1955, Stück 39, No. 152) aufmerksam zu lesen, um herauszufinden, daß seine Bestimmungen über militärische Angelegenheiten nur Klauseln enthalten, die besagen, was wir nicht besitzen oder benutzen dürfen (Atomwaffen, Raketen, U-Boote, Kanonen mit mehr als 30 km Reichweite usw.). Dagegen existieren keine wie immer gearteten Bestimmungen, die uns zur Bewaffnung ermuntern oder gar verpflichten.

Darf Österreich abrüsten?

Seitdem ich in zahlreichen Artikeln und Vorträgen auf diese Tatsache hingewiesen habe, ist von einer Verpflichtung durch den Staatsvertrag weniger die Rede; statt dessen hat man mehrmals das Moskauer Memorandum und das Neutralitätsgesetz herangezogen, beides Dokumente, in denen ebenfalls kein Wort von einer Verpflichtung zur Bewaffnung enthalten ist.

Nun stützen sich die drei oben zitierten Autoren auf das V. Haager Landkriegsabkommen vom 18. Oktober 1907. Die für den vorliegenden Fall in Frage kommenden Stellen dieses Vertrages sind laut Angabe von Prof. Verdroß die Artikel 5 und 10. Ich lege sie hier dem Leser im vollem Wortlaut vor:

Artikel 5

Eine neutrale Macht darf auf ihrem Gebiet keine der in den Artikeln 2 bis 4 bezeichneten Handlungen dulden. Sie ist nur dann verpflichtet, Handlungen, die der Neutralität zuwiderlaufen, zu bestrafen, wenn diese Handlungen auf ihrem eigenen Gebiete begangen sind.

Artikel 10

Die Tatsache, daß eine neutrale Macht eine Verletzung ihrer Neutralität selbst mit Gewalt zurückweist, kann nicht als eine feindliche Handlung angesehen werden.

Das Wesentliche an dem Landkriegsabkommen ist nicht etwa die, im übrigen recht unklar ausgedrückte, Definition eines neutralen Staates und seiner Verpflichtungen, sondern der kurze und unmißverständliche Artikel 1, der einfach lautet: Das Gebiet der neutralen Mächte ist unverletzlich.

Die k. und k. österreichisch-ungarische Monarchie hat den Vertrag 1913 ratifiziert, aber seine wichtigste Bestimmung schon ein Jahr später eklatant verletzt, als sie mit Deutschland zusammen das neutrale Belgien überfiel. (Österreichs Mitwirkung bei der Eroberung von Lüttich und Namur war 1914 zur Genüge gepriesen worden.) Am Ende des ersten Weltkrieges zerfiel die Monarchie. Eines der Bruchstücke davon, das zuerst Deutschösterreich, dann Österreich, später erst Ostmark, dann Donau- und Alpengaue hieß, tauchte erst 1945 wieder als Bundesrepublik Österreich auf. Es erlangte 1945 eine partielle und erst 1955 volle Souveränität. Von 1945 bis 1955 war Österreich ein unbewaffneter Staat und hat gerade in dieser Zeit (ganz anders als im ersten Dezennium nach dem ersten Weltkrieg) einen an das Wunderbare grenzenden Aufschwung in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung erlebt. Ab 1955 erlangte es auch die Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen und hat sich seitdem bei allen Abstimmungen dieser Körperschaft sehr aktiv beteiligt. Erst ab 1959, also vier Jahre nach dem Abschluß des Staatsvertrages, begann man bei der UN die Notwendigkeit einer allgemeinen Abrüstung ins Auge zu fassen. Ich zitiere im folgenden einige markante Stellen aus Resolutionen der UN, die mit Zustimmung Österreichs gefaßt wurden:

Aus der 14. Generalversammlung der Vereinten Nationen: In der Resolution A/RES/1378 (XIV) vom 20.XI.1959 wird festgestellt, daß die Frage der allgemeinen und vollständigen Abrüstung das Wichtigste ist, vor dem die Welt heute steht.

In der 16. Generalversammlung wurde am 28. November 1961 unter der Zahl A/RES/1661 (XVI) beschlossen, der Kommission die Abrüstungsvorschläge der USA und der UdSSR als Richtlinien für die angestrebten Vereinbarungen vorzulegen. In dem amerikanischen Vorschlag (der übrigens auch in Österreich durch das U.S. Information Service in deutscher Sprache verbreitet wurde) heißt es:

Ziel der Vereinigten Staaten ist eine freie, sichere und friedliche Welt unabhängiger Staaten, die gemeinsame Normen der Gerechtigkeit und des internationalen Verhaltens befolgen und die Gewaltanwendung der Herrschaft des Rechtes unterordnen, eine Welt, die eine allgemeine und vollständige Abrüstung unter einer wirksamen Kontrolle erreicht hat und eine Welt, in der sich die Anpassung an Veränderungen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Vereinten Nationen vollzieht.

Um die Erreichung dieses Ziels zu ermöglichen, führt das Programm die folgenden Teilziele an, auf die die Völker ihre Bestrebungen richten sollen: Die Auflösung aller nationalen Streitkräfte mit Ausnahme derer, die für die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und als Kontingent für eine Friedensmacht der Vereinten Nationen benötigt werden, sowie das Verbot einer Wiederaufstellung in jedweder Form.

Der Vorschlag der Sowjetunion unterscheidet sich von dem der Amerikaner hauptsächlich dadurch, daß die Russen es mit der Abrüstung noch eiliger haben.

Es bleibe nun dem Leser überlassen, zu entscheiden, was letzten Endes rechtsverbindlich ist: die aus dem Jahr 1913 stammende Unterschrift der Vertreter eines heute nicht mehr existierenden Staates unter dem Haager Abkommen, das unter anderem in nicht sehr klaren Worten über die Pflichten einer neutralen Macht spricht, oder die mit Zustimmung des österreichischen Delegierten gefaßte Resolution der Vereinten Nationen, in der ausdrücklich gesagt wird, daß die Abrüstung die wichtigste Aufgabe der Welt ist.

Ich glaube, daß meine juridischen Kollegen, die das Völkerrecht natürlich unvergleichlich besser kennen als ich, mit mir in folgender Vorhersage übereinstimmen würden: Nehmen wir an, irgendein neutraler Staat X (es muß gar nicht Österreich sein) würde sich unter seinen Nachbarn sicher genug fühlen, um abrüsten zu können (wie es Costa Rica schon vor 18 Jahren getan hat). Nehmen wir weiter an, daß ein anderer Staat Y diesen Schritt zum Anlaß nimmt, um beim internationalen Gerichtshof im Haag Beschwerde zu führen, X habe das V. Landkriegsabkommen verletzt und müsse daher aus der Liste der neutralen Staaten gestrichen werden. Würde einer solchen Beschwerde stattgegeben werden? Meine Vorhersage ist die, daß eine derartige Anklage nie eingebracht würde oder aber, falls sie käme, den Kläger selbst nur lächerlich machen würde.

Die Forderung, daß ein neutraler Staat bewaffnet sein müsse, um als solcher anerkannt zu werden, ist daher in einer Zeit, da die Mitglieder der Vereinten Nationen die Abrüstung als wichtigste Aufgabe der Menschheit einstimmig anerkennen, obsolet geworden und darum behaupte ich nach wie vor, daß eine juridisch wohlfundierte Verpflichtung zur Bewaffnung für einen neutralen Staat nicht mehr vorliegt.

Ich glaube auch nicht, daß mein sehr verehrter Kollege Verdroß fürchtet, Österreich würde nach erfolgter Abrüstung als vertragsbrüchig an den Pranger gestellt werden. Was er ebenso wie viele andere unserer Landsleute befürchtet, ist etwas Schlimmeres. Die offizielle These, die auch in vielen Schulen verbreitet wird, geht dahin, daß die Entwaffnung eines Landes von einzelnen Nachbarn geradezu als Einladung zur Invasion betrachtet würde, so daß z.B. im Falle einer einseitigen Abrüstung Österreichs die Gefahr bestünde, daß unsere östlichen Nachbarn über uns herfallen, während die westlichen Staatsmänner ähnlich wie im Jahr 1938 seelenruhig sitzen bleiben und sagen würden: „Geschieht ihnen ganz recht, warum müssen sie mit der Abrüstung vorprellen, statt deutlich genug ihre Bereitschaft und Fähigkeit zur Abwehr zu demonstrieren?“

Österreich und Israel

Zur Entscheidung der Frage, ob bewaffnete oder unbewaffnete Neutralität, muß man sich daher nicht nur überlegen, ob man abrüsten darf, sondern ob man es kann, ohne seine Freiheit zu aufs Spiel zu setzen. Die Antwort wird je nach geographischer und politischer Situation für verschiedene Länder ganz verschieden ausfallen. Israel z.B. könnte sich eine Abrüstung kaum erlauben.

Der Palästinakrieg mußte selbstverständlich den Neomilitaristen weiteren Auftrieb geben. Sie betrachten ihn als Beweis dafür, daß auch ein kleines Volk durch eine ordentlich ausgebildete Wehrmacht vor dem Untergang bewahrt werden könnte. Aber man darf die Lehren aus Asien und Afrika nicht unbesehen auf Mitteleuropa übertragen. Jeder Österreicher kann sich in seinem ungenügend gerüsteten und an drei kommunistische Nachbarstaaten angrenzendem Land bedeutend sicherer fühlen als das wohlgerüstete Israel, das einen brillianten militärischen Sieg errungen hat. Der Grund liegt einfach darin, daß im Atomzeitalter das Nichtvorhandensein eines wirklichen Feindes ein unvergleichlich besserer Schutz ist als die beste Armee. Die jüngsten Schüsse an der March waren gewiß verwerflich vom Standpunkt der Menschlichkeit, haben aber mit einer militärischen Bedrohung unseres Staates nicht das Geringste zu tun. Desgleichen könnte wohl nur ein ganz Wahnsinniger auf den Gedanken kommen, daß Italien sich etwa nach Südtirol auch noch Nordtirol und Kärnten einverleiben möchte.

Wohl aber richten sich die Besorgnisse der österreichischen Neomilitaristen nach Osten, und zwar mit der Begründung, daß der Kommunismus sich allerdings momentan zur friedlichen Koexistenz bekenne, daß er aber das Endziel der Welteroberung nie aus den Augen verloren hätte. Was dabei übersehen wird, ist die Tatsache, daß die Staatsmänner der Sowjetunion genauso wie die des Westens wissen, wie gefährlich im Atomzeitalter ein eklatanter Angriffskrieg wäre, so daß die von den Kommunisten erträumte „Welteroberung“ nur in einem friedlichen Durchsetzen des für besser gehaltenen Systems bestehen könnte.

Über die Illusion vom besseren Leben im Kommunismus läßt sich natürlich streiten. Aber Chruschtschews seinerzeitige Feststellung (am 2. Juli 1960 in Wien), daß man ein Volk nicht durch einen Krieg in den Kommunismus treiben kann, deckt sich nach wie vor vollkommen mit der vom Kreml und den osteuropäischen Regierungen vertretenen und von Peking scharf bekämpften „revisionistischen“ Auslegung des Marxismus-Leninismus. Auch nach dem Ausscheiden Chruschtschews aus der Sowjetregierung hält man in Moskau ebenso wie in Warschau, Prag usw. an der These der friedlichen Koexistenz unbeirrt fest und weist das abenteuerliche Kriegsgeschrei Maos und seiner Roten Garde als selbstmörderisch zurück.

Im übrigen darf aber „friedliche Koexistenz“ keineswegs mit freundschaftlichem Zusammenleben verwechselt werden. „Friedlich“ heißt hier einfach ohne militärischen Druck, bedeutet aber nicht etwa Verzicht auf Kritik. Es ist darum eine ganz natürliche Erscheinung unserer zweigeteilten Welt, daß die Sprecher der Regierungen und damit auch Presse und Rundfunk in Ost und West das System der anderen Seite mehr oder minder scharf kritisieren. Aber die Umdeutung des beiderseitigen Gebelles auf versteckte Kriegsdrohung ist durchaus unangebracht.

Die Identifizierung von politischer Polemik mit Bereitschaft zu einer Gewaltlösung entspricht einerseits dem publizistischen Bedürfnis nach Sensation und dient andererseits jenen, die an dem Weiterbestehen von Spannungen Interesse haben, als Mittel zur Verhinderung einer vollen Entspannung, mit der dem Militär der Boden entzogen würde.

Gerade der Wunsch der Kommunisten, „die Welt zu erobern“, führt zu einer Konsequenz, die den zahlreichen Menschen, die noch in der Gedankenwelt des prä-atomischen Zeitalters aufgewachsen sind, ganz unbegreiflich erscheinen muß. Um nämlich ihr Programm verwirklichen zu können, das dahin geht, ein „besseres Leben zu gewähren“, brauchen die Kommunisten eine möglichst lange Periode des Friedens und möglichst geringe Vergeudung von Kapital und Arbeitskraft auf unproduktive Rüstungsausgaben. Namentlich würde ihnen die vollständige Abrüstung eine bessere Chance zum Ein- und Überholen des Westens gewähren, gegenüber dem sie heute noch kläglich nachhinken. In Diktaturstaaten mit straffer Wirtschaftsplanung könnten im Falle der Abrüstung die frei werdenden Mittel rascher als in der freien Welt auf die Erzeugung von Konsumgütern umgelenkt werden. Eine Welt ohne Krieg ist für die Kommunisten daher nicht nur aus ethischen Gründen, sondern vor allem auch im Interesse ihrer eigenen Pläne erstrebenswert.

Gewiß gibt es auch im Osten Neomilitaristen, aber das Gewicht derer, die für Koexistenz ohne Drohung von Gewaltanwendung eintreten, überwiegt weitaus.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1967
, Seite 808
Autor/inn/en:

Hans Thirring:

Prof. Dr. Hans Thirring, seit 1921 Vorstand des Instituts für Theoretische Physik in Wien, 1938-1945 vom Lehramt enthoben, nach 1945 wieder eingesetzt. Auf dem Gebiet der Kernphysik eine international anerkannte Autorität. Verfasser, unter anderem, von „Homo sapiens, Psychologie der menschlichen Beziehungen“.

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