FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1961 » No. 86
Erwin Schrödinger

Über die Reichweite unseres Denkens

Am 4. Januar 1961 starb in Wien, 78 Jahre alt, Dr. Erwin Schrödinger, Ordinarius für Physik an der hiesigen Universität. Er war vor fünf Jahren einem Ruf an die Hochschule seiner Heimatstadt gefolgt, nachdem ihn das NS-Regime 1938 von seinem Lehrstuhl in Graz und 1933 von seinem Lehrstuhl in Berlin vertrieben hatte. Schrödinger, der für die Entwicklung der Wellenmechanik mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden war, hatte die Jahre 1940 bis 1955 an der Universität Dublin verbracht, wo er sich in zunehmendem Maße mit philosophischen Problemen befaßte. Der folgende Text entstammt einem nachgelassenen Manuskript, welches im Herbst unter dem Titel „Meine Weltansicht“ bei Paul Zsolnay erscheinen wird; im selben Verlag war bereits Mitte der Fünfzigerjahre Schrödingers grundlegendes Werk „Die Natur und die Griechen“ erschienen.

Und deines Geistes höchster Feuerflug
Hat schon am Gleichnis, hat am Bild genug.
Goethe

Die eigentliche Schwierigkeit für die Philosophie liegt in der räumlichen und zeitlichen Vielheit anschauender und denkender Individuen. Würde alles Geschehen sich nur in einem Bewußtsein abspielen, so wäre der Sachverhalt höchst einfach. Es wäre ein vorgefundenes, schlechthin Gegebenes da, welches — es möchte im übrigen wie immer beschaffen sein — eine Schwierigkeit von der tatsächlich bestehenden Größenordnung wohl kaum darbieten könnte.

Ich glaube nicht, daß die Lösung des Knotens auf logischem Wege durch folgerichtiges Denken innerhalb unseres Intellekts möglich ist. Wohl aber läßt sie sich sehr leicht in Worten aussprechen, nämlich: die wahrgenommene Vielheit ist nur Schein, sie besteht in Wirklichkeit gar nicht. Die Philosophie des Vedanta hat dieses ihr Grunddogma durch manches Gleichnis zu verdeutlichen gesucht, wovon eines der ansprechendsten das vom reichfacettierten Kristall ist, der von einem in Wirklichkeit nur einmal vorhandenen Gegenstand Hunderte kleine Abbilder zeigt, ohne daß doch der Gegenstand dadurch wirklich vervielfacht würde. Wir Verstandesmenschen von heute sind nicht gewohnt, bildhafte Gleichnisse für philosophische Erkenntnis gelten zu lassen, wir verlangen eine logische Deduktion. Demgegenüber läßt sich aber vielleicht durch folgerichtiges Denken wenigstens so viel erschließen, daß ein Erfassen des Grundes (franz. „fond“) der Erscheinung durch folgerichtiges Denken aller Wahrscheinlichkeit nach unmöglich sein dürfte, da dieses doch selbst der Erscheinung angehört, ganz in ihr befangen ist; und es läßt sich fragen, ob wir deshalb auf eine bildhafte, gleichnisweise Anschauung des Sachverhaltes verzichten müssen, wenn sich ihr Zutreffen auch nicht streng beweisen läßt.

Folgerichtiges Denken führt uns in einer großen Zahl von Fällen bis zu einem bestimmten Punkt, wo es uns dann im Stiche läßt. Gelingt es uns, das direkt nicht erschließbare Gebiet, in das diese Denkwege hinauszuführen scheinen, auf solche Weise zu ergänzen, daß die Wege nicht mehr ins Uferlose führen, sondern nach einer zentralen Stelle dieses Gebiets konvergieren, so kann darin eine höchst schätzenswerte Abrundung unseres Weltbildes liegen, deren Wert nicht mehr nach der Zwangsläufigkeit und Eindeutigkeit zu beurteilen ist, mit der die Ergänzung zunächst vorgenommen wird. Die Naturwissenschaft verfährt in hundert Einzelfällen auf diese Art und hat sie längst als berechtigt anerkannt. Wir werden versuchen, einige Stützen der vedantischen Grundansicht beizubringen, vornehmlich, indem wir einzelne Wege des modernen Denkens aufzeigen, die gegen sie konvergieren. Vorerst sei gestattet, ein konkretes Bild des Erlebnisses zu entwerfen, das etwa zu ihr führen kann. Die im Anfang des Folgenden geschilderte spezielle Situation könnte dabei füglich durch jede andere ersetzt werden und soll nur daran erinnern, daß die Sache erlebt sein will, nicht einfach nur verstandesmäßig zur Kenntnis genommen.

Nimm an, du sitzest in einer Hochalpenlandschaft auf einer Bank am Wege. Rings um dich her Grashalden, mit Felsblöcken durchsprengt, am Talhang gegenüber ein Geröllfeld mit niedrigem Erlengestrüpp. Steil geböschtes Waldgebirg zu beiden Seiten des Tals bis hoch hinauf an die baumlosen Almmatten; und vor dir, vom Talgrund aufsteigend, der gewaltige firngekrönte Hochgipfel, dessen weiche Schneelenden und scharfkantige Felsgrate jetzt eben der letzte Strahl der scheidenden Sonne in zartestes Rosenrot taucht, wundervoll abgehoben von dem durchsichtig klaren, blaßblauen Firmament.

All das, was dein Auge da sieht, ist — nach der bei uns gewöhnlichen Auffassung — mit geringen Veränderungen jahrtausendelang vor dir dagewesen. Über ein Weilchen — nicht lange — wirst du nicht mehr sein und Wald, Fels und Himmel wird Jahrtausende nach dir noch unverändert dastehen.

Was ist’s, das dich so plötzlich aus dem Nichts hervorgerufen, um dieses Schauspiel, das deiner nicht achtet, ein Weilchen zu genießen?

Alle Bedingungen für dein Sein sind fast so alt wie der Fels. Jahrtausendelang haben Männer gestrebt, gelitten und gezeugt, haben Weiber unter Schmerzen geboren. Vor hundert Jahren vielleicht saß ein anderer an dieser Stelle, blickte gleich dir, Andacht und Wehmut im Herzen, zu den verglühenden Firnen. Er war vom Mann gezeugt, vom Weib geboren gleich dir. Er fühlte Schmerz und kurze Freude wie du. War es ein anderer? Warst du es nicht selbst? Was ist dies dein Selbst? Welche Bedingung mußte hinzutreten, damit dies Erzeugte du wurdest, gerade du, und nicht ein anderer? Welchen klar faßbaren, naturwissenschaftlichen Sinn soll denn dieses „ein anderer“ eigentlich haben? Hätte sie, die jetzt deine Mutter ist, einem anderen beigewohnt und mit ihm einen Sohn erzeugt, und dein Vater desgleichen, wärest du geworden? Oder lebtest du in ihnen, in deines Vaters Vater ... schon seit Jahrtausenden? Und wenn auch dies, warum bist du nicht dein Bruder, dein Bruder nicht du, warum nicht einer deiner entfernten Vettern? Was läßt dich einen so eigensinnigen Unterschied entdecken — den Unterschied zwischen dir und einem anderen —, wo objektiv dasselbe vorliegt?

Unter solchem Anschaun und Denken kann es geschehn, daß urplötzlich die tiefe Berechtigung jener vedantischen Grundüberzeugung aufleuchtet: unmöglich kann die Einheit dieses Erkennens, Fühlens und Wollens, das du das deine nennst, vor nicht allzulanger Zeit in einem angebbaren Augenblick aus dem Nichts entsprungen sein; vielmehr ist dieses Erkennen, Fühlen und Wollen wesentlich ewig und unveränderlich und ist numerisch nur Eines in allen Menschen, ja in allen fühlenden Wesen. Aber auch nicht so, daß du ein Teil, ein Stück bist von einem ewigen, unendlichen Wesen, eine Seite, eine Modifikation davon, wie es der Pantheismus des Spinoza will. Denn das bliebe dieselbe Unbegreiflichkeit: welcher Teil, welche Seite bist gerade du, was unterscheidet, objektiv, sie von den anderen? Nein, sondern so unbegreiflich es der gemeinen Vernunft scheint: du — und ebenso jedes andere bewußte Wesen für sich genommen — bist alles in allem. Darum ist dieses dein Leben, das du lebst, auch nicht ein Stück nur des Weltgeschehens, sondern in einem bestimmten Sinn das ganze. Nur ist dieses Ganze nicht so beschaffen, daß es sich mit einem Blick überschauen läßt. — Das ist es, was die Brahmanen ausdrücken mit der heiligen, mystischen und doch eigentlich so einfachen und klaren Formel: Tat twam asi (Das bist du). — Oder auch mit Worten wie: Ich bin im Osten und im Westen, bin unten und bin oben, ich bin diese ganze Welt.

So magst du dich hinwerfen auf die Erde, flach angedrückt an ihren Mutterboden in der gewissen Überzeugung: Du bist eins mit ihr und sie mit dir. Du bist so festgegründet und unverletzlich wie sie, ja tausendmal fester und unverletzlicher. So sicher sie dich morgen verschlingen wird, so sicher wird sie dich neu gebären zu neuem Streben und Leiden. Und nicht bloß dereinst; jetzt, heute, täglich gebiert sie dich, nicht einmal, sondern tausend- und abertausendmal, wie sie dich täglich tausendmal verschlingt. Denn es ist ewig und immer nur jetzt, dieses eine und selbe Jetzt, die Gegenwart ist das einzige, das nie ein Ende nimmt.

Ein (dem handelnden Individuum nur selten bewußtes) Anschaun dieser Wahrheit ist es, was einer jeden sittlich wertvollen Handlung zugrunde liegt. Sie läßt den edlen Menschen für ein als gut erkanntes oder geglaubtes Ziel Leib und Leben nicht aufs Spiel setzen, sondern — in seltenen Fällen — ruhigen Herzens hingeben, auch wo gar keine Aussicht auf Rettung seiner Person besteht. Sie leitet — vielleicht noch seltener — die Hand des Wohltäters, der ohne Hoffnung auf jenseitige Belohnung zur Linderung fremden Leids das hingibt, was er selbst nicht ohne Leid entbehren wird.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1961
, Seite 47
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