MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 56
Christine Weber-Herfort
Streit ums gesamtdeutsche Abtreibungsrecht

Tatort oder Wohnort?

Fristenlösung im Osten, Indikationsregelung im Westen. Wie der zukünftige gesamtdeutsche Abtreibungsparagraph aussehen wird, ist nach wie vor ungewiß.

Bild: emma

Am Ende waren alle zufrieden. Einige zeigten sich „erleichtert“ und andere sogar „glücklich“. Die angeblich größte Hürde auf dem Weg zum zweiten Einigungsvertrag, die Abtreibungsregelung für Gesamtdeutschland, war weggeräumt. Vorläufig. Denn es bleibt alles beim Alten. In dem Teil, der noch bis 3. Oktober DDR heißt, gilt weiter die Fristenlösung, die jeder Frau die Entscheidung überläßt, in den ersten drei Monaten ihrer Schwangerschaft eine kostenfreie Abtreibung vornehmen zu lassen, ohne daß eine Zwangsberatung eingeschaltet wird. In der Bundesrepublik bleibt es bei der Indikationslösung, die die Entscheidung über den Schwangerschaftsabbruch den Ärzten überträgt. Spätestens 1991 soll dann der gesamtdeutsche Gesetzgeber ein neues, einheitliches Abtreibungsrecht geschaffen haben. Oberflächlich betrachtet, dreht sich das ganze Spektakel nur um die Frage: Was passiert in der Zwischenzeit, bis diese für 1991 angepeilte gesamtdeutsche Abtreibungslösung greift? Sollte es den Frauen in der Noch-Bundesrepublik möglich sein, das liberalere Fristenlösungsmodell in der Noch-DDR in Anspruch zu nehmen? Der Streit wurde zu einer Frage der Rechtsprinzipien: Tatort- oder Wohnortprinzip? Tatortprinzip: das bedeutet, daß sich die Zuständigkeit des Gerichts auf den Tatort der Abtreibung bezieht.

Das Wohnortprinzip besagt, daß Frauen mit einem Wohnort in einem westlichen Bundesland keine Abtreibung in einem östlichen Bundesland (ehemals DDR) vornehmen lassen dürfen. Tun sie es doch, machen sie sich strafbar. Normalerweise gilt das Tatort-Prinzip, dies ist auch höchstrichterliche Rechtssprechung, und es gibt nur ganz wenige, begründete Ausnahmen. Diesmal aber wollte die CDU/CSU das Wohnortprinzip durchsetzen. Ihr Vorstoß traf zunächst — auf einhellige Ablehnung, auch beim Koalitionspartner, der liberalen Partei. („Mit uns geht das nicht“, so Frau AdamSchwaetzer, 2. Vorsitzende der FDP; „Eine Regelung aus dem Tollhaus“, so SPD-Vorsitzender Vogel.) Bei den Verhandlungen zwischen den Koalitionspartnern CDU/CSU und FDP ließen sich jedoch die Männer in der FDP allen voran Graf Lambsdorff — vom Wohnortprinzip überzeugen. Die Reaktion bei den Parteifrauen von SPD und Grünen sowie in der Frauenbewegung reichte von blankem Entsetzen bis hin zu lautem Zähneknirschen. Die SPD zeigte sich geschlossen und nutzte die Gelegenheit, sich im Wahlkampf zu profilieren: „Mit uns nicht“, hieß ihre Devise.

Wie sollte denn auch das Wohnortprinzip durchgesetzt werden? In Berlin wurde das Ganze zum absurden Theater: Mitten durch die Stadt würde eine neue (Rechts)Grenze gezogen und zudem der Gleichheitsgrundsatz verletzt, denn die Westberlinerinnen würden durch die Regelung mit dem Wohnortprinzip schlechter gestellt als die Frauen im Ostteil der Stadt. Dem beharrlichen Druck von allen Seiten hielt die FDP nicht stand. Sie fiel wieder um und kehrte zum Tatortprinzip zurück. Graf Lambsdorff erklärte das so: er sei „unprofessionell einer falschen Auffassung aufgesessen“. Nachdem auch in der Volkskammer der DDR das Wohnortprinzip abgeschmettert worden war, zeigte sich die CDU/CSU kompromißbereit. Es gelten für eine Übergangszeit in Ost- und West-Deutschland die bisherigen Abteibungsregelungen weiter. Frauen aus der BRD dürfen straffrei auch in der DDR abtreiben. Was war das nun? Ein Sturm im Wasserglas? Ein Scheingefecht? Mitnichten. Hier wurden Pflöcke eingeschlagen für die künftige Regelung der Abteibungsfrage. Hinter der Bonner Herrenrunde, die so wacker für das Wohnortprinzip stritt, stehen die Gottesmänner aus der katholischen Kirche. Und der liegt keine andere Frage so sehr am Herzen wie die Sorge um die Abtreibung. Sie würden sogar auf die Wiedervereinigung verzichten — so etwa der Kölner Kardinal Meissner: Lieber keine Wiedervereinigung als ein gesamtdeutsches Recht auf Abtreibung.

Und die Frauenbewegung? Von der Volksbewegung Anfang der 70er Jahre gegen den „Schandparagraphen 218“ ist nicht mehr viel geblieben. 1974 hatte die damalige sozialliberale Koalition ein Gesetz zur Fristenlösung eingebracht, ähnlich wie es heute noch für die DDR gilt. Das Gesetz trat jedoch nie in Kraft, weil die CDU Verfassungsbeschwerde einlegte. 1975 entschied das Bundesverfassungsgericht mit knapper Mehrheit, daß die Fristenlösung verfassungswidrig sei. Danach legte sich die tiefe Enttäuschung, einen demokratischen Sieg errungen und gleich wieder verloren zu haben, wie ein nasser Lappen über die Bewegung. Die Forderung nach „ersatzloser Streichung des Paragraphen 218“ wurde zur Pflichtübung. Es gibt jetzt die Chance eines neuen Aufschwungs einer gesamtdeutschen Frauenbewegung, die wahrscheinlich nicht die ersatzlose Streichung des Paragraphen 218 erkämpfen könnte; aber die Fristenlösung ohne Zwangsberatung wäre unter den gegebenen Umständen schon ein Fortschritt.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1990
, Seite 68
Autor/inn/en:

Christine Weber-Herfort:

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