FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 132
Tibor Déry • Mirza von Schüching (Übersetzung)

Über die Annehmlichkeiten der Zivilisation (II)

„Meine Damen und Herren, was macht bei uns im Ausland das Leben so anziehend?“ fragte G. A. und beugte sich in seinem Schaukelstuhl nach vorn. Seine Stimme schien diesmal vor nervöser Erregung ein wenig gedämpft, es klopfte heftig in seinen Schläfen. „Was macht das Leben bei uns nicht nur erträglich, sondern sogar begehrenswert, ja so unwiderstehlich amüsant, daß die Menschen bei uns allem gesunden Verstand zum Trotz gern leben: Was ist die Erklärung für diese grobe Verirrung des Geschmacks und des Urteilsvermögens? Was macht bei uns die Menschen ohne Ausnahme heiter und zufrieden: Die Freiheit, meine Damen und Herren! Das nie verjährende Recht, das dem Menschen unserer Gesellschaftsordnung gesetzlich verbrieft ist, das Recht, frei wählen zu dürfen zwischen Wohlstand und Elend, Führertum und Knechtschaft, Freude und Leiden, ja, ich gehe weiter, zwischen Gesundheit und Krankheit, die, so heißt es, ebenfalls wichtige Bestandteile des Allgemeinbefindens sind.

Bei uns hat ein jeder das Recht, nach freier Wahl zu erkranken, oder umgekehrt, zu genesen, und wenn jemand die Abwechslung nicht liebt, kann er bis zu seinem Todestag auf dem Krankenlager verbleiben, und niemand wird ihn deswegen ungebührlich verspotten, kein Gesetz zwingt ihn gegen seinen Wunsch zu genesen, oder umgekehrt, sich kürzere oder längere Zeit hindurch der besten Gesundheit zu erfreuen. In Sachen unserer Freiheit sind wir dermaßen heikel, daß viele von uns lieber lebendigen Leibes in ihrem verlausten Krankenbett verfaulen, als daß sie, sofern sie kein Verlangen danach haben, das heiter schweifende, sorglose Leben des gesunden Menschen führten, und selbst im Lenz, angesichts der knospenden, grünenden, sich in Blütenpracht hüllenden Natur verspüren sie keine Gewissensbisse. Ich war mehrmals selbst Augenzeuge, als solche Menschen an einem sonnigen Maimorgen nur einen kurzen Blick auf die Außenwelt warfen und sich dann mit einer verächtlichen Bewegung zur Wand umdrehten. Die Soziologie, die jede Oberflächenkräuselung der Menschheit im Auge behält und deren ganz erstaunliche seelische Kurven aufzeichnet, kennt eine Anzahl von Fällen, in denen der eine oder andere unserer Mitmenschen plötzlich die Augen schloß, den Verstand verlor und unter lebhaften Schreien, die an das Krähen eines Hahnes erinnerten, der seiner Meinung nach allzu gesunden Welt den Rücken kehrte. Sein stilles Lallen in der Gummizelle zeigte an, daß ihm seine eigene Gesellschaft genüge. Bei uns im Ausland ist die Wendeltreppe der Selbstbefriedigung dach- und endlos, der eine macht bei einer tieferen, der andere bei einer höheren Windung halt, es gibt aber auch Menschen, die wirbelwindartig hinauf und hinab kreisen und eben darin ihr Heil finden. Meine Damen und Herren, wie ich in meinen vorangegangenen Vorträgen bereits mehrmals erwähnte, sichert die vitalistische Philosophie, der felsenfeste, unerschütterliche Grundstein unserer Gesellschaftsordnung, jedem Menschen volle persönliche Freiheit zur Zerstreuung seiner selbst und seiner Mitmenschen. Durch sorgfältige erzieherische Arbeit haben wir, keine Mühe scheuend, den einseitigen und blöden Hang des Menschen nach Glück längst abgebaut und damit der einfältigen Herrschaft der Langeweile ein Ende gesetzt. Wir sind frei, meine Damen und Herren, und ein jeder amüsiert sich, wie er kann, also gut. Wen es nach einem kargen Leben verlangt, der findet eine genauso reiche Auswahl wie einer, der gut zu leben wünscht.

Zum Beispiel: Angenommen, wir bestehlen, ohne selbstisches Interesse, einen unserer vermögenden Mitmenschen, oder wir verleumden völlig ohne Grund einen hohen Staatsbeamten, etwa einen Staatssekretär oder den Polizeipräsidenten, oder wir begehen einen selbstlosen Raubmord — in allen diesen Fällen eilt uns die großmütige Gesellschaft sofort zu Hilfe und sorgt durch eine mit hartem Lager und Fasten verschärfte lange Gefängnisstrafe dafür, daß unsere Wünsche bestens erfüllt werden. Es gibt Menschen, zögernd und unschlüssig von Natur, die ihre eigenen Bedürfnisse schlecht kennen: die Gesellschaft kommt ihnen auf halbem Wege entgegen und führt sie in Versuchung, wie mit einem winzigen Stückchen feinen Specks in der Mausefalle, mit einem verdächtigen, aber im Grunde genommen harmlosen Staatssekretär oder Polizeipräsidenten oder mit einem über alle Maßen verfetteten, laut schmatzenden Herrenmenschen, der sie zu einem gefälligen Hungerlohn in seine Dienste nimmt — dann wartet sie geduldig, bis ihr Schützling jenen verleumdet und diesem den Bauch aufgeschlitzt hat. Nach solchen gut geglückten Seelenanalysen erkennt auch der unschlüssigste Mensch seine wahre Natur.

Ich wiederhole, meine Damen und Herren, die Freiheit der Wahl ist bei uns uneingeschränkt. Schon das Kind bestimmt seine künftige Lebensbahn, und die fürsorglichen Eltern unterstützen es hingebungsvoll in seiner Wahl: die Mutter trägt den Säugling am frühen Morgen in ihren Armen auf die Straße und zeigt ihm den Bettler an der Ecke und über ihm den sich zu seinem Bürofenster hinauslehnenden Finanzminister, wobei sie es an erklärenden Worten nicht fehlen läßt: das Kind kann zwischen den beiden Arbeitsplätzen nach Belieben wählen. Die Nachkommen des Ministers sehnen sich häufig nach dem Dasein des Bettlers an der Straßenecke, die Kinder des Bettlers verlangt es aber vielleicht nach dem Schreibtisch des Ministers; ihrer Wahl steht nichts im Wege. Es kostet den Bettlersohn nur ein einziges Wort, und schon werden ihm mehr Ammen, Erzieher und Instruktoren zur Seite gegeben, als er gute Bissen in seinem bisherigen Leben geschluckt hat, der junge Herr aber nimmt, begleitet von den Segenswünschen seiner Eltern, sofort seinen Platz am Eckstein ein. Da wir das Kind mit Recht den teuersten Schatz der Menschheit und das Unterpfand unserer Zukunft nennen, halten wir seine Freiheit in so hohen Ehren, daß es, wenn es zufällig seinen Eltern grollen sollte — was in bewegten Epochen, zum Beispiel in Zeiten wirtschaftlicher Krisen, im Krieg oder während einer Revolution häufig vorkommt —, sie getrost verleugnen darf, sogar der Embryo im Mutterschoß darf die Forderung stellen, nicht geboren zu werden, und auch dieser Wunsch wird ihm erfüllt. Obwohl Kinder, die ihren Vater ermorden, heute noch nicht gern gesehen sind, eilt ihnen die Psychologie mit endlosen Erklärungen zu Hilfe, und ich glaube, bei uns im Ausland naht schon die Zeit, da die Gesellschaft in beiderseitigem freiem Übereinkommen mit den Vatermördern Frieden schließt, vorausgesetzt, daß diese ihre Mütter heiraten. Meine Damen und Herren, bei uns im Ausland wissen die Menschen, wofür sie leben! Welch eine Wonne, welch ein Vergnügen ist das Leben in der Heimat der Freiheit! In Hütte und Palast, in Mietshäusern und Villen, in Höhlenwohnungen, Klöstern und Katakomben, im Walde wie auf der Wiese, auf Alpenpfaden wie an den Küsten des stöhnenden Meeres, in Wolkenkratzern und Buden, im Sande der hirnverbrannten Wüste und eingeschlossen im Trichter des Taifuns oder in einem möblierten Zimmer oder den Kasematten einer Felsenburg oder im Salon des Ministerpräsidenten oder im Schützengraben, überall ist der Mensch in gleichem Maße frei, denn schließlich hat er sich nach reiflicher Erwägung seinen Platz selbst gewählt, und wenn er desselben überdrüssig ist, kann er ihn in jedem beliebigen Augenblick gegen einen anderen vertauschen, sein möbliertes Zimmer gegen ein anderes möbliertes Zimmer, die Besserungsanstalt gegen das Zuchthaus, das Dienstmädchenzimmer gegen ein Bordell und das Bordell, jawohl, es kostet ihn nur ein Wort, das Bordell gegen ein gräfliches Appartement oder umgekehrt. Die Achse unserer Geschlechtsorgane gestattet jedwede Drehung in jeder Richtung.

Aber auch sonst steht es den Menschen frei, alle Varianten ihrer Lust und Laune durchzuspielen; wer dick ist, kann, wenn er will, abnehmen, doch darf auch der Jockey, der Straßenkehrer, der Eisengießer von seinem Gewicht abgeben, der Bankdirektor darf zunehmen, der Ackersmann, der pflügt und sät, darf den Rücken krümmen, der Schreiber erblinden, niemand schilt sie oder macht ihnen Vorwürfe, im Gegenteil, ihre Umgebung beobachtet erfreut die reibungslos glatte Erfüllung ihrer Wünsche. Wenn sich jemand mit allen Fasern seines Herzens danach sehnt, Magengeschwüre und Plattfüße zu bekommen, wird er Kellner, und nicht selten sind die Fälle, in denen solch ein Mensch bereits nach fünfzehn bis zwanzig Jahren im schönsten Mannesalter sein Lebensziel erreicht. Schwindsucht, Herzleiden, Erkrankung der Blutgefäße kann man sich ohne Schwierigkeiten und auf vielerlei Art und Weise zulegen, und wenn jemand — nehmen wir an — schon als kleines Kind in seinem Bettchen vor dem Einschlafen von einer vergnüglichen Nieren- oder Nierenbeckenentzündung träumt, braucht er, wenn er aufgewacht ist, seiner liebevollen Mutter nur ein Wort zuzuflüstern, und sie wird beizeiten dafür sorgen, daß er in einer Bleigrube eingestellt wird. Wer sich im Laufe seines Lebens mit Knochenschwund zu amüsieren wünscht, wird schon als Säugling die seinem Vergnügen schädlichen ultravioletten Strahlen meiden, wer eine Schrumpfleber haben möchte, wird seinen ganzen Verdienst für wohlschmeckende Schnäpse ausgeben, die Liebhaber der Zuckerkrankheit dagegen spielen fröhlich auf der Börse und warten ab, bis die Kurse fallen und ihr Zuckerspiegel steigt.

Meine Damen und Herren, die menschliche Freiheit hat bei uns im Ausland keine wie immer gearteten Grenzen. Der Mensch kann alle seine Wünsche befriedigen, doch darf er sich auch das Entgegengesetzte seiner Wünsche wünschen, und auch dieser Wunsch wird ihm erfüllt. Will der ehrbare Kaufmann gut gedeihen, hat er alle Möglichkeiten für sich, wenn er aber seinen Wohlstand wieder einbüßen möchte, hindert ihn nichts auf der Welt, pleite zu gehen. Wer Minister sein will, läßt sich ernennen, und wenn er den Dienst am Vaterland satt hat, kostet es ihn nur ein Wort, und er wird liebevoll gestürzt. Der gemeine Soldat lebt oder stirbt fürs Vaterland, je nachdem, wie es seiner Neigung und seinem Geschmack besser entspricht, der General aber siegt oder erleidet Niederlagen je nach Gusto: so oder so, er wird ausgezeichnet. Man kennt Politiker und Hochstapler von vornehmer Gesinnung, die eines Abends in der Einsamkeit ihres Schlafgemachs beim Schein des Nachtlichts, den Kopf in die Hand gestützt, mit geschlossenen Augen lange über ihr Leben nachsinnen und, von ihren rohen weltlichen Erfolgen angewidert, sich plötzlich enthüllen lassen. Es gibt launenhafte Abenteurer, die wie auf einer Schiffsschaukel blitzschnell zwischen Glück und Unglück hin und her schwingen: heute gründen sie ein Bankhaus, morgen eine Religion, und dann begeben sie sich eilig an eine Straßenecke, um Almosen zri erbetteln. Ihre liebenswürdigen Launen werden hier wie dort mit der gleichen Hochachtung zur Kenntnis genommen. Unsere Gesellschaftsordnung ist so geistreich aufgebaut, daß der Erfolg sowohl im Aufstieg als im Niedergang, ja sogar im völligen Ruin wunschgemäß für jeden von vorneherein gesichert ist. Jeder kann sich so frei durchsetzen, daß er mit seiner Freiheit, selbst wenn er wollte, keinen Mißbrauch treiben könnte. Aber warum sollte er auch wollen:

Meine Damen und Herren! Bei uns im Ausland ist die gesellschaftliche Zusammenarbeit ein wahres Meisterwerk an Takt. Ein jeder steht auf dem selbstgewählten Posten und erleidet, was er zu erleiden wünscht, das heißt, was ihn am meisten amüsiert. Wie unsere Freiheit, ist auch selbstverständlich unsere Macht unbeschränkt. Der eine benutzt sie, um Herr zu sein, der andere, um Knecht zu werden. Jede Alternative hat ihre leidenschaftlichen Anhänger, die einander wie Brüder lieben. Bitte sehen Sie es nicht als voreingenommene Schwärmerei eines Patrioten an, wenn ich, natürlich mit dem nötigen Vorbehalt, behaupte, daß sie nicht ohne einander auskommen können. Der Sklave ist verloren ohne den Sklavenhalter, ehrwürdige Traditionen beweisen es. Das Volk ist verloren ohne die jeweilig herrschende Klasse, und umgekehrt. Der Diener kann den Herrn, der Herr den Diener nicht missen, der Lohnarbeiter nicht den Fabrikanten, der Fabrikant nicht den Arbeiter. Träumerisch zueinander hingezogen, lieben sie einander wie wahre Liebende. Der Sträfling kann nicht leben ohne seinen Gefängniswärter, der Wärter nicht ohne seinen Sträfling, jeder verehrt im anderen die bessere Hälfte seiner selbst. Der Gläubige kann nicht leben ohne Bischöfe, Erzbischöfe und Kardinäle, die, wie es scheint, von Gott selbst zur Befriedigung seiner intimeren Bedürfnisse erschaffen sind. Bischöfe, Erzbischöfe und Kardinäle brauchen Gott wie die Gewißheit die Ungewißheit. Sah man je einen Schuldner ohne Gläubiger, ein Opfer ohne Mörder? Vergebens würde der Angeklagte sein Schicksal in einem invaliden Augenblick temporärer Geistesstörung verfluchen, er kann ohne Staatsanwalt ebensowenig auskommen wie der Verleumdete ohne Verleumder, der Verurteilte ohne seinen Henker. Die sanfte Schafherde will ihren Schäfer haben, die Sauherde ihren Schweinehirten, das Schlachtvieh seinen Metzger, der Mensch den Menschen. Meine Damen und Herren, wir alle kämpfen unter schonungslosem Einsatz unserer ganzen Macht darum, herrschen oder dienen zu dürfen, ja nach Geschmack. Wer aber die Abwechslung liebt und die Mühe nicht scheut, vertauscht von Zeit zu Zeit den einen Zustand mit dem anderen, der Dieb wird zum Häscher, der Zeitungsverkäufer zum Millionär oder umgekehrt, der Kläger wird zum Beklagten, der Staatsanwalt zum Angeklagten, der Direktor der Gefangenenanstalt — sofern er seine ganze Weisheit, Durchtriebenheit und Findigkeit daransetzt und auch ein wenig Glück hat — Zuchthäusler in seiner eigenen Anstalt. Wer sich redlich bemüht, kann von der höchsten Spitze aus das Kreuz erreichen, an das er geschlagen wird. Denn der Verzicht auf Macht ist — hat man das seelische Endresultat im Auge — gleichbedeutend mit Ausübung der Macht, so wie Sie, meine Damen und Herren, einst am Endpunkt der menschlichen Geschichte angelangt, auf die Segnungen der Zivilisation unter kleinen Seufzern und Wonneschreien verzichtet haben und dadurch über sie hinausgelangt sein werden. Ein Beweis dafür sind die endlosen Schrottplätze in der Umgebung Ihrer schönen Stadt, dieses gewaltige Grabmal der Produktion und des Verbrauchs, die entzückende Parabel der Riesenschlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt.

Bei uns im Ausland sind Takt und die mit ihm verbundene stille Zufriedenheit ebenfalls keine unbekannten Begriffe“, sagte G. A. laut, um die abgebröckelte Aufmerksamkeit wieder einzusammeln. „Einst zeitigte die schaffensfreudige und genußreiche Ausübung der Macht oder aber der freundliche oder mürrische Verzicht auf die Macht manche grelle, fast möchte ich sagen, rohe Farbeffekte, wie zum Beispiel, wenn der Märtyrer den Scheiterhaufen betrat und sich unter erschreckendem Gestank seines flammenden Haarwuchses und seines Fleisches verbrennen ließ, oder wenn eine Nation ihr Haupt in fremdes Joch zu beugen wünschte und zu diesem Zweck auf dem Schlachtfeld unter Zurücklassung Zehntausender blutiger Leichen eine Niederlage erlitt, oder wenn ein eifersüchtiger Verliebter seiner Geliebten die Nase abbiß, das Ohr abschnitt oder die Zunge herausriß, damit sie keines anderen Herzens ungebührliche Gelüste erwecken könne. Solche spektakuläre Szenen belasteten mit der Zeit die Nerven der Menschheit, die einer immer größeren und zarteren Schonung bedurften, derart, daß schließlich neue Formen zur Ausübung und zur Erduldung der Macht erfunden werden mußten. Diese Erfindung, meine Damen und Herren, eine der glänzendsten Entdeckungen des Geistes, ist die Geld- und Wechselwirtschaft. Durch sie wurde auf der Erde die Herrschaft des Taktes, der Milde und des guten Geschmacks mit einem Schlag wieder hergestellt. Eine einfache liebliche Gebärde, meine Damen und Herren, das Übergeben beziehungsweise das Entgegennehmen einer Summe Geldes, offenbart unmißverständlich und erfüllt zugleich die Wünsche zweier einander gegenüberstehender Parteien und ersetzt vollkommen die primitive, rohe Arbeit der Männerfaust, des Schwertes, des langsam oder schnell tötenden Giftes, des Scheiterhaufens oder der Folterkammer. Seit jeder Mensch Geld hat, beziehungsweise kein Geld hat, verstehen sich der Fürst mit dem Untertan, der Herr mit dem Knecht, der Richter mit dem Märtyrer so einwandfrei und bedienen sie einander so zuvorkommend, daß die gegen den guten Geschmack verstoßenden rohen Schauspiele fast völlig von der Erde verschwunden sind, ausgenommen natürlich dann und wann ein Krieg, den wir den ungebildeten Massen zuliebe unter Ausschluß der zarter besaiteten Menschen zu veranstalten pflegen. Wenn bei uns jemand mit hämischem Lachen sein letztes Geld einem anderen überreicht, offenbart er durch diese dem Anschein nach nichtssagende kleine Gebärde sein ganzes Innenleben. Die Gesellschaft versteht ihn sofort, eilt ihm zu Hilfe und sorgt bis ans Ende seines Lebens gebührend für seine Bedürfnisse: für unerfüllbare Wünsche, in entsprechender Zahl und Qualität, nötigenfalls etwa für Lungenschwindsucht, für nervenkranke Nachkommenschaft und auch für Kerkerstrafe wegen gemeingefährlicher Arbeitsscheu. Sehnt sich etwa eine Dame nach seelischer Läuterung, braucht sie sich nicht auf langwierige blutige Liebesspiele einzulassen, vielmehr übernimmt sie mit einer knappen, kleinen Gebärde einen Geldbetrag von ihrem Bettgefährten, der sie auf ihre Bitte — kaum daß er im morgendlichen Nebel zur Tür des Hotels hinaustritt — schon auf dem nächsten Polizeirevier wegen geheimer Prostitution anzeigt. Wünscht indessen die Dame zu herrschen, so übernimmt sie fortlaufend und regelmäßig ausgiebigere Geldbeträge von ihren Bettgefährten, ebenfalls mit abgerissenen kleinen Gebärden, und kann sich auf diese Weise die Beschämung sparen, daß Männer bei Ritterturnieren oder im Fechtsaal ihr Blut für sie vergießen. Wenn ein Mann, sagen wir, ein Fabrikbesitzer, zur Herrschaft gelangen will, überreicht er seinen dankbaren Arbeitern immer etwas kleinere Geldbeträge, als sie zum Leben nötig haben, seinem Geldschrank um ebensoviel größere. Es ist dies eine viel freundlichere Form der Machtausübung als die Kreuzzüge, die Straßenüberfälle oder die Inquisition es waren, ähnlich wie für den gebildeten Menschen gewinnbringende Aktien oder Staatsobligationen genußreicher sind als ein Sklave, das Tigerfell geruhsamer als der Tiger und sogar der Selbstmord unterhaltsamer als der Mord.

Das Geld, meine Damen und Herren, das Geld ist der Erlöser der Menschheit. Nicht nur daß es die niedrigen tierischen Instinkte in gefälliger Weise mildert, es vermag sie sogar auf einer höheren Ebene vollkommen zu ersetzen. Der übergebene und übernommene Geldbetrag ist das sicherste Unterpfand der Nächstenliebe und der guten Umgangsformen. Abgesehen von der kurzen, im Mutterleib verbrachten Zeit, wenn der Embryo seine im Fruchtwasser schwimmenden Haare verschlingt, kann sich heute auch schon das Kind mit für Geld erworbener Nahrung dick und weiß mästen, und wenn man ihm eine glänzende Gold- oder Silbermünze hinreicht, nimmt es sie mit einer gewaltigen, symbolischen Gebärde sofort in den Mund. Das freudige Gelalle, das es dabei von sich gibt, ist der herrliche Auftakt zu seinem ganzen kommenden Leben, ausgenommen den bedauerlichen Fall, daß ihm das Geldstück im Halse steckenbleibt und es erstickt. Das Geld hat einen köstlichen Wohlgeschmack, großartigen Geruch, Farbe und Form und Griff, das Geld ist glatt, rund und gerade, eckig, hart, das Geld ist hoch, nieder, weich, flüssig, das Geld ist laut und stumm, heiß und kalt, biegsam und starr, feurig und feuerfest, erschütternd und unerschütterlich, das Geld kann mit jedem Kummer und jeder Freude verwechselt werden, das Geld hat ein unvergeßliches Gesicht, das jedem Gedächtnis entschwindet, das Geld ist ein unvollendbares Kunstwerk, das Geld ist die Kopie der Urzelle, die das Meer auf den Strand gespieen hat, das Geld ist eine unterbrochene, gräßliche Herzoperation in einem ungebauten Krankenhaus. Steckt jemand eine größere Summe Geldes in die Tasche und geht auf die Straße, spüren die Menschen durch seinen dicken Pelzmantel den köstlichen Duft des Geldes, in wenigen Augenblicken entsteht hinter ihm eine kleinere Ansammlung, die ihm ehrerbietig auf Zehen folgt, die Fenster der Häuser füllen sich mit neugierig schnüffelnden Leuten, die ungezogenen Kindlein zeigen mit den Fingern auf ihn, und jedesmal findet sich eine in bedürftigen Verhältnissen lebende Jungfer, der vor Rührung die Augen überlaufen und die in der nächsten Pfarrkirche eine Messe für das Seelenheil des Herrn im Pelzmantel lesen läßt. Ein größerer Betrag zeigt mit klarem, winterlichem Licht, gleichsam wie der Stern von Bethlehem, stumm den Weg zur Krippe. Auch bescheidenere Beträge vergrößern die kleingewachsene Wirklichkeit. Bei den X-Strahlen einer einsamen Banknote von größerem Nennwert läßt sich selbst in die Nieren der Mitmenschen Einblick gewinnen. Das Geld ist der Schalldämpfer des menschlichen Leidens, das bislang menschenunwürdige Schreie verursachte. Das Geld ist das Prisma der Freude. Mit der Erfindung des Geldes tat die Menschheit den ersten Schritt zu ihrer seelischen Erhebung, und seitdem entwickelt sie sich — wie ein Kreisel sich um die eigene Achse drehend — in immer größerem Ausmaß. Bei der allgemeinen Verbreitung des Geldes steht es nunmehr jedem frei, auf das Geld zu verzichten.

Ich wage zu behaupten, meine Damen und Herren, daß der Geldmangel bei uns im Ausland oft erlesenere Genüsse verschafft als der Besitz des Geldes, was die allgemeine Beliebtheit der leeren Taschen hinlänglich erklärt. Der Geldmangel macht die Menschen für die feineren Nuancen des Lebens empfänglich, als da sind: der Leber- oder Darmkrebs, die Lues, die perniziöse Anämie, die Rückenmarkschwindsucht, ja selbst den einfacheren Varianten des Herzleidens bringen sie freudiges Verständis entgegen. So ist es zu erklären, daß der Mensch heutzutage sogar manchmal mit sich selbst Mitleid verspürt, was offenbar ein Zeichen des verfeinerten Geschmacks ist. Der gebildete Mensch wehrt sich immer entschiedener gegen den Anblick des einst so volkstümlichen und sehenswerten Zusammenspiels von Herren und Leibeigenen, wie Rädern, Vierteilen, Kreuzigen, Verbrennen auf dem Scheiterhaufen, auch gegen deren neuzeitliche Varianten, das Lynchen oder den elektrischen Stuhl. Ein besserer Bankdirektor zum Beispiel würde heute um keinen Preis mehr gestatten, daß man seinem Buchhalter die Augen aussticht, weil er ein Kontokorrent unrichtig führte, oder daß man seinem Kassierer die Hand abhackt, weil er einen kleineren Betrag unterschlagen hat. „Nein, meine Herren“, würde er sagen und die Hände an die Schläfen drücken, „Ihre Forderungen sind maßlos. Ich bin nicht in der Lage, sie zu erfüllen. Einige Jahre Kerker werden es auch tun, mit der zusätzlichen Magensenkung, dem Lungenleiden, den Herz- und Gemütskrankheiten.“ Der Geschmack des Menschen verfeinert sich unaufhaltsam. Höher als den unmittelbaren Anblick großer sternenstäubender Zusammenstöße schätzt er heute bereits Informationen aus erster und auch aus zweiter oder dritter Hand, statt blutiger Zusammenstöße ihre sublimierte Beschreibung, statt eines Massenunglücks die kleinen Nachrichten über persönliche Unfälle. Der gebildete Mensch scheut das Blut und nicht nur sein eigenes. Menschliches Leid genießt er nur in der Lektüre, allerdings fordert er eine genaue, ausführliche und sachliche Beschreibung. Immer seltener werden heute gebildete Menschen — so sonderbar es auch klingen mag —, die ihre Leiden in natura zu schätzen wüßten und nicht lieber in einem Buch oder in einer Zeitung vom Unglück anderer läsen, selbst wenn hier das Erlebnis nur eine stark gedämpfte Wirkung zeitigt. Der gebildete Mensch von heute ist der Ansicht, daß das Leid im Leben selbst unleidlich und nur in übertragener Form erlebenswert ist, ähnlich wie er auch nur die taktvoll getarnten Formen der Machtausübung zu schätzen weiß. Gegen Überreichung eines geringen Geldbetrages kann sich der gebildete Leser in der Buchhandlung oder in der Leihbibliothek ohne persönliches Risiko an den Leiden eines ganzen menschlichen Lebens weiden. Wir können getrost behaupten, daß bei uns im Ausland die ewig schönen Begriffe von Bildung und Geld schon ganz miteinander verschmelzen.

Meine Damen und Herren, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß das Geld der Segen der Menschheit ist. Und wenn Sie bedenken, welch eine Unzahl von Zerstreuungen es Hand in Hand mit unserer anderen großen ausländischen Erfindung, der Lüge, gewährt, so werden Sie vielleicht davor zurückschrecken, mich in meine Heimat zu begleiten, denn allzuviel ist ungesund. Stellen Sie sich die unzähligen Varianten der Lüge vor und die ebenso zahlreichen Möglichkeiten, Geld auszugeben, und stellen Sie sich vor, wie diese und jene, sich miteinander verflechtend und immer neue Verbindungen eingehend, sich unablässig millionenmal vervielfältigen: die Fülle blendet die Augen! Stellen Sie sich den einfachsten Fall vor, nämlich, daß jemand Geld hat und lügt, er habe keines, oder kein Geld hat und lügt, er habe welches: selbst diese allereinfachste liebliche kleine Finte gibt zu endlosem Rätselraten Gelegenheit, zu fröhlichem Kopfzerbrechen, mutwilligen Einfällen, närrischem Grübeln, zu schmackhaften, durchwachten Nächten und zu endlosem, einsamem Grinsen vor dem leeren Spiegel des Wahnsinns.

Sinnt der Mensch diesen Fragen ausgiebig nach, findet er sich letzten Endes mit blutunterlaufenen Augen, den Kopf auf beide Fäuste gestützt, dem Rätsel des Weltalls gegenüber. Warum lügt mancher, er liebe das Geld: Gibt es darauf eine Antwort: Warum tun sie alles — offenbar gegen ihre Veranlagung und Überzeugung —, um möglichst viele hübsche, rundbäuchige Summen in ihren Besitz zu bringen, warum plagt sich ein jeder Tag und Nacht im Schweiße seines Angesichts, auf daß er mehr Geld verdiene als seine Nachbarn, obgleich er zu Hause, in der stillen Einsamkeit seiner vier Wände sich vor Ekel schüttelt und wie eine Schlange windet, wenn er in seinem Geldschrank einen kleineren oder größeren Betrag erblickt: Warum schinden sich manche bis zum Tage ihres Todes, um ihr tägliches Brot zu verdienen? Warum lügt der Reiche, er habe kein Geld, und der Arme, er habe welches: Warum lügt der Kaufmann in besonders begnadeten Augenblicken, daß er die Ware unter dem Selbstkostenpreis verschleudere, warum verschweigen die Staatsoberhäupter, daß sie in der Liebe ihres steuerzahlenden, treuen Volkes einen größeren Schatz besitzen als jeder andere Sterbliche: Warum hinterläßt der vorsorgliche Familienvater sein Vermögen seinen Kindern, obgleich er meistens mit schwärmerischer Liebe an ihnen hängt? Warum heiratet der bettelarme Jüngling, dem gesunden Verstand zum Trotz, ein reiches Mädchen, vorausgesetzt, man gibt es ihm? Warum heiratet die Prinzessin den jüngsten Prinzen? Warum verloben sich die schönen, sanften Nonnen mit dem steinreichen Himmelreich? Warum verrät der Jünger gegen sein besseres Wissen jeden Tag seinen Meister für dreißig Silberlinge? Warum lügen manche, sie machten sich nichts aus dem Geld? In unseren großen Städten sieht man zu Tausenden und Zehntausenden verkrüppelte Bettler, blinde Bettler, Bettler ohne Hände und Füße, fallsüchtige, aussätzige Bettler, aber auch gesunde arbeitsfähige, wenn auch mangelhaft gekleidete Männer und Frauen, die mit ihrem ganzen schielenden Wesen täuschend naturgetreu den Anschein erwecken wollen, sie verachteten das Geld, und unsere Seelenforscher grübeln vergebens darüber, was diese Menschen zu solch träumerischer Spiegelfechterei veranlasse. Es gibt manche unter ihnen, die der größeren Glaubwürdigkeit zuliebe auf offener Straße in lautes Weinen ausbrechen oder sich in Krämpfen winden oder platt hinfallen und verenden. Offenbar wollen sie ihren Mitmenschen ein Schnippchen schlagen, um sie zu belustigen. Welch anderen Grund könnten sie sonst haben? Warum wählen sie gerade diese extreme, selbstzerstörerische Art der Erheiterung, die vielleicht manchmal auch ihren eigenen Interessen widerspricht? Über ihren Köpfen, in der Ventilationsöffnung ihres Irrsinns, dreht sich vielleicht eine andere Welt, deren Lichtsignale sie selbst noch nicht ganz verstehen. Sie schauen und schauen und können sie nicht entziffern.

Meine Damen und Herren, ich bin von meinem Thema abgeschweift, verzeihen Sie mir gütigst. Wie immer wir die Sache ansehen, ist das Geld, wie ich bereits erwähnte, der größte Wohltäter der Menschheit. Man kann nicht ohne Ergriffenheit davon sprechen. Darüber zu schweigen ist noch schwerer. Das Geld ist nicht das, was zu sein es vorgibt, und eben das ist sein größter Zauber. Umsonst mühte sich die Natur mit Ameisenfleiß von Anbeginn der Zeiten, sie vermochte auch nicht annähernd ein Meisterwerk hervorzubringen, das man dem Geld an die Seite stellen könnte. Das Geld ist der Gegensatz von allem, was ist. Das Geld ist die Verneinung von allem, was ist. Es verneint die Schönheit, die Güte, die Liebe, und eben deshalb glauben die Menschen an sie. Es verneint die Unschuld, obgleich sie fällt, auch ohne von ihm versucht zu werden. Es verneint die menschliche Schlechtigkeit, wie wir vor einem Kranken seine unheilbare Krankheit verleugnen. Es verneint die Sünde, auf daß niemandem vergeben werde. Es verneint die Zeit und es verneint den Raum. Es verneint das Leben, und es verneint den Tod. Es verneint die Nacht des Jüngsten Gerichts, die sich wie eine Schlange um die Erde winden wird, das Tageslicht des letzten Fraßes im Maul. Kann man, meine Damen und Herren, heute leben, ohne zu verneinen? Man sagt, es habe einmal einen Menschen gegeben, der hätte in irrsinniger Vermessenheit sogar die Existenz des Geldes verneint. Diesen Menschen überfielen sowohl diejenigen, die Geld hatten, als auch diejenigen, die kein Geld hatten. Und sie zerrissen ihn, und sie fraßen ihn auf. Seitdem ist er spurlos verschwunden.“

G. A. beendete diesmal seinen Vortrag früher als gewöhnlich. Er fühlte sich zerstreut und müde.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1964
, Seite 606
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Tibor Déry:

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