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Amelie Lanier
Überlegungen zur Schrift Stalins:

„Über dialektischen und historischen Materialismus“

(1938)

Diese Schrift gibt erstmals eine Art Definition, was der Histomat ist und leistet, und beruft sich dabei natürlich auf die Klassiker. Aber diese Theorie, oder Weltanschuung tritt hier erstmals unter der Bezeichnung „Historischer Materialismus“ auf.

Gesellschafts- und Naturwissenschaften – warum werden die eigentlich unterschieden, und hat die Unterscheidung eine wissenschaftstheoretische Grundlage?

„Dialektisch“ ist als „Methode“ definiert, „materialistisch“ als „Deutung“. Also die „wissenschaftliche Weltanschauung“ wird hier in ihrer ganzen Voreingenommenheit vorgestellt.

Histomat ist also die auf die Gesellschaft bezogene „Methode/Anschauung“, Diamat ist für die Natur zuständig. Für jeden Gegenstand wird also eine passende Brille aufgesetzt.

Frage: Wie stehen eigentlich die Trotzkisten zum Histomat?
(Wikipedia, Trotzkij: „1899 wurde er zur Verbannung nach Sibirien verurteilt, wo er seiner Fundamentalkritik am Sankt Petersburger Regime mit intensiven Studien des dialektischen und historischen Materialismus sowie der marxistischen Weltanschauung ein theoretisches Fundament gab.“) Wie geht das? Also, WAS hat er damals studiert?
Offenbar beanspruchen die Trotzkisten die Erfindung des Histomat für sich. Wobei man wieder einmal merkt, wie wenig Unterschied in der Denkweise zwischen Stalin und Trotzki war.

Eigentlich ist diese Weltanschauung vom Institut des Marxismus-Leninismus entwickelt worden, das bis 1931 unter der Leitung von David Rjasanov stand. Rjazanov wurde 1938 erschossen, kurz vor dem Erscheinen des „Kurzen Lehrgangs“ – wahrscheinlich, weil er bestimmter Deutungen des Marxismus im Wege stand. Rjasanow selbst hatte aus der Deutschen Ideologie 1926 den Teil über Feuerbach herausgegeben. Die DI ist 1932 erstmals in Berlin erschienen, bereits nach Rjasanows Absetzung als Leiter des Instituts.

Man merkt an diesen Geschichten, wie wichtig allen Begründern der SU und ihren Anhängern es war, eine Weltanschauung aus der Taufe zu heben, mit der sie ihr Staatswesen rechtfertigen könnten. Und an Rjasanows Schicksal, wie haarig diese Frage war. Die sowjetische Führung wollte da offenbar nix anbrennen lassen.

Bei der Charakterisierung ihrer dialektischen Methode berufen sich Marx und Engels gewöhnlich auf Hegel

– also erstens, über ihre Methoden haben sie sich schon gelegentlich ausgelassen, aber hier bekommt „Methode“ noch eine andere Bedeutung: Als das Rüstzeug, dessen man sich zu bedienen hat.

Der ideengeschichtliche Regreß wird hier exemplarisch vorgeführt: Stalin beruft sich auf Marx und Engels, dann zitiert er Marx, der beruft sich auf Hegel, und dann macht man dem Leser ein X für ein U vor.

Hegel (auf den Kopf gestellt) + Feuerbach (Materialismus von Beiwerk gereinigt) = wissenschaftlicher Sozialismus. Wie ein Kochrezept, man mixt verschiedene Bestandteile im richtigen Verhältnis.

Es folgt eine interessante Ausführung zur Herkunft des Wortes „Dialektik“ – aus Dialog: das Gespräch und die Diskussion wurden im alten Griechenland als erkenntnissteigernd aufgefaßt. (Im Zeitalter der Meinungsfreiheit ist dergleichen recht aus der Mode gekommen.)

Wie kommt eigentlich der Widerspruch als Mittel des Erkennens zu solchen Ehren? Die Wissenschaft, oder das Nachdenken geht aus von einem Widerspruch in der Wahrnehmung, z.B. der zeitverschobenen Wahrnehmung von Blitz & Donner. So sieht das zumindest Hegel in der Logik und der „Philosophie des Geistes“. Wahrnehmung – Widerspruch – Erklärung – Theorie. Allerdings hat nicht jeder das Bedürfnis, über Widersprüche in der Wahrnehmung nachzudenken. Viele begnügen sich mit dem „Es war schon immer so!“ So war es die große Leistung Newtons, über einen herunterfallenden Apfel nachgedacht zu haben!

In der Sehnsucht, eine Methode zu entwickeln, mit der man dann erkenntnismäßig auf der sicheren Seite ist, taucht die früher übliche philosophische Suche nach dem Kriterium der Wahrheit wieder auf – die Idee ist die: das wendet man an, wie ein Gerät, füllt oben Fakten hinein, und unten kommt Wissen heraus. Diese Vorstellung war einmal sehr populär, und ist es eigentlich immer noch, wenngleich heute niemand mehr erwartet, daß unten tatsächlich Wissen herauskommt. Aber die Perspektive, sich das Nachdenken zu ersparen und dennoch schlau daherreden zu können, reizt viele Geisteswissenschaftler.

Da merkt man noch einen Unterschied zwischen dem Dogma des Historischen und Dialektischen Materialismus und dem heutigen Wissenschaftspluralismus: Bei Hegel, bei Marx, Engels, sogar bei Stalin wird Widerspruch noch als ein Mangel der Theorie aufgefaßt – heute ist das vorbei. Sogar der Gedanke des „Widerspruchs“ ist als theoretische Kategorie schon ziemlich vergessen, bzw. wird heute so gewendet, daß er gegen Wissenschaft spricht. Man kann eh nix erkennen, also ist dann jeder Widerspruch ebenso notwendg wie belanglos.

In der Naturwissenschaft gibt es allerdings (immer noch) den Widerspruch als Ansporn zum Weiterforschen. Es ist sogar so in der Naturwissenschaft heute, wenn jemand einen Widerspruch nicht auflöst, so kann er gar nichts dazu in irgendeinem ernsthaften Verlag publizieren.

Frage: Der Übergang von „Dialektik“ zu „Natur“ ist noch nicht klar – also inwiefern die Natur selbst sich angeblich als „dialektisch“ erweist.

Die Dialektik präsentiert sich im Laufe dessen, was über sie verzapft wird, als „Suche nach Widersprüchen“ und letztlich auch als die Versöhnung derselben.
Es geht aber nicht nur um Widersprüche der Theorie, sondern um vermeintliche Widersprüche der Natur.

Einwand: Aber „Widerspruch“ als Begriff kann man nur auf Theorie, theoretische Konstrukte anwenden. In der Natur findet sich sowas nicht.

Eine weitere Unterscheidung bezieht sich darauf, daß – alles in der Definition des Histomat – Metaphysik die Dinge als einzeln und zufällig (das ist anscheinend das Gleiche!) betrachtet, die Dialektik jedoch als zusammenhängend. Damit ist ein weiteres realsoz-wissenschaftliches Dogma gesetzt: Alles hängt irgendwie zusammen!
Diese Festlegung ist auch wieder eine wissenschaftliche Katastrophe, weil damit kommt man nie zu einem Schluß und einer Einsicht, sondern kann alles zerreden.
Entweder es gibt die (un)berechenbare Vielfältigkeit (wie in der Metereologie), da gibt es dann überhaupt keine sichere Erkenntnis, oder alles läßt sich mit allem kombinieren, je nach Belieben. Der Willkür ist damit jedes tor geöffnet.

Die Metereologie ist übrigens kein gutes Beispiel, weil sie ist Prognose und deshalb notwendigerweise unwissenschaftlich. Wissenschaftliche Erkenntnisse kann man ja nur über etwas gewinnen, was da ist.

Alles hängt also zusammen und alles ist in Bewegung bei der dialektischen Methode. Wogegen richtet sich das? Gegen die Untersuchung einzelner Phänomene? Wenn man so vorgeht, so kommt man ja nie zu Tisch, und schiebt immer irgendwelche unvollendeten Werke vor sich her.

Die Vorstellung von Engels, daß auch die Natur sich über Widersprüche entwickelt, beruht auf der „Naturphilosophie“ Hegels, und ist sicher durch die neueren Entwicklungen in der Wissenschaft (Darwin, Atomtheorie usw.) beflügelt worden. Engels sah das so: Hegel hatte die richtige Methode, deswegen hat er das alles schon vorausgesehen!
(Irgendwie erinnert das an: der Mensch ist sterblich, aber die göttliche Vorsehung ist unendlich.)

Einwand: Na ja, aber was z.B. die Ware angeht, so kommt man bei der Betrachtung ihrer selbst zu keinen Schlüssen, man muß die Zirkulation betrachten.

Antwort: Aber nur eine Sache anschauen und dann darüber räsonnieren, das macht ohnehin niemand. Also, die Methode wird gegen eine Position aufgebaut, die es nicht gibt. (Heraklit: „Alles fließt“ gegen Parmenides: „alle Bewegung ist nur Schein“.) Die „Metaphysik“, die hier immer so angegriffen wird, gibt es doch in dieser Form gar nicht. Bei Aristoteles und auch noch lange in Folge ist es eine Art Grundlagenwissenschaft, die sich mit den ersten und letzten Fragen beschäftigt – also keineswegs „statisch“ oder „einzeln“. (Vermutlich richtet es sich gegen philosophische-wissenschaftstheoretische Bewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die heute niemand mehr kennt.)

Der berühmte „Übergang von Quantität in Qualität“ oder richtiger, die Veränderung der Qualität durch quantitative Veränderungen ist ein weiteres Moment, das dieses Entwicklungs-Veränderungs-Dogma befestigen soll.

Ferner wird noch eine Entwicklung von einfach zu kompliziert behauptet – auch so etwas kann sein, muß aber nicht sein. Als Allaussage ist es jedenfalls ein Schmarrn.

Kaum bringt man ein Gegenbeispiel, so sagen solche Histomat-Fuzis, die sagen: soooo war das nicht gemeint.
Wenn alles zusammenhängt und nichts einzeln betrachtet werden kann, so geht natürlich in „die Entwicklung“ auch alles ein. Die Aussage ist also so allgemein, daß sie weder zu widerlegen noch zu beweisen ist. (In der Physik z.B. behauptet man angeblich, daß es umgekehrt sei.)

Die Sache mit Quantität und Qualität und der angebliche Übergang – offenbar soll da ein Tamtam gemacht werden, hallo ich hab was entdeckt! (Sicher spielt hier auch die Begeisterung über die Atomtheorie eine Rolle.)
(Hegel sah die Sache übrigens genau umgekehrt: er beharrt darauf, daß durch Veränderungen der Quantität sich die Qualität eben nicht ändert – beim Wasserbeispiel: gegenüber der Verschiedenheit der Aggregatzustände würde er daran festhalten, daß die Substanz, – also H2O – gleich bleibt. Zumindest ist das seine Position in der „Wissenschaft der Logik“. Es mag jedoch sein, daß Engels seine Weisheiten aus der „Naturphilosophie“ Hegels heraus- bzw. in sie hineinliest.)

Ein paar Highlights aus der Feder des großen Revolutionärs:
„»Im eigentlichen Sinne ist die Dialektik«, sagt Lenin, »die Erforschung der Widersprüche im Wesen der Dinge selbst.« (Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Wien-Berlin 1932, S. 188.)
Und ferner: »Entwicklung ist ,Kampf’ der Gegensätze.« (Lenin, Ausgew. Werke, Bd. n, S. 8l.)“

Also, das kristallisiert sich als eines der Haupt-Dogmen des Histomat heraus. Daß Wissenschaft richtige Erklärung der Dinge sein soll, wird als große Entdeckung oder Denkvorschrift verkündet. Es ist, als müßte das Rad wieder neu erfunden werden.
Die Debatten, die wir hier haben, ergeben sich notwendigerweise, weil man dieses Larifari natürlich in einem fort interpretieren muß, oder Beispiele suchen, auf die man es anwenden kann, und da ist der Assoziation und der Einbildungskraft Tür und Tor geöffnet.

Die Begründung dieser Methode ist zirkulär: weil die Natur so veranlagt ist, so ist die Dialektik die richtige Methode, sie zu erkennen. Das wird dann noch mit Zitaten und Berufung auf große Namen aufgeblasen.
Man merkt an unserer Debatte auch, wie sehr die Methoden-Huberei heute Selbverständlichkeit ist, also daß es jedem zunächst einleuchtet, daß man erst einmal eine Methode haben muß, bevor man sich mit irgendeinem Gegenstand theoretisch auseinandersetzt.

Wie sich im Weiteren herausstellt, ist der Entwicklungs- und Fortschrittsgedanke eine bequeme Grundlage dafür, vorherige Beschlüsse jederzeit revidieren zu können, ohne sie kritisieren zu müssen. Damals waren halt die Bedingungen anders! Man war auf einer anderen Stufe der „Entwicklung“!
Umgekehrt ist die Absage an Forderungen nach Restauration auch unsinnig: Denn wenn „die Entwicklung“ sowieso selbsttätig fortschreitet, so kann es gar keine Rückkehr zu überlebten Gesellschaftsformen geben, und solche Forderungen wären ohnehin nicht umsetzbar.

Es ist verständlich, daß ohne ein solches historisches Herangehen an die gesellschaftlichen Erscheinungen die Existenz und die Entwicklung einer Wissenschaft von der Geschichte unmöglich ist, denn nur ein solches Herangehen bewahrt die historische Wissenschaft davor, in ein Chaos von. Zufälligkeiten und in einen Haufen unsinnigster Irrtümer verwandelt zu werden.

Natürlich, die bei uns übliche bloße Aufzählung wird hier als abschreckendes Beispiel gebracht, warum es unbedingt einer Methode bedarf, um Ordnung in die Sache zu bringen.

Der vermeintliche „Schluß“ aus dem bisher Erläuterten führt jeglichen bisher ausgebreiteten Determinismus ad absurdum:

Also kann man die kapitalistische Ordnung durch die sozialistische Ordnung ersetzen, ebenso wie die kapitalistische Ordnung seinerzeit die Feudalordnung ersetzt hat.

Der „Umschlag von einer Qualität in eine andere“ kann historisch nur revolutionär bewerkstelligt werden:

Wenn das Umschlagen langsamer quantitativer Veränderungen in rasche und plötzliche qualitative Veränderungen ein Entwicklungsgesetz darstellt, so ist es klar, daß die von unterdrückten Klassen vollzogenen revolutionären Umwälzungen eine völlig natürliche und unvermeidliche Erscheinung darstellen.
Also kann der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus und die Befreiung der Arbeiterklasse vom kapitalistischen Joch nicht auf dem Wege langsamer Veränderungen, nicht auf dem Wege von Reformen, sondern einzig und allein auf dem Wege qualitativer Veränderung der kapitalistischen Ordnung, auf dem Wege der Revolution verwirklicht werden.

Weils Wasser kocht, so kann der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus nur revolutionär gehen. Eine Super-Argumentation!

Man sieht hier, wie der fehlerhafte Gedanke von Engels ideologisch nutzbar gemacht wird zur Interpretation der eigenen Politik.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
2014
Autor/inn/en:

Amelie Lanier:

Jahrgang 1961, Studium der Mathematik, Geschichte und Philosophie an der Universität Wien, dort Promotion zum Doktor der Philosophie 1988. Dissertation: „Über die Widersprüchlichkeit von Moralphilosophie am Beispiel Friedrich Nietzsches.“ Seither freie Forschungstätigkeit über die Geschichte Osteuropas und des österreichischen Kreditwesens. Publikationen zum Transformationsprozeß nach 1989 und den neueren Entwicklungen im Bankwesen. Wohnort: Zell am See. Motto: „Wenn die Pforten der Wahrnehmung gereinigt würden, würde alles dem Menschen erscheinen, wie es ist: unendlich.“ (William Blake, Die Hochzeit des Himmels und der Hölle)

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