FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1973 » No. 229
Wilhelm Bittorf

Rüstung schafft Inflation

Der Slogan: „Geht Amerika pleite?“ war keine Sensationsmache des amerikanischen Präsidentschafts-Wahlkampfes. Schon seit Ende der fünfziger Jahre gab die amerikanische Regierung ständig mehr aus, als sie einnahm. Mit der Eskalation des Vietnamkrieges wurde das Dollar-Problem akut. Als Nixon Präsident wurde, versprach er den Vietnamkrieg auf ein Minimum zu drosseln und damit den Staatshaushalt auszugleichen. Er ersetzte fast eine halbe Million amerikanischer Soldaten durch einen Hagel von Bomben auf beide Teile Vietnams. Der Krieg wurde noch grausamer für die Vietnamesen — für Amerika jedoch biilliger in den finanziellen Direktkosten. Auch schloß er mit Moskau einen Vertrag zur Begrenzung der strategischen Rüstung. Trotzdem sind die Defizite im amerikanischen Staatshaushalt nicht zurückgegangen. Im Etatjahr 1972 war das Defizit der US-Regierung ebenso groß wie 1968.

In der Amtszeit von Nixon hat sich die amerikanische Staatsschuld um 60 Mrd. Dollar vermehrt und die Höhe von 440 Mrd. Dollar erreicht. Knapp die Hälfte stammen noch aus dem Zweiten Weltkrieg: Kosten für den Sieg über Deutschland und Japan. Die andere Hälfte, die ebenso überwiegend der Rüstungsfinanzierung diente, ist seit dem Koreakrieg nach und nach angelaufen. Allein die Zinsen für diese Gesamtschuld belaufen sich jährlich auf fast 60 Mrd. Dollar und bilden den drittgrößten Einzelposten im US-Haushalt.

Dies alles ist von höchstem Interesse für Europa und die BRD. Das US-Defizit im laufenden Finanzjahr soll nach Expertenschätzungen auf 35 Mrd. Dollar anschwellen, was einen neuen Schub globaler Inflation bedeuten würde. Im BRD-Wahlkampf ging es fast noch stärker, als dies in Amerika der Fall war, um Inflation, Wirtschaft und Staatsfinanzen. Wer verschuldet den beschleunigten Geldwertverlust?

Langsam wächst die Einsicht, daß die Inflation in der BRD nicht nur „hausgemacht“, sondern Teil einer Weltinflation ist, und daß dies zusammenhängt mit den Milliarden überschüssiger Dollar, die in der BRD in DM umgetauscht werden mußten, wodurch Milliarden frischer DM die im Umlauf befindliche Geldmenge aufblähten. Dieser Dollarzustrom, der die DM inflationär — d.h. ohne konkreten Gegenwert — vermehrte, das ist die „außenwirtschaftlich offene Flanke“, von der Karl Schiller sprach, ehe er den Kontakt zur Realität verlor.

„Inflation kann immer und überall nur dann erzeugt werden, wenn die Geldmenge rascher zunimmt als die Produktion. Preis- und Lohnsteigerungen sind immer erst möglich aufgrund einer übermäßigen Geldschöpfung.“ Das ist die Definition des amerikanischen (bürgerlichen) Finanzexperten Milton Friedman, ehemaliger Berater der Nixon-Regierung. Inflation heißt: übermäßige Geldvermehrung (und nicht Preissteigerung). Logisch (kaum realistisch) können Gewerkschaften überhöhte Lohnforderungen erheben — das Geld dafür können sie nicht schöpfen. Eher können das Unternehmer und Banken gemeinsam durch verstärkte Aufnahme und Vergabe von Krediten, die praktisch wie neues Geld wirken und eine lohn- und preistreibende Übernachfrage hervorrufen können. Auch der Staat kann Haushaltsdefizite auf Kredit finanzieren — mit dem gleichen Resultat. Diese inneren Inflationsquellen bestehen unstreitbar in Europa und in der BRD. Doch auch diese inneren Quellen werden gespeist von Einflüssen, die ihren Ursprung in den gewaltigen Haushalts- und Zahlungsbilanzdefiziten der USA haben.

Die wachsenden Defizite und die Inflation sind jedoch nur Symptome, nicht die Krankheit selbst. — Das amerikanische Wirtschaftssystem hat sich in Richtung auf ein System gewandelt, das in den dreißiger Jahren zuerst in Deutschland ausprobiert wurde: ein System massiver staatlicher Lenkung und Finanzierung der privaten Wirtschaft mit dem Schwergewicht auf der Rüstungsproduktion; eine immer engere Verflechtung und Interessenkoalition zwischen dem Staat und der Privatwirtschaft, aber ohne Sozialisierung der Produktionsmittel. Was man in Deutschland „Wehrwirtschaft“ nannte, nennt man heute in Amerika „Staatsmanagement“, d.h. der Staat managt die Wirtschaft, aber die Privatwirtschaft konstituiert den Staat nach ihren Bedürfnissen. Andere bezeichnen die gleiche Erscheinung als „Pentagonkapitalismus“.

Die besondere Rolle des Staatsmanagements und der Rüstung läßt sich leichter verstehen, wenn man sich auf die dreißiger Jahre besinnt. Nach dem New Yorker Börsenkrach war die undirigierte kapitalistische Wirtschaft zusammengebrochen. Die Produktion hatte sich um die Hälfte verringert, der Welthandel war zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Jedes kapitalistische Land versuchte sich auf eigene Faust zu retten. Die Nazi-Regierung installierte die staatliche Lenkung der Privatwirtschaft und begann ein mit öffentlichen Defiziten finanziertes Aufrüstungsprogramm. 1936 war die Arbeitslosigkeit nahezu beseitigt. Diese „euphorische deutsche Sonderkonjunktur“ zeigt, wie verzweifelt die Lage der kapitalistischen Welt damals war. Nur die Maßnahmen der Hitler-Diktatur schienen Abhilfe zu versprechen — im Gegensatz zu den milderen demokratischen Maßnahmen von Roosevelt in Amerika, wo direkte staatliche Eingriffe in die Wirtschaft (noch) nicht durchzusetzen waren.

Die Politik des New Deal, beschränkt auf soziale Hilfen und öffentliche Arbeitsbeschaffungsprogramme, konnte die Krise zwar in manchen Punkten lindern, nicht aber überwinden. Die Arbeitslosigkeit erreichte 1938 12 Millionen. „Noch 1940 waren es 10 Millionen ... Nur der Krieg, der unterdessen in Europa ausgebrochen war, konnte das kapitalistische System noch aus seiner Agonie reißen“ (Lois Welke).

Erst im Krieg und nur durch den Krieg mit Deutschland und Japan wurde die Vitalität, die das kapitalistische System in den letzten 30 Jahren beweisen konnte, wiedergeweckt. Denn erst der Krieg machte es dem amerikanischen Staat möglich, so massiv in die Wirtschaft einzugreifen, wie das im Frieden in Deutschland längst geschehen war. Erst der Krieg bewog die amerikanische Unternehmerschaft zur Zusammenarbeit mit dem Staat, um die gewaltigen brachliegenden Produktivkräfte für die Rüstung zu mobilisieren. Fast 400 Mrd. Dollar pumpte die damalige US-Regierung — überwiegend durch Geldschöpfung — in die Rüstung, ein beispielloser Ausbruch industrieller Produktion. Der Zweite Weltkrieg mußte dem amerikanischen Volk wie ein Wirtschaftswunder erscheinen. Diese Erfahrung brachte viele Amerikaner zu der Ansicht, daß militärische Produktion zu wirtschaftlichem Wohlstand führt bzw. dessen Voraussetzung ist.

1944 mahnte der spätere US-Außenminister und Organisator der NATO, Dean Acheson: „Wir können nicht noch einmal zehn solche Jahre durchmachen, wie die ... von 1929-39, ohne die allerschwersten Konsequenzen für unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsform befürchten zu müssen ... Vollbeschäftigung und Prosperität können nur erreicht werden durch ein System, das uns nach dem Krieg fremde Märkte und ein weltweites Betätigungsfeld für unsere Wirtschaftskraft eröffnet.“ Amerika formte die neue Weltordnung (mit Ausnahme des Sowjetblocks). Der Militäretat wurde zwar in den ersten Nachkriegsjahren drastisch gekürzt, aber der Staat wirkte weiter als wichtigster Konjunkturstimulator. Er setzte das verarmte Europa instand, Markt-, Handelspartner und profitables Investitionsobjekt für amerikanische Privatunternehmen zu werden.

Der Krieg hatte zwei Machtfaktoren gegenüber dem Staat hervorgebracht, die es vorher in Amerika nicht gab:

  1. Einen umfassenden militärischen Führungsapparat mit Hauptquartier im Pentagon, noch heute der größte Bürokomplex der Welt, und
  2. eine mächtige Rüstungsindustrie.

Schon 1947 erzeugten Großfirmen der Luftfahrtindustrie mit großangelegten Anzeigenkampagnen Angst vor der Sowjetunion, zu einer Zeit, als der kalte Krieg gerade erst kühl wurde und die UdSSR weder die Atombombe noch einen einzigen Langstreckenbomber besaß. Der Koreakrieg 1950 fällt dann zusammen mit der Wende zur permanenten Aufrüstung der USA. Die Ausgaben dafür schnellten (nach Kaufkraft) auf fast zwei Drittel des Rekordetats im Zweiten Weltkrieg — finanziert wiederum größtenteils durch Defizite. Die dadurch ausgelöste Superkonjunktur ging um die ganze Welt — sogar die Deutschen konnten jetzt erstmals seit 1870 von einem Krieg profitieren.

Das deutsche Wirtschaftswunder kam in Schwung — aber auch seine Kehrseite zeigte sich bald für die BRD in Form einer neuen Art von Inflation, der schleichenden Geldentwertung. Jedermann kannte die wirkliche Ursache: Korea und die Wiederaufrüstung in der NATO. Heute dagegen spricht kaum einer von einer Vietnam-Inflation, obwohl Vietnam bisher dreimal soviel gekostet hat wie Korea, obwohl die gleichen Inflationsfaktoren wirken.

Seit dem Koreakrieg kennzeichnet sich die internationale Situation wie folgt: Aus den Staatsausgaben für die „Verteidigung“ entspringt ständig ein Kaufkraftüberhang an Dollar, den Amerika in den Kreislauf des Welthandels hineinpumpte, was den Inflationsdruck in den USA entscheidend verminderte, die in ihrem Handelseifer Dollarüberschüsse erzielten. (Der Rüstungsaufwand der übrigen NATO-Staaten wirkte natürlich auf die gleiche Weise — wenn auch nicht in dem gleichen Ausmaß — inflationär.)

Nach Ansicht des Verteidigungsministeriums im Pentagon waren und sind die amerikanischen Rüstungsausgaben ein Minimum — der absolut notwendige Preis für Sicherheit. Aber seit Jahren weiß man, daß sich Amerika unter ruinösen Kosten gegen eine Welt von Feinden wappnet, deren Fähigkeiten und Absichten vom Pentagon unrealistisch eingeschätzt und wahnhaft, aber aus gewissen Interessen übertrieben werden. In Washington weiß jedermann, daß der Umfang der Rüstung nicht in erster Linie von der strategischen Weltlage und davon, was der politische Gegner tut oder nicht tut, abhängt, sondern von ganz anderen Faktoren. Man weiß, daß hohe Staatsausgaben die Wirtschaft ankurbeln und die Konjunktur stützen. Die herrschende Meinung der amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler gibt ganz offen zu, daß die Dauerhaftigkeit der Nachkriegskonjunktur und das Ausbleiben schwerer Krisen primär „auf die stabilisierende Wirkung der staatlich finanzierten, dem Konjunkturkreislauf nicht unterworfenen Verteidigungsindustrien“ zurückzuführen sei. (Das Zitat stammt aus einem Gutachten der konservativen Universität von Utah.)

Steigen die Arbeitslosenzahlen, so besteht immer die erste Maßnahme, die von der US-Regierung erwogen und meist auch ergriffen wird, in einer Erweiterung der Rüstungsaufträge. Projekte, die sofort in Angriff genommen werden können, hat das Pentagon immer bereit.

Als John F. Kennedy 1961 seine Präsidentschaft antrat, erhöhte er aus diesem Grunde das Pentagonbudget mit einem Mal um fast 12 Prozent und startete damit ein Großprogramm zur Produktion und Installation von 1000 Interkontinentalraketen vom Typ „Minutemen“ — Zielrichtung: Sowjetunion.

Dies nicht, um einer feindlichen Drohung zu begegnen; die UdSSR besaßen damals noch keine einsatzfähigen Fernraketen mit Wasserstoffsprengköpfen. In dieser konjunkturpolitisch motivierten Aktion der USA hatte die Kuba-Krise ihren Ursprung; das hat McNamara selbst zugegeben.

Dies ist nur ein Beispiel für die Tendenz amerikanischer Politiker, die Rüstungsproduktion fast naiv als Konjunkturspritze, als Mittel zur Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen einzusetzen, eine Tendenz, die trotz allem Gerede von Entspannung in den letzten Jahren immer deutlicher hervorgetreten ist. Im US-Nachrichtenmagazin „Time“ hieß es vor kurzem: Jetzt „ist Nixon (...) fest entschlossen, die US-Wirtschaft bis zum Wahltag in die bestmögliche Form zu bringen. Um das zu erreichen, hat er ein Budget erstellt, mit dem er der Wirtschaft eine riesige Menge staatlicher Gelder in die Schlagadern schießen wird, ohne Rücksicht auf das dabei entstehende ebenso riesige Defizit ...“

Dies trotz SALT. Denn das SALT-Abkommen betrifft bereits vorhandene Waffensysteme, es läßt genug Spielraum für unvermindert hohe Rüstungsaufträge, für eine Vielzahl großer Waffenprojekte, die von Pentagonexperten und Rüstungsfirmen unablässig angeboten werden.

Der Kongreß in Washington hat die Aufgabe, die Staatsausgaben zu kontrollieren. Kongreßberater Richard Kaufmann erklärte: „Die große Mehrheit der Senatoren und Kongreßmänner steht unter dem Einfluß, den das Verteidigungsestablishment allein schon durch seine Riesenhaftigkeit ausübt ... Schließlich hat das Pentagon 22.000 Vertragsfirmen mit fast 100.000 Unterkontraktfirmen. 76 Industriezweige sind als „verteidigungsorientiert“ eingestuft. Es gibt kaum einen Wahlkreis ohne Rüstungsfirmen und Militärbasen, an denen viele Tausend Arbeitsplätze hängen. Und die Wähler auf diesen Arbeitsplätzen setzen ihren Abgeordneten natürlich viel stärker unter Druck, als die Leute aus den nicht staatsabhängigen Erwerbszweigen, weil sie glauben, daß ihr Mann in Washington unmittelbar für ihr Wohlergehen sorgen kann.“

Ist eine Wehrwirtschaft solchen Ausmaßes notwendig, um die Lebensfähigkeit des kapitalistischen Systems zu bewahren? Warum haben die Wähler gegen die Abrüstungspläne McGoverns gestimmt, warum sind sie bereit, hinzunehmen, daß ihre Steuergelder überwiegend für Rüstungsgüter ausgegeben werden, statt für soziale Zwecke?

Für die meisten Amerikaner besteht noch immer eine ungebrochene Identität zwischen den privatkapitalistischen und den nationalen Interessen. Mit Ausnahme der weit geringeren Agrarsubventionen gibt es keinen Etatposten, der die Privatwirtschaft so unmittelbar begünstigt wie der Rüstungshaushalt. In privatkapitalistischer Sicht gelten Rüstungsausgaben deshalb als systemkonform, Ausgaben für soziale Reformen dagegen als systemverändernd, weil sie der Privatwirtschaft nur indirekt und in geringerem Maße zugute kommen und weil zudem ein Ausbau der sozialen Dienste dahin tendiert, den öffentlichen Sektor der Volkswirtschaft gegenüber dem privaten zu erweitern.

Etatfragen sind noch nie in stärkerem Maße als heute Machtfragen gewesen. Nicht nur in Amerika.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1973
, Seite 27
Autor/inn/en:

Wilhelm Bittorf:

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags

Begriffsinventar

Geographie