FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1973 » No. 237/238
Richard Vahrenkamp

Taylor hat ausgespielt

Work in America. Report of a Special Task Force to the Secretary of Health, Education, and Welfare. MIT-Press, Cambridge (USA) und London 1973, pp. XIX + 262, Bibliographie und Index, Paperback 2,95 Dollar.

Die vielleicht beste Studie über die Arbeitsverhältnisse in den USA kommt ironischer Weise von der reaktionären Nixon-Administration. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Enge des industrie-soziologischen Ansatzes überwindet und etwa Fragen des Gesundheits- und Erziehungssystems mit einbezieht. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Marx’ Pariser Mauskripte (1221) geht sie von der These aus, daß die Arbeitsverhältnisse das Leben des Individuums dominant bestimmen und belegt sie Schritt für Schritt mit empirischem Material.

Eine weitere Frucht des marxistischen Ansatzes ist die in den Sozialwissenschaften sonst wenig anzutreffende Unterscheidung gesellschaftlicher Sphären, in denen der Markt regiert, von solchen, in denen soziale Beziehungen unter Ausschluß des Marktprinzips vor sich gehen. Dies etwa bei der Diskussion des Verhältnisses von Lohnarbeit zu der Arbeit einer „Hausfrau“ (64 ff) oder der Werte besserer Ausbildung, welche nicht in Geld ausdrückbar sind (136).

In einem großen Kapitel wird ausführlich die Situation der Abhängigkeit und Unterdrückung der Fabrikarbeiter an ihrem Arbeitsplatz und ihre steigende Unzufriedenheit darüber dargestellt, unter besonderer Berücksichtigung der Jugend, der Alten, der Farbigen und der Frauen. Die Arbeiter klagen über mangelhafte Aufstiegsmöglichkeiten, autoritäre und hierarchische Organisation der Arbeit, mangelnde Möglichkeit, die Arbeit nach eigenen Vorstellungen zu organisieren (Verbesserungsvorschläge werden strikt zurückgewiesen, 37), und über monotone und repititive Tätigkeit. Die Kritik entzündet sich also an der taylorisierten Form der Arbeit. Die negative Selbsteinschätzung ihrer Arbeitssituation wird ergänzt durch das Bild, das die Gesellschaft vom Arbeiter hat: Die Massenmedien zeigen den Arbeiter nur als negative Figur. Eine Darstellung der Arbeit, die er tut, fehlt überhaupt (34 f).

Im folgenden Kapitel führt die Studie an, wie die Arbeitsverhältnisse die Arbeiter körperlich und seelisch kaputt machen. Die Kampfparole des „Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg“ erfährt hier gewissermaßen ihre offizielle Anerkennung, daß unsere Gesellschaft die Menschen krank macht. Verwahrlosung, Alkoholismus, Drogensucht, Apathie und früher Tod (Arbeitszufriedenheit ist bester Predictor für die Lebenserwartung, 77) werden in direktem Zusammenhang mit der taylorisierten Arbeit gebracht.

Die sich hier zeigende Disökonomie des Kapitalismus, einerseits Auspressung maximaler Mehrarbeit in der Fabrik und andererseits große Aufwendungen für medizinische und soziale Rehabilitationssysteme, ist Ausgangspunkt und Hauptthese: Der Taylorismus wird ineffektiv! Ist dieser gesamtgesellschaftliche Aspekt der Studie auch immerhin bemerkenswert, so wurde sie doch erst dadurch möglich, daß der Taylorismus auch betriebswirtschaftlich ineffektiv zu werden droht und so die Interessen der einzelnen Kapitalisten tangiert werden. Denn Arbeiter antworten neuerdings auf taylorisierte Arbeit zunehmend mit vermehrter Abwesenheit vom Arbeitsplatz, wilden Streiks, unkonzentrierter Arbeit und Sabotage.

Als Gründe dafür, daß sich nun Arbeiter im Unterschied zur Vergangenheit nicht mehr taylorisierte Arbeit gefallen lassen wollen, werden angeführt:

  1. Der amerikanische Traum vom Aufstieg, wenn man nur ordentlich zupackt, ist ausgeträumt, seitdem die Einwanderungswelle vorbei ist und einfache Handarbeit nicht mehr vorübergehender Durchgangspunkt zu besseren Jobs ist. Die Arbeiter fühlen sich in der Falle sitzend (33, 140).
  2. Der Bildungsboom des vergangenen Jahrzehnts hat die Erwartungen der Jugendlichen höher geschraubt als einzulösen ist. Die naive Rechnung, daß eine längere Ausbildung bessere Arbeitsplätze und ein höheres Einkommen verspricht, hat sich als falsch herausgestellt. Die Kapitalisten setzen die Eingangsvoraussetzungen für die Arbeitsplätze schneller herauf als Arbeiter diese Voraussetzungen erwerben können (33, 135 f). Die enttäuschte Hoffnung macht Jungarbeiter unzufrieden und ebenso ältere, die die Chancen für ihre Kinder schwinden sehen.
  3. Die Erziehung der Jugendlichen an Highschool und College ist orientiert an den Normen der Mittelklasse, wie Selbstverantwortung und Kreativität, und wird in „antiautoritärer“ Teamarbeit vollführt (49). Sie steht daher in jeder Beziehung den Normen entgegen, welche taylorisierte Fabrikarbeit setzt. So schafft die bessere Erziehung der Arbeiter neue Ansatzpunkte für eine Revolte. Aller Bildungsökonomie zum Trotz sind Arbeiter im Taylorsystem daher um so weniger produktiv, je länger sie eine Erziehung genossen haben (135).

Als Lösung aus dem Dilemma schlägt die Studie eine Neuorganisation der Arbeitswelt vor, die an Radikalität von einer bürgerlichen Institution schwerlich zu übertreffen ist. Von der Wahrung der Eigentumstitel an den Aktien abgesehen bleibt nichts tabu. Anstelle aufgesplitterter Teilarbeiten unter Isolation von den übrigen Arbeitern wird Arbeit in Gruppen an größeren Komplexen der Gesamtarbeit in freier Selbstverantwortung der Gruppe gesetzt mit Job-Rotation und gegenseitiger Unterrichtung. Das mittlere Management entfällt ganz (104 f). Routinefunktionen wie Reinigung des Arbeitsplatzes und Maschineschreiben werden von allen gleichmäßig getragen (97, 148). Weiter wird Selbstverwaltung nach dem Räteprinzip (103) und Aufteilung des Profits unter die Arbeiter gefordert. Hier setzen allerdings die bürgerlichen Eigentumsvorbehalte ein: die Spitzenentscheidungen bleiben dem Topmanagement vorbehalten (104), dessen Kontrolle die Eigentümer vornehmen — dies verschweigt die Studie —, und ein Teil des Profits wird vorweg den Aktionären ausgeschüttet. Weiter wird eine periodische Bewährung aller Lehrkräfte und aller an der Schulbürokratie Beteiligten in der Produktion gefordert, damit sie den Kontakt mit der Realität der Arbeitswelt behalten (151), und überhaupt eine enge und ständige Verbindung von Arbeit und Unterricht angestrebt.

Alle diese Maßnahmen versprechen eine beträchtliche Steigerung der Produktivität (bis 40% in Einzelbeispielen). Dies müßte doch eigentlich dazu führen, daß sich diese neuen Methoden der Arbeitsplatzorganisation sehr schnell durchsetzen. Dem ist jedoch nicht so. Nur ca. 3000 Arbeiter sind an solchen „Experimenten“ beteiligt, bei einer Gesamtzahl von 80 Millionen Arbeitskräften in den USA (103). Wie löst sich dieses Paradox?

Solange die Arbeit taylorisiert ist, bleibt der Arbeiter nur ohnmächtiges Anhängsel an die Maschinerie, deren Ablauf mit den exakten Methoden der Ingenieurwissenschaft in groben Zügen planbar ist. Hierdurch ist die Arbeiterschaft für das Kapital ein kalkulierbares Objekt. Hingegen ist das soziale Verhalten von Menschen nicht kalkulierbar (die Sozialwissenschaften sind nicht „exakt“), und daher stellt ein von Arbeitern autonom geführter Betrieb den Eigentumstitel des Kapitals am Profit in Frage. Das Kapitalverhältnis wäre von einem realen, d.h. die Produktion beherrschenden Verhältnis, zu einem formalen übergegangen, wo der Rechtstitel am Profit nur noch als seine letzte schale Hülle übrig bliebe und also leicht zu beseitigen wäre.

Der „humane Kapitalismus“ (23) ist wohl nicht realisierbar. Sicher werden die amerikanischen Kapitalisten einige Auswüchse der Taylorisierung beseitigen, um die Unzufriedenheit der Arbeiter zu dämpfen. Ohne Kämpfe wird das nicht abgehen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
1973
, Seite 75
Autor/inn/en:

Richard Vahrenkamp:

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