FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1967 » No. 157
Hans Kelsen

Nochmals: Recht und Logik

Zur Frage der Anwendbarkeit logischer Prinzipien auf Rechtsnormen

In der Oktober- und November-Nummer des FORVM 1965 habe ich unter dem Titel „Recht und Logik“ die Frage erörtert, ob der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch und die Regel der Schlußfolgerung auf Rechtsnormen anwendbar sind, und die Frage verneint. In Ergänzung dieser Abhandlung möchte ich auf einen mir damals leider noch nicht bekannten Aufsatz hinweisen, der von Karel Engliš unter dem Titel: „Die Norm ist kein Urteil“ in dem Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. 1964, L 3, S. 305-316, erschienen ist.

Engliš stellt S. 306 fest, „daß die Normen nicht wie die Urteile negiert (verneint) werden können. Negiert wird die im Urteil enthaltene Erkenntnis über die Beziehung zwischen der Urteilsgrundlage (was in der vorangehenden Frage enthalten ist) und dem logischen Prädikat (was in der darauffolgenden Antwort enthalten ist). Die Negation setzt das Urteil außer Kraft (Es ist nicht wahr, es ist nicht richtig, daß ...). Das im negierten Urteil der Urteilsgrundlage zugesprochene logische Prädikat wird ihr durch die Verneinung des Urteils wieder abgesprochen.“

Das trifft nicht zu, wenn, wie Engliš S. 307 richtig feststellt, „durch Verneinung des Urteils zwei einander widersprechende Urteile entstehen, deren eines wahr (richtig) und das andere unwahr (unrichtig) sein muß ... Ein drittes gibt es nicht. Das ist der logische Widerspruch und der Satz des ausgeschlossenen Dritten.“

Dann wird das Urteil: „Gott existiert“ durch das Urteil: „Gott existiert nicht“ negiert, und nicht durch das Urteil: „Es ist nicht wahr, daß Gott existiert.“ Dies ist ein Urteil über die Wahrheit eines Urteils. Nur im ersten Fall liegt ein logischer Widerspruch vor, nicht im zweiten Fall. Zwischen dem Urteil: „Gott existiert“ und dem Urteil: „Es ist nicht wahr, daß Gott existiert“ besteht kein logischer Widerspruch. Das Urteil: „Gott existiert nicht“ kann das — negierte — Urteil: „Gott existiert“, nicht außer Kraft setzen. Täte es dies, läge kein Widerspruch zwischen zwei Urteilen, sondern nur ein Urteil vor.

Engliš sagt weiter: „Die Norm erkennt nicht eine vorhandene Beziehung, sondern sie begründet eine solche durch die Pflicht (den fremden Willen). Sie kann also nicht durch eine Verneinung außer Kraft gesetzt werden. Die Norm ist nicht (wie das Urteil) richtig oder wahr, weil nur das Urteil die zu erkennende Beziehung richtig oder wahr erkennt ... Die Norm ... kann sich in Augen des normsetzenden (Willens-) Subjektes bewähren oder nicht bewähren. Sein in der Norm verkörpertes Postulat wird erreicht oder nicht erreicht.“

Das heißt: die Norm kann befolgt oder nicht befolgt werden. Das ist aber nicht das Entscheidende. Worauf es ankommt, ist, daß die Norm gilt oder nicht gilt, wobei Geltung der Norm ihre Existenz und nicht, wie die Wahrheit einer Aussage, ihre Eigenschaft ist. „Das normsetzende Subjekt“, sagt Engliš, „kann seine Norm durch einen anderen Willensakt außer Kraft setzen, widerrufen, aufheben, verändern, und zwar entweder selbst oder durch denjenigen, den es dazu ermächtigt hat. Das Urteil kann von jedem erkennenden Subjekt negiert werden.“

Auch das trifft nicht ganz zu. Die Geltung einer Norm kann nur durch eine spezifische Norm, eine derogierende Norm, das ist eine Norm, deren Funktion die ganze oder teilweise Aufhebung der Geltung einer anderen Norm, nicht die Vorschreibung eines bestimmten Verhaltens ist, aufgehoben werden. Dann liegt nur mehr eine Norm vor.

Dieser Fall muß unterschieden werden von dem Fall, in dem zu der Geltung einer ein bestimmtes Verhalten vorschreibenden Norm die Geltung einer das gegenteilige Verhalten vorschreibenden Norm hinzutritt; wie etwa: „Wer Mord begeht, soll mit Tod bestraft werden“, „Niemand soll mit Tod bestraft werden.“ Dann liegt ein Normenkonflikt vor, der kein logischer Widerspruch ist.

Das hat Engliš richtig erkannt, wenn er (S. 307) sagt, daß die Norm „keinen logischen Widerspruch haben“ kann, daß Kollisionen von Normen, Pflichtenkollisionen „von dem logischen Widerspruch wohl zu unterscheiden“ sind, „daß die Lösung der Kollisionen mit jener der logischen Widersprüche bei Urteilen nichts Gemeinsames hat“ (S. 308).

Die Negation der Norm

Seine Begründung dafür, daß es keinen logischen Widerspruch zwischen Normen geben kann, ist: „Die Norm kann nicht negiert werden.“ Diese Begründung ist aber nicht stichhaltig. Eine „Norm negieren“ kann bedeuten, die Geltung einer Norm negieren. Das ist die Aussage, daß eine ein bestimmtes Verhalten vorschreibende Norm nicht gilt. Eine solche Aussage ist möglich, kann wahr oder unwahr sein. Es kann keinen logischen Widerspruch zwischen Normen geben, weil ein Widerspruch nur zwischen Sätzen bestehen kann, die wahr oder unwahr sind, Normen aber weder wahr noch unwahr sind. Nur wenn man unter „negieren“ die Aussage versteht, daß ein Satz unwahr ist, kann eine Norm nicht „negiert“, d.h. kann nicht ausgesagt werden, daß eine Norm unwahr ist, weil eine Norm weder wahr noch unwahr ist.

Engliš leugnet auch die Möglichkeit eines normativen Syllogismus, d.h. eines Syllogismus, in dem eine Prämisse und der Schluß-Satz eine Norm sind. Er vertritt (S. 316) die These: „Im Erkenntnisprozeß“ — und das Schließen ist ein Erkenntnisprozeß — „sind nur Urteile über die Norm, nie aber Normen selbst enthalten.“ Als Beweis dafür führt er die Tatsache an, „daß das Schlußurteil (conclusio) auf seine Wahrheit bzw. Richtigkeit geprüft werden kann und muß ... Wenn die Norm eine Prämisse darstellen würde und das Schlußurteil eine Norm wäre, dann hätte es keinen Sinn, sie auf ihre Wahrhaftigkeit zu prüfen, da sie keine Wahrheit zum Ausdruck bringen und nicht verneint werden können. Nicht für die Norm, nur für das Urteil über die Norm hat es einen Sinn, nach seiner Wahrhaftigkeit zu fragen und es eventuell zu verneinen.“

Aber daraus, daß eine Norm nicht wahr sein kann, folgt nicht notwendig, daß nicht im Wege einer Schlußfolgerung die Geltung einer Norm erzielt werden kann. Das entscheidende Argument gegen die Möglichkeit eines normativen Syllogismus von der Art, wie ihn Engliš kennzeichnet, ist: daß ein solcher Syllogismus eine Denkoperation ist, die Geltung einer Norm aber der Sinn eines Willensaktes ist, und ein Willensakt nicht im Wege einer Denkoperation erzielt werden kann.

Engliš hat die in dem zitierten Artikel vertretenen Ansichten schon vorher in seinem in tschechischer Sprache 1947 in Prag erschienenen Werk: Malá logíka dargelegt. Gegen diese hat Ota Weinberger, der in einer Abhandlung: „Die Sollsatzproblematik in der modernen Logik“, Rozpravy. Československé Akademie Věd. Rožnik 68. 1958. Sešit 9, S. 1 ff., die Anwendbarkeit logischer Prinzipien, insbesondere des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch und der Regel der Schlußfolgerung — allerdings nur unter der Voraussetzung behauptet, daß die Logik durch eine spezifische Sollsatzlogik erweitert wird (S.10) — geltend gemacht: die Leugnung logischer Beziehungen zwischen Normen beruhe im wesentlichen auf der Annahme, daß die Norm als „Willensakt“ angesehen werde, und diese Auffassung mache eine logische Analyse unmöglich.

„Ebenso wie in den Wissenschaften und in der Aussagenlogik nicht Denk-(Erkenntnis-)akte als Objekte der logischen Beziehungen auftreten, kann auch keine normative Logik (Sollsatzlogik) zustandekommen, wenn wir von den Willensakten ausgehen.“ (S. 92 f.)

Dieser Einwand trifft aber — zumindest in bezug auf die Reine Rechtslehre — nicht zu, die hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Recht und Logik mit Engliš übereinstimmt, denn sie sieht die Norm nicht als „Willensakt“, sondern als Sinn eines Willensaktes an und unterscheidet sehr deutlich zwischen dem Akt und seinem Sinn. (Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 4 ff.)

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1967
, Seite 39
Autor/inn/en:

Hans Kelsen:

Foto: Von Georg Fayer (1892–1950) - Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek,Inv.-Nr. Pf 6505 C(3)https://onb.digital/result/BAG_8026867, Bild-PD-alt, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=11594084

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