FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1970 » No. 197/I
Friedrich Achleitner
Kritisches Lexikon: Architektur

Roland Rainer

Geboren 1910 in Klagenfurt. Technische Hochschule Wien, 1932 Diplom und Dr.techn., ab 1932 freischaffender Architekt in Wien. Nach ordentlichen Professuren an den technischen Hochschulen von Hannover und Graz ab 1956 Leiter einer Meisterschule für Architektur an der Akademie der bildenden Künste in Wien, 1958 bis 1963 Stadtplaner von Wien. Preise: Preis der Stadt Wien, 1954, Großer österreichischer Staatspreis, 1962. Wichtigste Bauwerke: Fertighaussiedlung Wien, Veitingergasse (mit C. Auböck), 1954, Stadthalle Wien, 1955 bis 1958, Stadthalle Bremen (mit Säume und Hafemann), 1961 bis 1964, Mehrzweckhalle Ludwigshafen, 1962 bis 1965, Flachbausiedlung Mauerberg, 1963, Evangelische Kirche Wien, Simmering, 1963, Gartenstadt Puchenau, 1966 bis 1970, Fernsehzentrum Wien-Küniglberg, 1968 bis ..., Allgemeinbildende höhere Schule Wien 22, 1969 bis ... Wichtigste Projekte: Hotel Intercontinental Wien, Konzerthaus Wien, Stadthalle Kassel, Stadthalle Linz, Kaufzentrum Linz-Südbahnhof, Schwimmhalle für die Wiener Stadthalle, diverse städtebauliche Projekte und Siedlungen. Wichtigste wissenschaftliche und theoretische Arbeiten: Die Behausungsfrage, 1947, Städtebauliche Prosa, 1948, Ebenerdige Wohnhäuser, 1948, Die gegliederte und aufgelockerte Stadt (mit Göderitz und Hoffmann), 1957, Anonymes Bauen Nordburgenland, 1961, Planungskonzept Wien, 1963, Universität Salzburg, 1964, Roland Rainer: Bauten, Schriften und Projekte, 1964.

Theoretische Grundlagen

Obwohl sich kein österreichischer Architekt so klar durch theoretische und wissenschaftliche Arbeiten ausgedrückt und auch festgelegt hat, so ist es doch schwierig, R. als Architekten, Städteplaner, Lehrer, als streitbaren, ja oft zynischen Polemiker „Kritisch-lexikal“ zu erfassen. Sein Schaffen beherrscht ein spannungs- und konfliktgeladener Dualismus zwischen emotionellem, ästhetischem Engagement und rationaler Argumentation. Er gehört (nach Spielmann) zu jener Art von Architekten, die sich als Idealisten der Waffe des Aristotelismus bedienen, aber nicht zugeben möchten, daß sie sich im Streit zwischen Wirklichkeit und Idee zugunsten der Idee entschieden haben.

R.s emotioneller Hintergrund ist der Konflikt mit der Großstadt der Gründerzeit. Als Student erlebt er in der Wiener Szene das soziale Engagement einer Architektur. Durch Loos und Frank werden in Wien die Ideen der Gartenstadtbewegung verarbeitet und vertreten, der angelsächsische Trend zu einem humanen Bauen. Zweifellos sind R.s theoretische Grundlagen in jenem Teil des Funktionalismus zu suchen, der sich besonders diesem sozialen Engagement verschrieben hat und der nach 1945 zunächst aus dem skandinavischen Raum nach Österreich wieder importiert wird. Heute ist dieser „humane Funktionalismus“ einer Krise und einer starken Kritik unterworfen, obwohl es noch niemand der Mühe wert gefunden hat, seine Elemente zu analysieren. Dahinter steht eine Architekturauffassung, die von einer ganz bestimmten Glücksvorstellung des Menschen ausgeht, die wiederum als Reaktion auf die Folgen der ersten und zweiten industriellen Revolution anzusehen ist. Es geht dabei weniger um Architektur als um die Probleme eines gesunden, lebens-, gemeinschafts- und familienfreundlichen Bauens. Damit verbunden ist eine gewisse Romantik, die in der Naturnähe alles Heil, in der Großstadt allen Quell des Unheils sieht. Die Probleme haben sich heute teilweise (nur teilweise!) verändert, sie wurden aber trotzdem noch nicht gelöst. Mit einem Wort, es ist die Frage zu stellen, wieweit der sogenannte humane Funktionalismus seinen gestellten Aufgaben gerecht wird, wieweit er überhaupt und in welchen Bereichen er noch Gültigkeit hat.

Zweifellos ist es problematisch, von einer Lebensvorstellung aus eine fixierte Wohnvorstellung zu entwickeln und diese dann zu verallgemeinern. Die Moderne hatte die Tendenz (und sie hat es heute noch viel mehr), Begriffe und Schlagwörter auszudehnen, zu verabsolutieren. Wenn R.s Doktrin vom ebenerdigen Wohnen sicher auch in der letzten Konsequenz die Verallgemeinerung eines Prinzips darstellt, so würde man doch seinem Beitrag zum Wohnen nicht gerecht werden, wenn man diese Doktrin nur unter diesem einen Blickwinkel beurteilen und kritisieren würde.

Städtebau

R.s Städtebau ist von der Wohnvorstellung „Gartenstadt“ geprägt. Er steht hier in der allgemeinen Tradition der Moderne. Die heutige Gegenbewegung, die vor allem von der Jugend getragene Großstadtideologie, ist mit ihren Begriffen wie Ballung, Konzentration und in der Verallgemeinerung dieser Idee nicht weniger romantisch. Zweifellos sind Kommunikation, Information, Aktion, Spontaneität, Dynamik hauptsächlich Verhaltensweisen und Bedürfnisse junger Leute, während Ruhe, Ordnung, Kontaktselektion, Statik, Sicherheit, Beschaulichkeit, Zurückgezogenheit, Bequemlichkeit, Naturnähe, um einige Aspekte zu nennen, von älteren Bevölkerungsschichten oder solchen, die Kinder heranziehen und dem Leben bereits planend gegenüberstehen, bevorzugt werden. Sicher spielen hier andere Generationsmerkmale eine Rolle, etwa das Kriegserlebnis, das prägend für eine spätere Lebensform wird.

Rainers Städtebau hat aber noch andere, tiefer in die Geschichte zurückreichende Wurzeln. Sein fast fanatisches Studium anonymen Bauens, vor allem mediterraner, türkischer und mazedonischer Siedlungs- und Wohnformen, ist eine Suche nach konstanten, elementaren Wohnbedürfnissen, die fast allen Kulturen gemeinsam sind. Wahrscheinlich ist es das größte Verdienst R.s, wie etwa in der Gartenstadt Puchenau bei Linz eine dem gehobenen Anspruch der Zeit entsprechende Modulation dieser elementaren Wohnbedürfnisse realisiert zu haben. Als Grundbedürfnis sieht R. einen völlig geschützten, privaten Wohnbereich, bestehend aus einem geschlossenen, uneinsehbaren Gartenhof in unmittelbarer Verbindung mit den Wohnräumen. Neu, oder der Zeit entsprechend, ist die Organisation dieser Einheiten, ihre Aufschließung durch gedeckte Wohnwege, die Lokalisierung des Fahrverkehrs auf wenige Zonen, eine leicht zugängliche Energieversorgung und so fort.

R.s System wäre zu kritisieren, wenn es den Anspruch auf die einzige Alternative im heutigen Wohnbau stellt. Zweifellos hat das System seine Grenzen, vor allem dort, wo es um rein städtische Wohnprobleme geht. Tatsache ist aber, daß in der Fülle der heutigen Bebauungsprobleme viele Situationen sind, die nur durch eine solche oder ähnliche Bebauungsform zufriedenstellend gelöst werden können, vor allem dort, wo es im Prinzip um eine mit der Landschaft kontaktierende Wohnverbauung geht und wo natürliche Voraussetzungen für eine flache Bebauung gegeben sind. R. hat einmal bei einem Wettbewerbsentwurf (für Bratislava) versucht, an die Grenzen seines auf der Gartenstadtvorstellung beruhenden Prinzips zu gehen und einen Stadtorganismus mit noch überschaubaren Großeinheiten (Nachbarschaften), als trichterförmige Großräume, geschaffen. Es hat sich dabei gezeigt, daß ihm innerhalb dieser Einheiten (für etwa je 10.000 Menschen) eine kontinuierliche Steigerung bis zu einer städtischen Dichte gelang, daß aber dann die weitere Verbindung dieser Nachbarschaften zu einem größeren Ganzen Schwierigkeiten brachte, Man hat fast den Eindruck, daß das Interesse R.s mit dem Überschreiten der Schwelle zum großstädtischen Maßstab nachläßt, daß er seine tiefe Skepsis gegenüber zu großen Ballungen nicht überwinden kann oder will.

Architektur

Wenn man von wenigen bevorzugten Materialien, von der Verwendung einiger Maßstabsskalen und Details oder etwa vom beherrschenden Schwarz-Weiß absieht, hat R. kein besonders gezüchtetes, subjektives Architekturvokabular. Es ist zwar für den Fachmann jeder seiner Bauten als „Rainer“ sofort zu erkennen, trotzdem wäre es falsch, wenn man diese Charakteristika zu den bestimmenden zählen würde. R. bekennt sich für große Bereiche des Bauens zu einer eher anonymen, verhaltenen, unauffälligen, vor allem aber mitteilbaren (also lehrbaren) Architekturauffassung, wie sie etwa die bürgerliche Baukultur des Biedermeiers gepflegt hat. Architektur steht bei R. in einem engen Kontakt zur Öffentlichkeit und zur Darstellung allgemeiner, sozialer Inhalte. So ist es kein Zufall, daß er in seinen Stadthallen zu den signifikantesten Formen fand. Aber auch hier zeigt die Entwicklung seiner Hallenentwürfe, wie sehr es ihm darum ging, Funktion, Konstruktion und städtische Bedeutung in einen selbstverständlichen Zusammenhang zu bringen. Es liegt in der Natur der Sache, daß bei solchen Hallenbauten die konstruktiven Entscheidungen formprägend sind. Eine absolute Einheit gelang bei der Halle von Ludwigshafen. Es ist schade, daß R. weitere Entwicklungen (Kassel, Linz) nicht realisieren konnte.

Schule

R. gehört zu jenen Lehrern, die eine klar formulierte Lehrmeinung vermitteln. Seine Methode ist daher zur Bildung einer „Schule“ prädestiniert, das heißt, daß auch der schwächere Schüler ein fundiertes, praktikables Wissen mit auf den Weg bekommt, das ihn zu guten durchschnittlichen Leistungen befähigt, falls er nicht durch andere Umstände diese Basis aufgibt. Der begabte Schüler, der nicht kritiklos ein System übernehmen und anwenden möchte, hat es dagegen schwer, sich gegen die Lehrmeinung durchzusetzen. Daß dies jedoch möglich ist, zeigen immer wieder Projekte und Diplomarbeiten, auf die schließlich nicht zuletzt auch der Lehrer selbst stolz ist.

Zusammenfassend muß man sagen, daß die Arbeit R.s an der Entwicklung der österreichischen Nachkriegsarchitektur grundlegenden Anteil hat, daß sie die erste Formulierung einer klaren Zielvorstellung gebracht hat und daß es R. auch gelungen ist (vor allem in der Zeit als Wiener Stadtplaner), die Fragen der Planung und des Bauens zu einer öffentlichen Sache zu machen. R.s Städtebau und Architektur bedeuten entwicklungsgeschichtlich die Wiederaufnahme der Tradition der Moderne, die Verwirklichung ihrer Ziele und die Verfeinerung ihrer Mittel. R. bekennt sich ausdrücklich zu dieser Aufgabe. Damit gerät seine Arbeit automatisch in den Konflikt mit der nachkommenden Generation, die nach dem CIAM-Kongreß von Otterlo (1959) die Grundsätze dieser Moderne energisch in Frage stellt. Wenn man aber außerhalb dieser zeitbedingten Auseinandersetzung seine Leistung beurteilen will, so stehen zwei Fragen im Vordergrund. Die eine ist die nach der Bewältigung einer konkreten historischen Situation (sie zeigt sich in der österreichischen baulichen und architektonischen Entwicklung seit 1945) und die zweite nach den Ergebnissen, die außerhalb einer zeitlichen Entwicklung Bestand haben werden. R.s Beitrag zur österreichischen Entwicklung ist gesichert, was davon Bestand haben wird, eine unnütze, akademische Frage.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1970
, Seite 550
Autor/inn/en:

Friedrich Achleitner:

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