FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1980 » No. 323/324
Christian B. Richter

Revolution oder Völkermord?

Neuere Literatur über Afghanistan
Mujaheddin vor der niedergebrannten Kaserne in Ormol

Winfried F. Wiegandt: Afghanistan. Nicht aus heiterem Himmel, Orell Füssli Verlag, Zürich 1980, 307 Seiten, 29 Fotos, DM 19,80, öS 152,50

Für ein krisenbezogenes Schnellschuß-Buch ist diese Darstellung der neuesten Geschichte bis zum Mai 1980 bemerkenswert detailreich. Die Entwicklung der „Demokratischen Volkspartei“ und der verschiedensten, jetzt in militanter Opposition zu ihr stehenden Gruppen und Grüppchen wird übersichtlich dargestellt, wobei auch die Anfänge und Vorläufer einbezogen sind.

Es wird gezeigt, wie man versuchte, aus einem Militärputsch eine Revolution zu machen, wie die Reformpolitik scheiterte, wie polizeistaatlicher Terror und militärischer Widerstand eskalierten und wie sich die „Demokratische Volkspartei“ in internen Machtkämpfen zerfleischte.

Speziell über den Widerstand und seine wichtigsten Erscheinungsformen, Organisationen und Repräsentanten wird recht präzise berichtet. Der Autor stellt klar, daß der Kampf gegen Kabul keineswegs von orthodox-islamischen Motiven oder von Exilparteien dominiert wird. (Der erste Eindruck beim Durchblättern täuscht, weil durch die Bildauswahl unterschwellig der Moslemführer Gulbuddin Hekmatyar als positive Alternative präsentiert wird.)

Sri Prakash Sinha: Afghanistan im Aufruhr, Hecht Verlag, Freiburg 1980, 206 Seiten, 31 Fotos, 4 Karten, Dokumentation, DM 19,20, öS 148

Der Autor ist Inder und Spiegel-Korrespondent. Er konzentriert sich auf die Ereignisse in Kabul und berichtet sehr emotionell von einer Reihe sonst nicht publizierter signifikanter Einzelheiten. Einen Schwerpunkt bildet die Schilderung von Grausamkeiten auf beiden Seiten, die „alle Kriege der jüngeren Zeit übertreffen“.

Über den Widerstand ist er offensichtlich weniger gut informiert. Daß die lokalen Mujaheddin-Gruppen jeweils unter „religiösen Führern“ kämpfen, ist einfach falsch. Im übrigen zieht sich durch das ganze Buch die eher simple Sicht von einer historischen Konfrontation des Islam mit dem Marxismus.

Wertvoll ist der Anhang mit den neun Dekreten des Revolutionsrates von 1978 zu seinen Reformvorhaben, mit einer Zeittafel der afghanisch-sowjetischen Zusammenarbeit und mit den sonst kaum einsehbaren Verträgen zwischen der Sowjetunion und Afghanistan von 1921, 1931 und 1978.

Kurt Greussing/Jan-Heeren Grevemeyer (Red.): Revolution in Iran und Afghanistan. Herausgegeben vom Berliner Institut für vergleichende Sozialforschung, Syndikat Verlag, Frankfurt 1980, 295 Seiten, Dokumente, Fotos, Bibliographie, DM 28, öS 215,60

Diese Aufsatzsammlung nimmt sich des „Dilemmas“ an, daß die iranische Volksrevolution und die afghanische Aufstandsbewegung „nicht ins Rechts-Links-Schema der Vorstellungen von ökonomischem, sozialem und politischem Fortschritt passen wollen“. Die Autoren versuchen zu einer Annäherung an ein „Verständnis von innen“ beizutragen. Das Buch ist der einzige neuere deutschsprachige Ansatz in dieser Richtung. Allerdings werden eher ältere oder generelle Prozesse analysiert. Über die jüngsten Vorgänge wird wenig gesagt.

Im Widerspruch zur Zielsetzung steht die immer wieder durchbrechende verständnishemmende Fachsprache (Ausdrücke wie „staatliche Institutionen tributärer Surplusabschöpfung“).

Eine fundierte Übersicht über das Scheitern des Revolutionsversuches in Afghanistan, über den Widerstand, über die damit zusammenhängenden Sozialstrukturen und deren weiteren Entwicklungsmöglichkeiten gibt Jan-Heeren Grevemeyer. Sie wird punktuell ergänzt durch Darstellungen regionaler Organisationsformen und Rechtstraditionen.

Der umfassende Verhaltenskodex der Pashtunen, der Pashtunwali, ist „die Summe sämtlicher Werte und daraus entwickelter Normen, die die spezifisch pashtunische Lebensart bestimmen“ (Steul). Durch sein Studium erfährt man mehr über inner-afghanische Verhältnisse, als durch die üblichen „aktuellen“ Analysen.

Deutscher Freidenkerverband e.V. (Hrsg.): Afghanistan. Eine Dokumentation, Freistühler Verlag, Schwerte 1980, 116 Seiten, 35 Fotos, Dokumente, DM 10, öS 77

Der Band enthält Stellungnahmen aus dem ersten Halbjahr nach der sowjetischen Intervention, Texte von Babrak Karmal und marxistische Reflexionen über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Es können prosowjetische Argumentationen (DKP, Spartakus, SED, Prawda, etc.) und Kontrastimmen (Rudolf Bahro, DGB, ÖTV, SPD, etc.) nachgelesen werden.

Hermann L. Gremliza (konkret) fragt: „Konnte sich die Sowjetunion da nicht bedroht fühlen? Mußte das Herumfuhrwerken des amerikanischen Weltpolizisten direkt an der Südgrenze der UdSSR die Moskauer nicht zu präventiven Maßnahmen nötigen — auch zu Maßnahmen, die völkerrechtlich nur mit mühsamen Hilfskonstruktionen verteidigt werden konnten und die zudem in eklatantem Widerspruch zur eigenen Ideologie stehen?“ Dabei ist auch ihm klar, daß „durch den sowjetischen Einmarsch tatsächlich Werte und Normen verletzt sind, die der Linken teuer sein müssen“.

Christian Sigrist stellt fest, daß eine rückhaltlose Unterstützung, wie sie für andere Befreiungsbewegungen propagiert wird, für den afghanischen Widerstand sicher nicht möglich sein kann. Er lehnt es ab, sich „für die imperialistische Strategie der USA und für eine restaurative Politik der Großgrundbesitzer instrumentalisieren zu lassen“.

Aus anscheinend humanitären Gründen meint er dann doch: „Den Kampf des afghanischen Volkes um seine nationale Autonomie können wir aber genau dort unterstützen, wo ein mögliches Genozidprogramm anzusetzen droht: Wir müssen die afghanischen Flüchtlinge vor allem in Pakistan materiell unterstützen.“

Reiner Steinweg (Red.): Der gerechte Krieg: Christentum, Islam, Marxismus, edition suhrkamp, Neue Folge Band 17, Frankfurt 1980, 278 Seiten, DM 10, öS 77

Diese kritische Bestandsaufnahme von Rechtfertigungstheorien für das Führen von Kriegen gibt in einprägsamer Form Grundlagen einer historisch-ideologischen Analyse und erinnert an frühe Versuche, Lehren vom sogenannten gerechten Krieg zu überwinden, Abrüstung zu erreichen und alternative Konfliktstrategien durchzusetzen. Der Leser kann die christlichen, islamischen und marxistischen Verschleierungstechniken miteinander vergleichen.

Die „abendländischen“ Entwicklungen werden nachgezeichnet, seit das urchristliche Gewaltverbot von der jungen Staatskirche aufgegeben wurde. Bei Mohammed fehlt nach authentischer Auslegung überraschenderweise der Anspruch auf Missionierung, auf Eroberungen. Für die bereits zu seinen Lebzeiten angelaufene Expansion über die arabische Halbinsel hinaus und für eine Einigung der sich bekämpfenden Stämme wurde der (nur gegen Mekka konzipierte) „Heilige Krieg“ als umfassende tragende Idee verwertet.

Daß trotzdem gerade im islamischen Kulturbereich vielfältige Gruppen von „Andersgläubigen“ jahrhundertelang überleben konnten, ist eine Realität. Sie sollte in die Beurteilung des wiederbelebten Djihad-Denkens einbezogen werden, ebenso wie seine antikolonialistischen Motivationen.

Moderner Jagdzauber:
Sowjetischer Bomber an der Wand der Moschee von Pitigal

Wie die Ereignisse in Afghanistan mit linientreuen Augen gesehen werden, darüber informieren folgende Publikationen:

Autorenkollektiv (Leitung: Hans-Joachim Radde/Egon Dummer): Revolutionäres Afghanistan. Herausgegeben von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED, Dietz Verlag, Berlin 1980, 80 Seiten, 7 Fotos, Dokumente, DM 0,80, öS 6,15

Hubert Kuschnik: Augenzeuge in Afghanistan. Herausgegeben von der Redaktion „unsere zeit“, Zeitung der DKP, Verlag Plambeck & Co., Neuss 1980, 135 Seiten, 22 Fotos, Dokumente, öS 68

Zu den Ereignissen in Afghanistan. Die Antworten L. I. Breshnews auf Fragen eines „Prawda“-Korrespondenten und die Erklärungen von TASS, Verlag der Presseagentur Nowosti, Moskau 1980, 24 Seiten, öS 3

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1980
, Seite 40
Autor/inn/en:

Christian B. Richter:

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Geographie