FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 131
Eduard März

Planung ohne Planwirtschaft (II)

Was den privatwirtschaftlichen Sektor der Volkswirtschaft anlangt, ist der Plan nur als eine Vorschau auf die kommende wirtschaftliche Entwicklung gedacht, wobei ihm bestimmte Annahmen hinsichtlich des vom Staate einzuschlagenden wirtschaftspolitischen Weges unterstellt sind. Der Plan hat also vorwiegend prognostischen Charakter, wiewohl ihm in einem gewissen Sinne eine Tendenz zur selbsttätigen Realisierung innewohnt. In dem Maße nämlich, als die Exponenten der Privat- und Gemeinwirtschaft die Erwartungen der Prognostiker ihrem Entscheidungskalkül zugrunde legen, tendieren sie dazu, die Prognosen zu verwirklichen.

Man mag einwenden, daß die Prognosetechnik noch recht mangelhaft entwickelt ist und daß folglich der Plan ein vom Standpunkt der Einzelwirtschaft recht unverläßlicher, wenn nicht gar unbrauchbarer Orientierungsbehelf ist. Wir glauben, daß ein solches Pauschalurteil heute kaum noch am Platz ist und daß zwischen der kurz- und längerfristigen Prognosetechnik unterschieden werden müßte. Die Methoden bei der Erstellung des Nationalbudgets, die heute in Schweden und Norwegen gehandhabt werden, haben bereits ausgezeichnete Ergebnisse gebracht. An ihrer Weiterentwicklung und Vervollkommnung wird an den führenden Universitäten des Westens unablässig gearbeitet. [8]

Mit der Zeit wird man zweifellos auch lernen, bessere Methoden der mittel- und langfristigen Prognostik zu entwickeln. Die Skepsis, die in dieser Hinsicht von manchen Gegnern der Planung an den Tag gelegt wird, hat — wie Prof. Morgenstern einmal bemerkt hat — etwas „Defaitistisches“ an sich. Morgenstern fügte damals hinzu: „Es ist eigenartig, daß in einem Zeitalter, in dem die Theorie des Lernens eine der wichtigen intellektuellen Erscheinungsformen darstellt, in einem Zeitalter, in dem man sogar Maschinen baut, die lernen können, gerade bei jener Aktivität, die einen besonders hohen Grad intellektueller Tätigkeit darstellt und verlangt, das Lernen für unmöglich erklärt wird. Es ist sicherlich ein politisches Manöver, wenn man, wie das in der Literatur so häufig der Fall ist, die Erfolge des Planens lediglich an den Mißerfolgen mißt. Natürlich überwiegen diese im geschichtlichen Material, das zur Verfügung steht. Aber es wäre absurd, dies als das letzte Wort zu betrachten, das über das Planen gesprochen werden kann.“ [9]

Die entwickeltste Form der Programmierung ist heute das französische System, das nicht nur bestimmte Entwicklungsziele festlegt, sondern auch gewisse Anreize und Abschreckungsmittel vorsieht, die das Wirtschaftssubjekt zu einem plankonformen Verhalten veranlassen sollen.

Man kann kaum ableugnen, daß von der französischen Programmierung ein Druck zum Zweck der Durchsetzung der wichtigsten Planziele ausgeht. Wer der Ansicht ist, daß das entscheidende Kriterium der Wirtschaftsfreiheit darin zu suchen ist, daß der Unternehmer seine Investitionsentscheidungen nach eigenem Gutdünken treffen kann, ohne auf Weisungen oder Mahnungen von „oben“ achten zu müssen, wird die „Planification Indicative“ als eine liberale Spielart des östlichen Planungssystems betrachten.

Jedoch darf nicht übersehen werden, daß den französischen Unternehmern im Rahmen der sogenannten Modernisierungskommissionen Gelegenheit gegeben ist, die Zielsetzungen des Planes und die den Zielsetzungen zugrunde liegenden Investitionsentscheidungen weitgehend zu beeinflussen. [10] Dem Unternehmer, der sich von den zwischen Unternehmerkollektiv und Staat vereinbarten Beschlüssen distanzieren möchte, bleibt dies unverwehrt, soferne er in der Lage ist, auf billige Kredite und Steuererleichterungen zu verzichten.

Die Unternehmer spielen mit

In der Praxis steht jedes repräsentative französische Unternehmen dem Plan durchaus positiv gegenüber, da sich dieser auf die Wachstumschancen der Gesamtwirtschaft und damit auch auf die Wachstumschancen der führenden Konzerne ungemein günstig ausgewirkt hat. Es mag richtig sein, daß die Modernisierungskommissionen den der kapitalistischen Wirtschaft inhärenten Hang zur Vertrustung und Kartellierung noch weiter gefördert haben. Aber anderseits ist es unmöglich, sich der Erkenntnis Pierre Massés zu verschließen, daß die Programmierung eine dynamisierende Wirkung auf die in der Vorkriegszeit stagnierende französische Monopolwirtschaft ausgeübt hat. [11]

Die Modernisierungskommissionen sind nur eine der beiden Säulen der französischen Programmierung; die zweite ist die Gemeinwirtschaft und die öffentliche Budgetpolitik. Insbesondere der nationalisierte Sektor, der die strategischen Bereiche des Energie-, Verkehrs- und Bankenwesens umfaßt, schafft für die Formulierung und schließliche Durchsetzung des Planes ungemein günstige institutionelle, organisatorische und nicht zuletzt auch psychologische Voraussetzungen. Es ist klar, daß zwischen der öffentlichen und privaten Wirtschaft tiefreichende Wechselwirkungen bestehen, die durch bewußte Zusammenarbeit der Exponenten beider Bereiche optimal gestaltet werden können.

Es erscheint uns müßig, darüber zu rechten, ob die „Planification Indicative“ als eine Grenzform der Marktwirtschaft oder als eine liberale Variante der Zentralverwaltungswirtschaft anzusehen ist. Wichtiger dürfte in diesem Zusammenhang die Feststellung sein, daß sie jene Form der Anpassung der Marktwirtschaft an die Erfordernisse gesamtwirtschaftlicher Lenkung darstellt, die eine weitgehende Konservierung der traditionellen Eigentumsordnung ermöglicht.

Wir wollen das Thema „Planification Indicative“ nicht abschließen, ohne auch die Schattenseiten der französischen Planung berührt zu haben. Obwohl der vierte französische Plan vom Parlament ratifiziert wurde, hat dieser dennoch keinen „imperativen Charakter“, wie sich M. Pompidou einmal ausgedrückt hat. [12] Die weitgehenden Korrekturen am Plan, die von der Regierung im Interesse der Stabilisierung im Vorjahr vorgenommen werden mußten, sind ein deutlicher Beweis für die Richtigkeit dieser Feststellung. Man mag auch fragen, warum es überhaupt notwendig war, so drastische Maßnahmen zur Eindämmung inflationärer Tendenzen zu ergreifen. Jeder Plan, der dieses Namens würdig ist, sollte doch auf eine mehr oder minder rigorose Konfrontation der verfügbaren Ressourcen und der Nachfrage nach diesen Ressourcen hinauslaufen.

Wir kommen damit zur Achillesferse der französischen Planung, zum oft zitierten Fehlen einer rationalen Einkommenspolitik. Es ist hier nicht der Ort, des näheren auf die Gründe einzugehen, warum die Architekten der „Planification Indicative“ es verabsäumt haben, ihren imposanten Bau mit einem Dach zu versehen, das imstande gewesen wäre, einen gewissen Schutz gegen inflationäre Wetterunbilden zu bieten. Ihr Versagen ist letztlich wohl in der eigenartigen politischen Konstellation der Fünften Französischen Republik zu suchen. Man kann dennoch nicht umhin, zu fragen, ob es nicht möglich gewesen wäre, die etwas locker konzipierte Einkommenspolitik Schwedens oder Norwegens auch in Frankreich einzuführen.

Schließlich ist die „Planification Indicative“ wachsenden Unsicherheitsmomenten ausgesetzt, die sich aus der zunehmenden Verflechtung der französischen Wirtschaft mit den fünf Partnerländern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ergeben. Wie M. Marjolin es einmal ausgedrückt hat: „Planung, einschließlich der Programmierung, setzt eine Wirtschaft voraus, deren Beziehungen zur übrigen Welt begrenzt sind oder die eingeschränkt werden können, sollte sich dafür die Notwendigkeit ergeben.“ [13] Da man nicht gut annehmen kann, daß die französische Regierung den Integrationsprozeß innerhalb der EWG an irgendeinem Punkt abbremsen möchte, erhebt sich die Frage nach der Möglichkeit und Opportunität der Durchsetzung der Planification auf der Ebene des Gemeinsamen Marktes. Aber dieses Thema liegt außerhalb des Rahmens unserer Betrachtung.

III.

Wir haben bereits oben gesagt, daß Österreich gegenwärtig noch die naive Form der Programmierung praktiziert und wir wollen nun hinzufügen, daß kraftvolle Bestrebungen im Gange sind, die primitive Variante durch die experimentelle zu ersetzen. Diese Bestrebungen gehen hauptsächlich von jener sonderbaren und typisch österreichischen Institution aus, die trotz dem Fehlen solider Rechtsgrundlagen und klar definierter Verfahrensregeln einen so profunden Einfluß auf unser Wirtschaftsleben ausgeübt hat. Wir meinen die Paritätische Preis-Lohn-Kommission, die im Frühjahr 1957 ins Leben gerufen wurde. Sie wird heute allgemein als ein spezifisch österreichischer Beitrag zur anti-inflationären Therapie gewertet.

Die Paritätische Kommission hat sich in den ersten Jahren ihres Bestandes im großen und ganzen darauf beschränkt, Unternehmer und Arbeitnehmer zu einem der Preisstabilität zuträglichen Verhalten durch Mahnungen, Weisungen und manchmal auch Drohungen zu bewegen. Die „Technik“ der Kommission bestand hauptsächlich darin, die Forderungen nach Preis- und Lohnerhöhungen zu „prüfen“, Verhandlungen hinsichtlich der Legitimität der erhobenen Ansprüche zu führen und im Regelfall einen Teil der ursprünglich angemeldeten Preis- und Lohnmargen zu bewilligen. Auf diese Weise wurde die Gefahr einer Preisexplosion vermieden und der inflationäre Prozeß in viele Etappen oder Teilstrecken aufgelöst.

Generell statt punktuell

In einer Wirtschaftsordnung, deren Ultima ratio das Profitstreben ist, kann jedoch keinem der wirtschaftenden Subjekte auf die Dauer eine Politik des freiwilligen Verzichts zugemutet werden. Die punktuelle Wirkungsweise der Kommission war folglich einem raschen Verschleiß unterworfen, und dies um so mehr, als sie sich — infolge ihrer heterogenen sozialen Zusammensetzung — niemals dazu aufraffen konnte, von ihren dürftigen Sanktionsmöglichkeiten Gebrauch zu machen. Auf diese Weise brach sich die Erkenntnis allmählich Bahn, daß man von der punktuellen zur gesamtwirtschaftlichen Wirkungsweise übergehen müsse, daß isolierte Eingriffe auf dem Preis-Lohn-Sektor unwirksam bleiben müssen, wenn sie nicht in den Rahmen einer integrierten Konjunkturpolitik eingefügt werden. [14]

Die Abschwächung der Konjunktur in den Jahren 1962 und 1963, die paradoxerweise von einer zunehmenden Erwärmung des Preisklimas begleitet war, gab der Programmierungsdebatte eine neue Dimension. Es wurde nun sogar dem wirtschaftstheoretisch ungeschulten Beobachter klar, daß Konjunkturpolitik und Wachstumspolitik eine Einheit bilden müßten, um die Gefahr der „englischen Krankheit“ von Österreich fernzuhalten — einer Krankheit, bei der niedrige Wachstumsraten mit starkem Preisauftrieb Hand in Hand gehen.

Im Frühjahr 1963, im Anschluß an einen Studienaufenthalt in Paris, an dem Vertreter sämtlicher großer Interessengruppen teilgenommen hatten, wurde von der Arbeitnehmerseite die Forderung nach einem Programmierungsbüro französischen Musters erhoben. Nach längerer Debatte, die zum Teil auch in Fachzeitschriften und Tageszeitungen geführt wurde, einigte man sich schließlich auf einen „Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen“ in Form eines Unterausschusses der Paritätischen Kommission.

Der Beirat setzt sich aus je drei Vertretern des Österreichischen Arbeiterkammertages, des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft und der Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern zusammen. Die Gutachten und wirtschaftspolitischen Vorschläge des Beirats werden zunächst der Paritätischen Kommission unterbreitet und, falls von dieser gutgeheißen, schließlich der Bundesregierung zugeleitet, welcher das entscheidende Votum zukommt. Da sich in letzter Zeit die Stimmen mehren, die im Beirat eine Reinkarnation ständischer Gesinnung sehen, sei auf den rein beratenden Charakter dieser Institution verwiesen.

Der Tätigkeitsbereich des Beirats wurde vom Hauptausschuß der Paritätischen Kommission sehr weit gezogen. Dies erhellt aus dem Wortlaut des Kommuniqués, das anläßlich seiner Gründung im Oktober 1963 veröffentlicht wurde.

Der Beirat soll Vorschläge für eine bessere Koordinierung wirtschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen ausarbeiten und grundsätzliche Fragen auf diesen Gebieten behandeln. Er soll Untersuchungen anstellen, deren Ziel es ist, wirtschafts- und sozialpolitische Fragen unter gesamtwirtschaftlichem Aspekt zu behandeln. Er soll Empfehlungen ausarbeiten, die zur Stabilisierung der Kaufkraft, zu stetigem Wirtschaftswachstum und zur Vollbeschäftigung beitragen. Der Beirat soll seinen Vorschlägen objektive, sachliche Unterlagen zugrunde legen und erkennbare Entwicklungstendenzen der österreichischen Wirtschaft berücksichtigen. Er soll sich dabei auch der Unterstützung des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, der Österreichischen Nationalbank und des Statistischen Zentralamts versichern und fallweise auch Experten aus Wissenschaft und Praxis zur Erstellung von Gutachten beiziehen. [15]

Seit der Gründung des Beirats ist fast ein Jahr vergangen. In dieser Zeit ist eine erstaunlich große Zahl von Aufgaben in Angriff genommen worden. Der Beirat hat von der ihm erteilten Ermächtigung, Experten aus allen Sphären des öffentlichen Lebens zu konsultieren, in reichem Maße Gebrauch gemacht. Im gegenwärtigen Zeitpunkt ist eine Reihe von Arbeitskreisen am Werk, die sich u.a. mit den Problemen des Kapitalmarktes, der Budgetpolitik, des Baugewerbes, der Integration und des Arbeitsmarktes beschäftigen. Mehr als 150 Fachleute haben ihr Wissen und ihre Arbeitskraft den verschiedenen Ausschüssen in völlig uneigennütziger Weise zur Verfügung gestellt.

Der Beirat hat in der kurzen Zeit, die ihm zur Verfügung stand, in Gemeinschaft mit den vielen von ihm herangezogenen Experten, einige beachtenswertekleinere Arbeiten grundsätzlichen Charakters veröffentlicht. Er hat das vielbesprochene und bisher nur zum Teil realisierte Stabilisierungsabkommen entworfen, desgleichen eine Reihe von Vorschlägen zur Belebung des österreichischen Kapitalmarktes und eine Studie zur Thematik der langfristigen Budgetpolitik. [16] Obwohl diese Arbeiten keinen tiefschürfenden theoretischen Charakter haben, sind sie zweifellos ein Ausdruck des hohen Niveaus der österreichischen Nationalökonomie, die nun den Anschluß an das westliche Ausland wiedergewonnen hat.

Den Arbeiten des Beirats sind jedoch einige tiefer liegende Defekte zu eigen. Der erste hängt mit der Konstruktion dieser Institution zusammen, die derzeit kein über alle Interessenstandpunkte erhabenes Kollegium sein kann. Im Rahmen der zumeist überaus korrekt und sachlich geführten Diskussionen bleiben weite Bereiche offen, in denen divergierende Vorstellungen über die wünschenswerte gesellschaftliche Ordnung wirksam werden; es ergeben sich hiebei Differenzen, die durch wirtschaftswissenschaftliche Argumente allein nicht überbrückt werden können. Es muß daher deutlich ausgesprochen werden, daß es sich auch bei den wirtschaftspolitischen Empfehlungen des Beirats in der Regel um Kompromisse zwischen den verschiedenen Interessenstandpunkten handelt, die jedoch keiner der beiden im Beirat vertretenen Seiten — wenigstens bis zu diesem Zeitpunkt — unzumutbare Opfer auferlegt haben.

Man könnte nun meinen, wie dies auch bereits geschehen ist, daß diesem Übelstand dadurch abgeholfen werden kann, daß man an die Stelle der Interessenvertreter akademische Nationalökonomen setzt, die nicht mehr faule Kompromisse, sondern objektive, d.h. den Notwendigkeiten der Wirtschaft adäquate Lösungen anstreben. [17] Wir glauben, daß einem solchen Standpunkt die naive Auffassung zugrunde liegt, Ökonomie und Politik gehörten zwei prinzipiell verschiedenen Sphären an. In Wahrheit ist es wohl kaum möglich, eine wirtschaftspolitische Entscheidung zu treffen, ohne dabei Gruppeninteressen im positiven oder negativen Sinne zu berühren. Wer z.B. die volkswirtschaftliche Investitionsrate erhöhen möchte, muß sich im klaren sein, daß er damit vor allem den unteren Einkommensschichten Verzichte zumutet, die diesen — trotz der Aussicht auf einen stärkeren Einkommenszuwachs in den kommenden Jahren — nicht unbedingt akzeptabel erscheinen müssen.

Interessen und Statistik

Die Konstruktion des Beirats, der Fachleute und Praktiker aus allen Lagern umfaßt, erscheint uns deshalb als eher geglückt; sie bietet die geeigneten personellen Voraussetzungen für eine verhältnismäßig leichte Einigung nicht nur über die Höhe der volkswirtschaftlichen Lasten, sondern auch über einen zweckmäßigen, d.h. politisch verantwortbaren Modus ihrer Aufteilung.

Man ist folglich versucht zu sagen, daß der erste der von uns genannten Defekte weniger in der Natur des Beirats als in unserer auf gegensätzlichen wirtschaftlichen Interessen begründeten gesellschaftlichen Ordnung zu suchen ist.

Der zweite Defekt, der den Arbeiten des Beirats anhaftet, scheint uns ernsterer Natur; wir meinen den Mangel an verläßlichen statistischen Daten, der in Österreich ein solches Ausmaß hat, daß er selbst die bei uns praktizierte naive Form der Programmierung außerordentlich erschwert und den Übergang zu einer höheren Form derzeit so gut wie unmöglich macht. Wir wissen z.B. nur über die industrielle Erzeugung laufend Bescheid, die analogen Daten für das Gewerbe sind uns dagegen bisher völlig unbekannt. Auch unsere Informationen über die Investitionstätigkeit beruhen auf nicht sehr zuverlässigen Unterlagen. Schließlich, um noch einen nicht unwesentlichen Mangel zu nennen, wird das Einkommen der selbständig Erwerbstätigen — mangels einer auch nur annähernd aktuellen Steuerstatistik — als Restgröße aus der Volkseinkommensrechnung ermittelt.

Man könnte die Liste der statistischen Lücken noch lange fortführen, doch die bisherigen Beispiele mögen genügen. Man darf jedoch immerhin feststellen, daß heute bei den zuständigen Stellen weitgehendes Verständnis für die Notwendigkeit und Dringlichkeit des Ausbaus des wirtschaftsstatistischen Arsenals anzutreffen ist. Im Statistischen Zentralamt wie in den Ministerien ist man sich bewußt, daß Österreich auch in dieser Hinsicht den Anschluß an die führenden Industriestaaten finden muß. Ohne entsprechendes statistisches Rüstzeug ist eine rationelle und zielführende Wirtschaftspolitk einfach undenkbar.

Von der Einsicht in diese Notwendigkeit bis zur Behebung der Mängel ist allerdings ein weiter Weg. Auch hier rächen sich die Sünden der Vergangenheit. Wenn das Statistische Zentralamt oder sogar die wichtigsten Ministerien bestenfalls über eine Handvoll geschulter Nationalökonomen und Statistiker verfügen, so ist diesem Notstand nicht im Handumdrehen beizukommen. Die erforderliche vielseitige Ausbildung benötigt lange Zeit; überdies öffnen sich dem Statistiker und Nationalökonomen heute verlockende Betätigungsgebiete in der Privatwirtschaft und erst recht im Ausland. Der gute Wille ist eine erste, aber noch keine genügende Voraussetzung für die längst fällige Wendung zum Besseren. Das soll aber nicht heißen, daß wir den guten Willen nicht mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen wollen.

Schließlich sei noch ein weiterer Übelstand vermerkt, der einer kritischen Durchleuchtung des wirtschaftlichen Geschehens im Wege steht; wir meinen jene geradezu mimosenhafte Publizitätsscheu, die das österreichische Unternehmertum im Gegensatz zu den oft sehr publizitätsfreudigen Geschäftskreisen des westlichen Auslands kennzeichnet. Wohl sind die Aktiengesellschaften von Gesetzes wegen zu einer gewissen öffentlichen Rechnungslegung verpflichtet; sie gehen aber nur selten über diese eher bescheidenen Pflichten hinaus. Dazu kommt, und das ist vielleicht noch gravierender, daß jene weit zahlreicheren Unternehmen, die in anderer Form konstituiert sind und einen außerordentlich großen Sektor der Wirtschaft unseres Landes umfassen, bestenfalls nur die dürftigsten Angaben über ihre kommerzielle Tätigkeit zu vermitteln gewohnt sind. Es ist eine dringende Forderung der Wirtschaftsdiagnostik und der Wirtschaftspolitik, daß die auf diesem Gebiet bestehenden Lücken unserer Gesetzgebung schon in nächster Zeit geschlossen werden.

Es wird sich überdies wohl als notwendig erweisen, gewisse Agenden, die der Beirat zunächst auf sich genommen hat, jenen Stellen zu übertragen, zu deren Funktionsbereich sie eigentlich gehören. Komplizierte und zeitraubende Arbeiten wie die Input-Output-Analyse werden in anderen Ländern, etwa Schweden, Norwegen, Holland, von personell und materiell hervorragend ausgestatteten behördlichen Stellen mit Erfolg durchgeführt. Es wäre naheliegend, die Tätigkeit des österreichischen Statistischen Zentralamtes auszuweiten und für diese neu hinzukommenden schwierigen Aufgaben dessen Mitarbeiterstab entsprechend zu ergänzen.

Weiters schiene es zweckmäßig, im Finanzministerium eine neu zu schaffende Abteilung mit der kurzfristigen Konjunkturprognostik zu betrauen, um dadurch jene wirtschaftstrategischen Entscheidungen, die bei der Erstellung des Bundeshaushalts getroffen werden, in eine organische Beziehung zum Nationalbudget zu bringen. Die Überlegungen, die den entsprechenden Entscheidungen zugrunde liegen, dürften keinesfalls Angelegenheit eines engen Fachgremiums bleiben. Sie wären vielmehr der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und zwar bereits zum Zeitpunkt der Budgetlegung. Jedem interessierten Staatsbürger soll bekannt sein, von welchen Gesichtspunkten sich die Regierung in ihrer Wirtschaftspolitik leiten läßt. Die qualifizierte und allseitige Diskussion in der Öffentlichkeit kann der Hebung des Verantwortungsgefühls des Staatsbürgers ebenso wie den Zielen einer rationalen Budget-, Konjunktur- und Strukturpolitik nur förderlich sein.

Fort vom Fortwursteln

Wir können es uns nicht leisten, die Lebensfragen unserer Wirtschaft im Wege des liebgewordenen Fortwurstelns entscheiden zu lassen. Mächtigere Staaten als der unsere sind längst zur Überzeugung gelangt, daß sie ihre wirtschaftliche Entwicklung nicht länger dem sogenannten freien Spiel der Marktkräfte, modifiziert durch eine improvisierende und dilettierende Wirtschaftspolitik, überlassen können. Dort bedient man sich in immer höherem Maße jener modernen Methoden der Lenkung und Koordinierung, die eben nur mit Hilfe eines Stabs qualifiziertester Fachkräfte anzuwenden sind. Das bedeutet keineswegs, daß die Wirtschaftspolitik den Fachleuten allein anzuvertrauen wäre. Wir können ihrer jedoch nicht entraten; wir benötigen ihre dauernde Mitarbeit sowohl zur kurzfristigen Budget- und Konjunkturpolitik wie auch zur mittel- und langfristigen Wachstums- und Strukturorientierung.

Schließlich muß auch offen gesagt werden, daß die bisherigen Erfahrungen mit dem Wirtschafts- und Sozialbeirat keineswegs in erster Linie deshalb unbefriedigend waren, weil seine Arbeit Mängel aufzuweisen hatte. Gewiß war auch das der Fall — und wir haben anzudeuten versucht, wie diesen Unzulänglichkeiten abzuhelfen wäre. Noch mehr zu bemängeln ist aber vielleicht, daß die bisherigen Studien und Empfehlungen des Beirats keineswegs mit dem erforderlichen Ernst behandelt wurden. So zeigte etwa die Reaktion auf das erste Stabilisierungsprogramm, daß die Empfehlungen des Beirats mehr als eine Fleißaufgabe geschäftiger Außenseiter und nicht als tagespolitisch relevantes Arbeitsprogramm aufgefaßt werden. Es soll daher an dieser Stelle sehr nachdrücklich dafür plädiert werden, daß die Paritätische Kommission die Vorstellungen und Vorschläge ihres Unterausschusses, des Wirtschafts- und Sozialbeirats, nicht nur zur Kenntnis nimmt, sondern auch mit Nachdruck auf deren Realisierung durch die Bundesregierung dringt.

[8Bezüglich Berechnungsmethoden des Nationalbudgets vergl. Petter Jakob Bjerre, Planning in Norway 1947-1956, Contributions to Economic Analysis, Vol. XVI, Amsterdam 1959.

[9Siehe „Planung ohne Planwirtschaft“, Seite 35 f.

[10Der Einfluß der großen Firmen auf die Investitionsentscheidungen scheint allerdings dominierend zu sein. So heißt es in der oben zitierten PEP-Studie: „The commission chairman told me that it was really the big firms themselves who have decided by negotiation which one was to undertake which investment — and when they were to take joint shares in some new company ...“ (Seite 345).

[11Dynamisierung der Monopole bedeutet, nach Massé, Herstellung einer Atmosphäre der Expansion. Vgl. PEP-Studie, Seite 346.

[12Vgl. Pierre Mendes-France: A Modern French Republic, London 1963.

[13Siehe: Bulletin of the E.E.C., Juli 1962, Seite 12.

[14Der Autor hat bereits 1961, anläßlich einer Untersuchung des chronischen Preisauftriebs in Österreich, aus der Funktionsweise der Paritätischen Kommission den Schluß gezogen: „Woran es bisher gemangelt hat, ist eine Koordinationsstelle der österreichischen Konjunkturpolitik, der eine zweifache Aufgabe zu stellen wäre: die laufende Konjunkturbeobachtung und die Ausarbeitung von Vorschlägen an ein Ministerkomitee, das die Verantwortung für die Formulierung einer integrierten Konjunkturpolitik zu übernehmen hätte.“ (Wiener Studien zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, Heft 4, Wien 1961, Seite 95.)

[15Vgl. Wilhelm Hrdlitschka: „Versachlichung der Wirtschaftspolitik.“ Arbeit und Wirtschaft, Januar 1964, Seite 22.

[16Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen: „Untersuchung über die Preis- und Einkommensentwicklung“, „Vorschläge zur Neugestaltung der Budgetpolitik“, „Vorschläge zur Kapitalmarktpolitik“, 1. Teil, „Stabilisierungsprogramm“ (alle Wien 1964).

[17Vgl. Gertrud Neuhauser: „Kann der Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen zur Realisierung einer besser koordinierten Wirtschaftspolitik beitragen?“ in: „Wirtschaftspolitische Blätter“, Nr. 6/1964.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1964
, Seite 539
Autor/inn/en:

Eduard März:

Leiter der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Arbeiterkammer Wien, Professor für Nationalökonomie an der Wirtschaftshochschule Linz, einer der wenigen Theoretiker der österreichischen Sozialdemokratie, Vertreter eines undogmatisch und antidogmatisch offenen Austromarxismus.

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