FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1970 » No. 195/I
Hermann Höller • Johann Stadler • Engelbert Weirer

Lehrer wachen auf

Endlich! Auf unsere zwei Artikelblöcke über Schuldemokratie im Mitte-April- und Oktober-Heft 1969, verfaßt von Ausländern, Nichtlehrern und vor allem von Schülern selbst, folgt nun ein Echo von österreichischen Lehrern. Wir gratulieren ihnen und uns. Ev. Pfarrer Hermann Höller, Prof. Johann Stadler und Prof. Engelbert Weirer lehren am Gymnasium in Mürzzuschlag, einer für ihre Dialogfreude bereits berüchtigten obersteirischen Industriestadt.

51 Jahre tot ist die Monarchie in unserm Land, eine andere Form der Regierung und Gesellschaft ist entstanden — 51 Jahre alt ist die Demokratie. Aber dieser Wandel in der Form der Regierung und Gesellschaft ist an der Schule fast spurlos vorübergegangen. Die Monarchie des Direktors ist kaum gemildert, die Monarchie des Lehrers und sein Monolog bestehen fort.

Wir haben in der Regierungsform und in weiten Bereichen der Gesellschaft die Monarchie überwunden und die Demokratie zu praktizieren gelernt, aber dort, wo Menschen für diese Regierungs- und Gesellschaftsform ausgebildet werden, gibt es praktisch keine Demokratie.

Wir können für eine demokratische Schule zwar kein ausgearbeitetes Programm, aber immerhin einige Thesen vorlegen:

  1. Mitbestimmung der Schüler bei der Erstellung einer Hausordnung.

    Zu der allgemeinen Schulordnung kann jede Direktion als Ergänzung eine Hausordnung erlassen. Nun aber stammen bestehende Schul- und Hausordnungen meist aus autoritärer Zeit. Vielfach dienen solche Regelungen dazu, die Schüler möglichst straff an der Leine zu halten. Nichts gegen eine saubere Schule — aber brauchen wir eine Anti-Papierfetzerl-Ordnung? Hausordnungen sollen das Zusammenleben von Schülern und Lehrern nicht nur regeln, sondern vor allem erleichtern und fördern.

    Was alle betrifft, soll von allen gemeinsam gestaltet werden.

    Wenn es also darum geht, das Schulgebäude für die Freizeit der Schüler zur Verfügung zu halten, ihnen hier Diskussionen, Arbeitsgruppen und geselliges Leben zu ermöglichen oder zu verbieten, sollen die Betroffenen auch mitreden dürfen. Oder soll ein so teures Gebäude die halbe Zeit brachliegen?

  2. Förderung einer Schülerselbstverwaltung und Schaffung einer Schulgemeinde.

    Die Schüler sollen dazu angeregt werden, Angelegenheiten, die in ihren Bereich fallen, selbst zu entscheiden. Es soll ihnen die Erlaubnis erteilt werden, in Eigenverantwortlichkeit Schülerveranstaltungen durchzuführen und dazu Gäste und Gesprächspartner nach ihrem Wunsch einzuladen. Zu solchen Veranstaltungen soll das Schulgebäude zur Verfügung stehen.

    Demokratisch gewählte Schülervertreter, die nur durch die Schüler absetzbar sind, sollen die Anliegen ihrer Mitschüler aufgreifen und die allgemeinen Interessen gegenüber Lehrern und Eitern vertreten. Sie sollen wesentlich dabei mithelfen, daß aus einer bloßen Lehr- und Lernanstalt eine Gemeinschaft wird. Dieser engere Kontakt zwischen Lehrern, Eltern und Schülern soll durch gesellschaftliche und sportliche Veranstaltungen, die die Schüler in Zusammenarbeit mit Eltern und Lehrern organisieren, gefördert werden.

  3. Schaffung eines paritätischen Gremiums aus Lehrern, Schülern und EItern zur offenen Aussprache über alle gemeinsamen Probleme.

    In der Schule gibt es wie in jedem Betrieb die große Gefahr der Betriebsblindheit. Ein Gremium, das paritätisch zu je einem Drittel aus gewählten Vertretern der Lehrer, der Schüler und der Eltern besteht, muß geschaffen werden. Viele Probleme beruhen ja auf Mißverständnissen, die nie aufgeklärt werden, weil der Kontakt mit denen zu gering ist, die aufklären könnten. Und echte, tiefgehende Probleme werden umgekehrt häufig verwischt, weil sie nicht artikuliert werden. Gegenseitige Präsenz und ein ständiges, wechselweises Miteinander von Lehrern, Schülern und Eltern kann vieles ändern. Vielleicht könnten gerade die Eltern und besonders der Elternverein eine sehr aktive Rolle als Brückenschläger und Dolmetscher für beide Seiten übernehmen: Schülern wie Lehrern das Anliegen der jeweiligen Gegenseite übersetzen.

  4. Unzensierte Schülerzeitung — ein unerläßliches Kontrollorgan für einen demokratischen Schulbetrieb.

    Wir waren alle empört, als in Prag die Pressezensur wiedereingeführt wurde. Bei uns aber gilt es als Selbstverständlichkeit, daß Schülerzeitungen nur zensiert erscheinen. Häufig muß der verantwortliche Redakteur — der aus dem Kreis der Lehrer stammt! — als Zensor auf den Druck seiner Kollegen hin den Schülern ihre klare Sprache wegempfehlen oder gar verbieten. Wenn die jungen Redakteure mit dem Zensor nicht übereinstimmen, darf das Blatt nicht mehr erscheinen. Ein Neunzehnjähriger darf mit Bundesheerwaffen morden, darf heiraten, Kinder zeugen und harte Kerkerstrafen absitzen, aber seine Meinung darf er nicht frei und unzensiert in einer Schülerzeitung äußern.

  5. Demokratische Verwaltung der Kommunikationsmittel.

    Eine größere Schule ist heute ohne Lehrer- und Schülerläufer, ohne Schwarzes Brett und Rundspruchanlage kaum zu denken. All diese Medien sind einmal zur Unterstützung des Direktors und der Administration geschaffen worden. Aber das Bedürfnis, zu informieren und informiert zu werden, geht heute weit über diesen Ursprung der Kommunikationsmittel hinaus. So wollen etwa die Redaktion der Schülerzeitung und der English Club rasch eine größere Zahl von Schülern informieren. Weitere Klubs und Arbeitsgruppen werden entstehen.

    Wer darf die Rundspruchanlage verwenden und in einem Elternbrief zu Wort kommen?

    Wichtige Informationen für Schüler, Lehrer und Eltern dürfen nicht willkürlich weitergegeben oder zurückgehalten werden; denn so manches Anliegen der Schüler ist ebenso wichtig wie das eine oder andere Anliegen der Lehrer. Deshalb müßten die Medien von einem handlungsfähigen Gremium verwaltet werden, dem rechtzeitig Informationswünsche vorgelegt werden müssen.

  6. Freiwilliger Besuch der Schülergottesdienste.

    Kaum je zuvor haben die Kirchen so intensiv über Toleranz und Gewissensfreiheit nachgedacht wie in den letzten Jahren. Nur noch wenige Geistliche legen Wert darauf, die Kirchen mit mehr oder weniger Zwang zu füllen. Je mehr aber die Kirchen für Toleranz und Gewissenfreiheit eintreten, desto weniger wollen einige Schulmänner einen Partner verlieren, der den Status quo mit einer religiösen Weihe umgibt, brave Untertanen erzieht und überhaupt Gehorsam und „Anständigkeit“ injiziert.

    Nur die Machtverhältnisse an der Schule profitieren davon; denn der junge Mensch wird dabei vergewaltigt und die Kirche weiterhin um jede Glaubwürdigkeit gebracht.

    Natürlich kommt jetzt das Argument von der Aufsichtspflicht der Lehrer. Aber dieses Problem wäre rasch gelöst, wenn die Schülergottesdienste außerhalb der Schulzeit veranstaltet würden. Dann stünde der Freiwilligkeit nichts mehr im Wege.

  7. Stimmberechtigte Teilnahme von Schülervertretern an Disziplinarkonferenzen.

    In einem Staatsgefüge, das sich demokratisch nennt und die Gleichheit aller vor dem Gesetz proklamiert, ist es überholt, wenn die Schule Disziplinarfälle verhandelt, ohne dem Beschuldigten eine Möglichkeit zur Rechtfertigung zu bieten. Es muß deshalb ein Weg gefunden werden, der dieses demokratische Unrecht berücksichtigt. Ein Disziplinarfall sollte deshalb so verhandelt werden, daß neben der Lehrerkonferenz auch frei gewählte Schülervertreter stimmberechtigt mitwirken.

    Eine zweite Forderung wäre, dem Beschuldigten einen „Anwalt“ seines Vertrauens (Schüler oder Lehrer) zuzubilligen.

  8. Tabubrechende Information.

    Alle jungen Leute sagen: „Ich werde meinen Kindern sagen, was mir meine Eltern verschwiegen haben!“ Sobald sie aber selber Eltern sind, versagen sie in der Geschlechtserziehung wie die vorige Generation.

    Über den Benzinmotor wird der junge Mensch früher informiert als über seine geschlechtliche Natur.

    Eine Schule, die zur Lebenstüchtigkeit erziehen will, kann das nicht verantworten. Es wäre aber auch keine Lösung, in einem einzigen Fach amtlich Geschlechtserziehung zu betreiben, während überall sonst das Tabu bestehen bleibt. Jeder, der einen fundierten Beitrag zu leisten vermag, sollte ihn unbehindert geben dürfen.

    Auch in religiösen Fragen ist viel breitere Information nötig. Fremde Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen sollten nicht so dargestellt werden, daß sie von vornherein als minderwertig erscheinen. Auch hier müßte ein kritisches Urteil das entscheidende Bildungsziel bleiben.

    Tagespolitische Fragen und das politische Bekenntnis des Lehrers sollten kein Tabu sein.

    Wirkliche Demokratie an unseren Schulen kann sture Amtsautorität und Kadavergehorsam nicht dulden. Der Lehrer muß im Interesse seines pädagogischen Auftrages immer wieder bereit sein, sich von Schülern und Eltern in Frage stellen zu lassen.

  9. Politische Bildung als Kernfach.

    Mit Uninformierten, Unzuständigen, Unwissenden zu arbeiten, ist angenehm und leicht, aber nicht Ziel der Schule. Ein umfassend gebildeter Mensch wird ohne umfassende soziologische und psychologische Kenntnisse nicht länger denkbar sein. Noch wichtiger aber sind Fertigkeiten, die der Mensch von morgen braucht: Tendenzen erkennen, Teamwork aufbauen, Diskussionen und Arbeitsgruppen leiten, Interessen anderer verstehen und für Dritte dolmetschen, Zukurzkommende vertreten, zerstörte Gruppenbeziehungen heilen, Gewissen mobilisieren.

    Zuerst wird das Abschießen des unbequemen Fragers im Unterricht aufhören müssen.

    Den Menschen, der sich nicht vor jeden Karren spannen läßt, und die Arbeitsgruppe, die ohne Angst und Prestigegedanken das Notwendigste tut, werden wir immer häufiger antreffen.

    Auf die Frage, warum die Zeitgeschichte so gern zu kurz kommt, antwerten Schüler: „Weil der Lehrer nicht objektiv sein kann.“ Sie lassen sich also noch vorgaukeln, daß der Lehrer bei Sokrates, Cäsar oder Jesus objektiv sein kann.

    Politische Bildung schließt ein, daß die Subjektivität aller überall eingestanden und dementsprechend gearbeitet werden muß.

    Der Lehrer, der über allen Gegensätzen steht, hilft dem Schüler viel weniger als der Lehrer, der wie der Schüler eine eigene, persönliche Stellungnahme wagen muß. Auf diesem Weg könnte man dem Ziel politischer Bildung näherkommen: Mit- und Selbstbestimmung zu üben.

  10. Mitbestimmung der Klasse bei der Erstellung der Lehrstoffverteilung.

    Der Lehrstoff ist in den amtlichen Lehrplänen so umfassend dargeboten, daß jeder Lehrer eine bestimmte Auswahl treffen muß. Es wäre durchaus denkbar, daß die Schüler bei dieser Auswahl im Rahmen des Möglichen mitwirken. Das wird man nicht in allen Fächern im gleichen Umfang tun können; doch bei der Lektüre in allen Sprachen, in Geschichte, Philosophie und Religion, in Kunst- und Musikerziehung, in Geographie, Physik und Naturgeschichte bietet sich ein breites Feld von Chancen, die Schüler mitbestimmen zu lassen.

    Man kann damit rechnen, daß sich die Schüler für eine selbstgewählte Aufgabe wesentlich stärker engagieren als für ein diktatorisch vorgesetztes Pensum.

  11. Dialogischer Unterricht als Heranbildung für ein Leben in Partnerschaft.

    Ein einfacher, psychologisch sorgfältig durchdachter Test (ihn genau darzustellen, wäre ein eigener Aufsatz) hat die Überlegenheit des dialogischen Unterrichts gezeigt: Während bei monologischem Vertrag von 30 Hörern höchstens einer den vollen Inhalt mitbekommt, bewältigen dialogisch den gleichen Stoff 18 bis 20 Hörer. Noch höher klettert die Erfolgsquote, wenn der Dialog zwischen Schülern und Lehrern durch Gruppenarbeit erweitert und ergänzt wird: der Stoff wird dann von 25 bis 28 der 30 Hörer vollinhaltlich bewältigt.

    Solche Arbeitsweise fordert erhöhten Einsatz der Lehrer, reichlichere Ausstattung mit Lehr- und Lernmitteln und die Bereitschaft zu partnerschaftlichem Arbeiten.

  12. Öffentlichkeit der Beurteilung und Mitbestimmung der Schüler bei der Benotung.

    Wohl und Wehe des Schülers hängen von seiner Beurteilung ab, Für den Lehrer ist sie eine äußerst verantwortungsvolle und schwierige Sache.

    Durch die öffentliche Bekanntgabe jedes Prüfungsergebnisses kann sich der Schüler immer ein genaues Bild über seinen Leistungsstand machen. Bei guten Leistungen wird das Gefühl einer gewissen Unsicherheit und Ausgeliefertheit dem Lehrer gegenüber wegfallen. Bei schlechten Leistungen ist der Schüler ständig über seine Gefährdung sicher informiert.

    Die Mitbestimmung bei der Beurteilung wird bei der durchaus selbstkritischen Einstellung der Schüler einerseits zu einer objektiveren Beurteilung führen und anderseits das Verantwortungsbewußtsein der Schüler heben.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1970
, Seite 223
Autor/inn/en:

Hermann Höller:

Johann Stadler:

Engelbert Weirer:

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