FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1961 » No. 86
Immanuel Birnbaum

Umgeschriebene und ungeschriebene Geschichte

Böhmens Vergangenheit in tschechischer und deutscher Sicht

Als die Vereinigten Staaten vor einiger Zeit in eine neue Briefmarkenserie ihres Landes auch eine Marke mit dem Porträt von Thomas Garrigue Masaryk aufnahmen, erhob die Prager Regierung amtlichen Protest. Sie wollte so wenig vom ersten Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik wissen, daß sie sogar androhte, Postsendungen mit der Masaryk-Marke nicht zu befördern.

In einer Zeit, da man in Rußland längst dazu übergegangen ist, Zaren wie Iwan den Schrecklichen und Peter den Großen wiederum zu verherrlichen, wirkt die Engherzigkeit des Prager kommunistischen Regimes gegenüber der Vergangenheit des eigenen Landes besonders grotesk. Gewiß, Thomas Masaryk — der Anwalt der nationalen Gleichberechtigung im alten österreichischen Reichsrat, der kritische Darsteller der russischen Ideen-Entwicklung im 19. Jahrhundert, der Träumer von der vermittelnden Stellung Prags zwischen der demokratischen Zivilisation des Westens und dem osteuropäischen Slawentum — läßt sich nicht in einen Vorläufer des Kommunismus umdeuten. Die historischen Darstellungen, die heute in der Tschechoslowakei verbreitet werden, [1] erwähnen zwar Masaryks Eintreten für die Rechte der Slawen in Österreich und seinen Antiklerikalismus, sie vergessen aber auch nicht, daß er 1920, als die Rote Armee sich den Grenzen der neuen Republik näherte, Maßnahmen gegen den politischen Generalstreik der Linksradikalen veranlaßte. Und sie kreiden ihm vor allem an, daß er 1925 für die Locarno-Verträge eintrat, in denen die Russen und ihre tschechischen Parteigänger nicht den Versuch zur Befriedung der Grenzen des geschlagenen Deutschland und seiner Nachbarn sehen, sondern nur eine Allianz gegen die Einflußnahme der Sowjetunion in Mitteleuropa. Daß Masaryk nach 1925 eine Annäherung an die europäische Befriedungspolitik der beiden angelsächsischen Großmächte suchte und sich sogar um ein besseres Verhältnis zur deutschen Nachbarrepublik bemühte, macht ihn für die Kommunisten — die schon damals eine Anlehnung Prags an Moskau als einzige Rettung empfahlen — vollends untragbar.

Es ist aber nicht nur die jüngste Vergangenheit Böhmens und Mährens, die heute in Prag nach dem Parteischema umgedeutet wird. Die ganze Geschichte des Landes erhält andere Akzente. Man empfiehlt immer noch die Lektüre des klassischen Historikers Palacky, aber man lehnt seine hohe Bewertung des übernationalen altösterreichischen Staatsgedankens ab. Ähnlich werden die Auffassungen und Forschungsergebnisse anderer älterer Historiker ausgebeutet, so die sozialgeschichtlichen Arbeiten von Bidlo. Völlig verworfen werden Geschichtsschreiber, die den Höhepunkt der böhmisch-mährischen Entwicklung in jenen Zeiten sehen, da Prag ein Mittelpunkt der europäischen Kultur und Politik war, also in der Spätgotik des 14. Jahrhunderts unter Karl IV. und im Frühbarock um 1600 unter Rudolf II. Diese Jahrhunderte sind für die tschechischen Linksradikalen von heute lediglich Zeiten der sozialen Unterdrückung des Volkes durch den Feudalismus und der nationalen Überfremdung durch den Westen.

Als Heldenzeit der älteren tschechischen Geschichte gilt heute ausschließlich die Epoche der Hussitenkämpfe, und unter den Hussiten sind es die radikalsten, die ins hellste Licht gerückt werden. [2] Dabei wird das religiöse Moment in der hussitischen Bewegung als bloßer Überbau jener sozialen Tendenzen hingestellt, die in der Bewegung mitschwangen. Schon der in Prag geborene Altmeister marxistischer Deutung der Ideengeschichte, Karl Kautsky (am Geburtshaus im Teyhnhof gibt es kein Zeichen der Erinnerung an diesen Gegner Lenins), behandelte viele religiöse Bewegungen der Vergangenheit bis hinauf zum Urchristentum als „Vorläufer des Sozialismus“. Er ließ sich auch von seinem historisch viel besser geschulten Parteifreund, dem großen Wiener Geschichtslehrer Ludo Moritz Hartmann, der ihn öffentlich auf die Unterschiede zwischen dem wirtschaftsverachtenden Jenseitsglauben und dem Kampf für ein Gottesreich auf Erden aufmerksam machte, keines Besseren belehren. Die Prager Marxisten von heute folgen dem sozialdemokratischen Altmeister in der Umdeutung religiöser Bewegungen zu rein materialistisch motivierten Klassenkämpfen. Zugleich stilisieren sie die radikalen Hussiten, die sie von den gemäßigten Calixtinern abheben, zu Vorläufern des tschechischen Kommunismus von 1930 oder 1960. Das kommunistische Regime der Gegenwart hat die Bethlehems-Kapelle des frommen Märtyrers aus dem frühen 15. Jahrhundert pietätvoll restauriert und sich dafür mit historischen Erklärungen dieser Art gerechtfertigt. (Freilich zeigte sich bei der Hus-Verehrung der Tschechen schon immer eine gewisse Schizophrenie. Ich werde nie den verblüffenden Eindruck vergessen, den ich beim ersten Besuch in Prag vor rund vier Jahrzehnten erhielt, als ich in katholischen Gotteshäusern fromme Beter auf den Knien sah, die das Bild des von ihrer Kirche verbrannten Ketzers am Rockaufschlag trugen, weil sie gerade an einer nationalen Hus-Feier teilgenommen hatten.)

Kein Platz für Hussiten

Diskutiert man solche Merkwürdigkeiten mit jüngeren tschechischen Intellektuellen, so gelangt man jedoch zu der Ansicht, daß in ihnen wenig vom aufrührerischen Geist der Hussiten lebendig ist. Vielmehr sind sie Zeugen jener Gesinnung, welche den Böhmen und Mährern nach der Niederlage am Weißen Berge rund zwei Jahrhunderte nach dem Tode des Hus eingebleut wurde: Cuius regio, ejus religio. Man hat zu glauben, was der jeweilige Landesherr vorschreibt. Nirgends im mitteleuropäischen Herrschaftsbereich Moskaus geht die Anpassung an die aus dem Osten importierten Lehren so weit wie in diesem Land, das einst die Heimat so vieler freiheitsdurstiger Geister war.

Die Umzeichnung der älteren und jüngeren Vergangenheit Böhmens und Mährens in der Schwarz-Weiß-Manier des kommunistischen Parteischemas hat ein Gegenstück in der ebenso voreingenommenen Umdeutung der neueren tschechoslowakischen Geschichte durch die Agitation der sudetendeutschen Vertriebenen-Verbände, deren Literatur in Deutschland mit amtlicher Unterstützung verbreitet wird. Da erscheinen die tschechischen Politiker allesamt als wilde Nationalisten, wobei die Unterschiede zwischen Rechtsnationalen wie Kramář, versöhnlichen Liberalen wie Masaryk und Kommunisten wie Gottwald kaum mehr zu erkennen sind. Um so verdienstvoller ist es, daß ein Publizist, der zwischen den beiden Weltkriegen zu den deutschen Minderheitspolitikern in der Tschechoslowakei gehörte, diesem Zerrbild entgegenwirkt. Der jetzt in London lebende J. W. Brügel bietet eine solide und klärende Darstellung der ganzen Epoche deutsch-tschechischer Auseinandersetzungen in der Zeit zwischen 1918 und 1938 in einer Biographie, die er seinem Lehrmeister und amtlichen Vorgesetzten Ludwig Czech widmet. [3]

Durch gründliche Quellenforschung, die sich auch auf ungedruckte diplomatische Berichte der Prager deutschen Gesandtschaft stützt, macht Brügel deutlich, daß die Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung in der Tschechoslowakei sich zunächst durchaus nicht so nationalistisch verhielt, wie es heute sowohl die tschechische Agitation wie die „sudetendeutsche“ Gegenpropaganda vorgeben. In den Parlamentswahlen hielten sich rund drei Viertel der deutschsprachigen Wähler zu den Parteien der „Aktivisten“, die mit den Tschechen zusammenarbeiten wollten. Nur ein knappes Viertel blieb im Lager der „Negativisten“, welche die Staatsgründung Masaryks grundsätzlich ablehnten. Dies wurde erst anders, als Konrad Henlein 1935 mit massiver Unterstützung Hitlers die Stimmen der Vernunft zurückdrängen konnte. Auch damals mußten jedoch die nationalsozialistischen Parteiberichte (die Brügel bei den Akten des deutschen Auswärtigen Amtes fand) vertraulich darauf hinweisen, daß die aktivistischen deutschen Minister in Prag erhebliche Vorteile für die deutsche Volksgruppe herausgeholt hätten und daß ein Mann wie Czech sogar in „völkischen“ Kreisen weiterhin hohes persönliches Ansehen genieße.

Heute sind von der deutschen Volksgruppe in der Tschechoslowakei nur noch kleine Reste übrig, die durch Mischehen und Assimilation in absehbarer Zeit ganz verschwinden werden. Die meisten ehemaligen Deutschböhmen und Deutschmährer haben sich in der Bundesrepublik und in Österreich eine neue Existenz aufgebaut. Wenn ihre Kinder und Kindeskinder kein ebenso verzerrtes Bild von der Geschichte ihrer alten Heimat erhalten sollen, wie es heute den Einwohnern der Tschechoslowakei eingetrichtert wird, dann muß man ihnen Darstellungen wie die von Brügel verfaßte Biographie in die Hand geben. Denn bis wir eine einigermaßen objektive allgemeine Geschichte des Landes bekommen, das einst den reichsten Teil des alten Österreich bildete, werden wir noch lange warten müssen.

[1Einen zusammenfassenden Überblick in englischer Sprache gibt das Buch von Prof. Frantisek Kavka, An Outline of Czechoslovak History (Prag 1960, Orbis).

[2Ein gutes Bild von der heutigen Auffassung der Hussitenzeit bietet in deutscher Sprache Josef Macek, Die Hussitenbewegung in Böhmen (Prag 1958, Orbis).

[3J. W. Brügel: Ludwig Czech, Arbeiterführer und Staatsmann (Wien 1960, Volksbuchhandlung).

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1961
, Seite 49
Autor/inn/en:

Immanuel Birnbaum:

Geboren 1894 in Königsberg/Pr., studierte Staatswissenschaften in Freiburg, Königsberg und München und war 1919 bis 1927 Chefredakteur in Bremen und Breslau. Von 1927 bis Ende 1952 war Birnbaum Korrespondent deutscher, österreichischer, schweizerischer und skandinavischer Blätter in Warschau (dort insgesamt 15 Jahre vor und nach dern Krieg), ferner in Helsinki, Stockholm und Wien.

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