FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1991 » No. 452-454
Helmuth Santler

Legenden, die zu Wahrheit werden

Kerala, der Musterstaat Indiens

König Pandalam war ein sorgenvoller Monarch: ohne Thronfolger drohte seine Dynastie auszusterben. Ein gütiges Geschick half ihm aus der Misere. Auf einem Jagdausflug entdeckte er ein Findelkind, einen verwaisten, kleinen Buben. Er adoptierte das Menschlein, das zu einem brillanten, jungen Mann heranwuchs. Der Prinz vereinigte alles Wissen seiner Zeit in einem Geist, alle Fähigkeiten in einem Körper — Lord Ayappa, der Sohn Shivas und Vishnus, war auf die Erde gekommen.

Noch aber war er ein Prinz, und nicht einmal von königlichem Blut. Als nun die Königin in reifen Jahren einem Sohn das Leben schenkte, war ihr das Adoptivkind im Wege. Zusammen mit dem Kanzler und einem Arzt schmiedete sie ein Komplott. Sie täuschte eine Krankheit vor, an der alle Heilkundigen des Landes verzweifelten; erst der Eingeweihte wußte Rat: ein Trank aus der Milch wilder Tiger würde die Herrscherin von ihrem Leiden befreien. Prinz Ayappa erhielt den Auftrag, seiner Stiefmutter die benötigte Medizin zu beschaffen; sein Tod schien Gewißheit.

Auf seiner Suche begegnete er einem anderen Großen seiner Zeit: Vavar, einem Muslim. Für diesen war es ein leichtes, dem Prinzen bei seiner unlösbar scheinenden Ausgabe zu helfen: alle Tiere gehorchten seinem Wort. Nicht lange, und Ayappa trieb eine Herde der Raubkatzen zum Palast. Seine Stiefmutter badete verdrossen in der kostbaren Flüssigkeit und gab sich geschlagen. Ayappa hatte sich den Weg auf den Thron geebnet, aber er kehrte der weltlichen Macht den Rücken und zog in den Dschungel.

Zu jener Zeit versetzte Mahishi, ein schreckliches Stiermonster, die Menschen der Gegend in Entsetzen. Ein Bannspruch schützte es: nur ein Mensch, dessen Mutter keine Frau ist, sollte in der Lage sein, es zu töten. Lord Ayappa erfüllte diese Bedingung, denn Vishnu, der sich Shiva zuliebe in eine Frau verwandelt hatte, hatte ihn aus seinem Oberschenkel geboren. In einem blutigen Kampf vernichtete der Gott die Bestie. Die Freudentänze der Menschen begründeten die Verehrung des Idols.

Sri Ayappen Sabarimala, ein einsam im Dschungel gelegener Tempel, ist heute das Ziel von Millionen (überwiegend männlichen) Gläubigen — Frauen im gebärfähigen Alter sind von der Teilnahme an der Pilgerreise ausgeschlossen. Diese fällt zwischen Mitte November und Mitte Jänner, einer Dauer, entsprechend zwei Monaten nach dem in Kerala gebräuchlichen Mondkalender. Den Rest des Jahres findet, mit Ausnahme der jeweiligen Monatsersten, keinerlei Pooja (Opferritual) statt; üblich sind täglich mindestens zwei.

Der traditionelle Ausgangspunkt der Pilgerreise ist Erumely, eine Kleinstadt im Süden des tropischen Bundesstaates. Seinen Namen erhielt der Ort von „Erumar“, was in der Landessprache einen weiblichen Büffel bezeichnet; an dieser Stelle zerfetzte Lord Ayappa das Stiermonster Mahishi. Als erstes mußte sich jeder angehende Pilger eine Kette, wenn möglich aus den Samen eines Dschungelbaumes, besorgen und diese weihen lassen. Das äußere Zeichen steht für viele Verpflichtungen: ab nun gilt es, keusch zu bleiben, vor allem jede Berührung mit Frauen während deren Periode zu vermeiden. Der Gläubige verpflichtet sich, rein vegetarisch zu essen, keinen Tag ohne Verehrung für den Gott verstreichen zu lassen und eine vorgeschriebene Kleidung zu tragen: erlaubt ist lediglich das Dhoti, ein (in diesem Fall) schwarzes oder oranges Stück Stoff, welches um den Leib gewickelt wird; Oberkörper und Füße bleiben nackt.

Nun gilt es, einen Guru zu finden. Dessen einzige Qualifikation: er muß die Pilgerreise bereits mitgemacht haben. Die Neulinge seiner Gruppe müssen (alle anderen dürfen) nun einen Pilgertanz vollführen, eingedenk der Freude der Menschen angesichts des zerstückelten Monsters. Musiker werden engagiert, aufpeitschende Rhythmen erhitzen das Blut, Farbpulver wird durch die Luft geschleudert, bald ist ein jeder „blutverschmiert“ wie einst Ayappa nach dem Kampf. Der ungezügelte Kampf führt immer näher zur Ekstase, Marihuanazigaretten kreisen (ausnahmsweise legal) und entfernen die letzten Reste von Alltagsbewußtsein aus den Köpfen der Männer. Irgendwann erblicken sie einen Stern, heller und größer als die Sonne; der Kontakt zu Gott ist hergestellt, der Tanz verebbt. Ein rituelles Bad im Fluß reinigt Körper und Seele.

Der Tag des Abmarsches rückt näher, die letzten Vorbereitungen werden getroffen. Unter den wachsamen Augen des Gurus schnürt ein jeder das Pallikatta, das heilige Bündel. Drei Kokosnüsse kommen hinein, eine davon mit Ghee (Milchfett) gefüllt; ein Betelblatt dient als Hülle für eine Münze, eine kleine Banane und etwas Ganja (Marihuana); unter Rezitationen wird Reis eingefüllt, auch Reisflocken, Reispuffer, Rosinen, ein großer Zuckerkristall, Räucherstäbchen, Kampfer und einiges mehr finden noch Platz. Der Stoffsack wird auf den Kopf gehoben, ohne sich noch einmal umzudrehen bricht der Pilger auf.

Die erste Station, noch in Erumely, ist die Vavar-Moschee. Zum Gedenken an die Hilfe für Lord Ayappa, im Zeichen der Verbrüderung zweier Religionen, wird das Gotteshaus zweimal umkreist, symbolische Geschenke werden ausgestauscht, dann setzen die Hindus ihren Weg fort. Er führt sie tiefer und tiefer in den Dschungel, vorbei an heiligen Plätzen: Kalakati, wo der Bulle (Kala) Shivas angebunden (kati) war, als er sich gemeinsam mit seiner Frau, Parvati, um das Wohlergehen des Säuglings kümmerte. In Arudei, um die Mittagszeit des ersten Tages, ist ein Flußbad vorgeschrieben. Bei dieser Gelegenheit steckt jeder einen Stein zu sich. Diese Steine sammeln sich in Kalidemkuna („Hügel, wo ein Stein zu legen ist“) zu einem großen Haufen, unter dem ein Teil des Monsters begraben ist, um dessen Auferstehung zu verhindern. Nach drei Tagen der Wanderschaft und des Gebets erreichen die Gläubigen Sri Ayappen Sabarimala. Nach einem Bad und einer ausgiebigen Rast betreten sie die 18 Stufen, die zum Osteingang führen. Auf die Stufe, die der Anzahl der Pilgerreisen entspricht, wird eine Kokosnuß geworfen, die mit Ghee gefüllte Nuß einem Priester überreicht. Dieser gießt den Inhalt über die Statue Lord Ayappas, einen kleinen Teil der nunmehr heilkräftigen Substanz erhalten die Männer zurück. Anderen Göttern innerhalb des Tempels wird geopfert, Münzen verschwinden in einem riesigen Spendentrichter. Die Braut Ayappas muß wieder ein Jahr warten: der Gott hat sich ihr erst für den Tag versprochen, an dem kein einziger Neuling unter den Pilgern ist.

Die größte Schar versammelt sich am Beginn des Monats Magaram, dem letzten der 60 Fest-Tage; heuer entsprach dies dem 16. Jänner. An diesem Tag wird die Statue des Idols besonders geschmückt, in der Nacht leuchtet das Magarajodi, ein heiliges Licht. Es ist Aufgabe des Staates, für diese Erhellung zu sorgen, die Heiligkeit der Ereignisse reicht alleine nicht mehr. Die Linke Demokratische Front (LDF), die kommunistisch geführte Koalitionsregierung in Kerala, hat keinerlei Interesse, an dieser Tradition zu rütteln. Die roten Minister bitten wie alle anderen um ein gutes Regierungsjahr; weder mit dem Volk noch mit den diskreten Machthabern, den Brahmanen, will man sich’s verscherzen. Darüberhinaus fließt ein nicht geringer Anteil der Spenden in die Staatskasse. Die LDF revanchierte sich im Vorjahr auf ihre Weise: da immer mehr Frauen versuchten, entgegen dem traditonellen Verbot auch in einem Alter zwischen 10 und 50 Jahren an den Feierlichkeiten teilzunehmen, wurden Polizeikontrollen eingeführt, um die Tabubrecherinnen auszusieben. Nicht immer mit Erfolg: in der unübersehbaren Menschenmasse gibt es zu viele Verstecke, die Traditionen weichen auf; längst nicht mehr alle benutzen den vorgeschriebenen Weg oder kleiden sich genau den Vorschriften entsprechend. Das bietet Gelegenheit für Schleichwege und Maskerade.

Die Vermengung von Tradition und Moderne, von Hindus, Muslimen, Christen und Buddhisten, von Ideologien aller Schattierungen ist ein Drahtseilakt, der in ganz Indien gewagt werden muß. Nirgends aber erreicht man größere Nähe zu perfekter Balance als in Kerala, dort, wo Indien so aussieht, wie man es sich immer vorgestellt hat: feuchtheißes Klima sorgt für üppige Vegetation, fast jeder vermeintliche Dschungel entpuppt sich aber als bewirtschaftetes Feld. Der Bundesstaat ist nicht ganz halb so groß wie Österreich, aber er bietet über 29 Millionen Menschen den höchsten Lebensstandard und die höchste Lebenserwartung in der Indischen Union. Mit einer Bevölkerungsdichte von 747 Einwohnern je km2 ist es eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Erde; in Indien wird es lediglich von West-Bengal (766/km2) übertroffen, der gesamtindische Schnitt liegt bei 267/km2 (zum Vergleich: in Österreich leben 90 Menschen pro Quadratkilometer). In einer beispiellosen Aktion wurden in den letzten zwei Jahren eineinhalb Millionen Menschen zu Lese- und Schreibkundigen ausgebildet — die Rate der Literalität liegt nunmehr bei einer einsamen indischen Rekordmarke von 91% (gesamt: 52%). Besonders die Frauen — sie liegen nur mehr 7,5% hinter den Männern — haben enorm zu dieser Steigerung beigetragen. Hand in Hand mit der steigenden Bildung wuchs das Problembewußtsein in Bezug auf die Überbevölkerung und das Wissen um mögliche Gegenmaßnahmen. Mit knapp unter 14% (gesamt: 23,5%) Bevölkerungswachstum in den letzten zehn Jahren liegt Kerala auch in dieser Statistik an der Spitze, diesmal von unten gesehen.

Natürlich ist Kerala keine problemfreie Zone; Reibereien sind an der Tagesordnung, das Verschwinden unberührter Natur samt ihrem Artenreichtum eine traurige Tatsache. Gerade weil es ein besonders reiches Land ist, werden zu wenig Grundnahrungsmittel angebaut — Cardamom (ein Gewürz), Cashew-Nüsse und Gummi bringen ungleich mehr Profit, desgleichen Kaffee, Tee, Pfeffer und allerlei Früchte. Den Reis stellt zum Großteil der Nachbarstaat Tamil Nadu; die Steinchen in ihm werden ohne Aufpreis mitgeliefert.

Wie überall gibt es Dinge, an denen man sich die Zähne ausbeißt. Toleranz aber, vor allem religiöse Toleranz, ist kein leeres Schlagwort, sondern täglich gelebte Notwendigkeit. Flexibilität ist angesagt: Jesudas, ein berühmter Sänger und Christ, ging kürzlich auf „Kreuzzug“ gegen einen Hindutempel, der entgegen den sonstigen Gepflogenheiten Nicht-Hindus den Zutritt verweigerte. Er stellt sich vor den Toren auf und begann zu singen; tausende Menschen folgten ihm, mehrheitlich Angehörige der Communist Party of India (Marxist), der stärksten Gruppe innerhalb der LDF. Sehr bald zeigte der Massenauflauf Wirkung, die Tore öffneten sich. Kommunisten für Religionsfreiheit, hinduistiche Mitglieder der Kommunistischen Partei, Christen, die zu Shiva beten; was theoretisch unvereinbar scheint, wird auch sonst gerne praktisch zum gesellschaftlichen Experiment:

In ganz Indien ist es relativ problemlos möglich, zwischen drei Behandlungsmethoden zu wählen. Allopathie, Homöopathie und Ayurvedie, die traditionelle Kräutermedizin, existieren nebeneinander. In Cochin, einer Hafenstadt in Kerala, ging man einen entscheidenden Schritt weiter und legte gleich alles zusammen. Der Kranke entscheide nach Bedarf, das Gebäude bleibt immer dasselbe. „Probieren geht über studieren“, sagt der Volksmund.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
1991
, Seite 1
Autor/inn/en:

Helmuth Santler:

Jahrgang ’64, ist Schreibender von Kindesbeinen an. Nach der Matura siedelte sich der gebürtige Villacher (Kärnten, slowenisch-italienisch-österreichische Grenzregion) in Wien an, wo er sehr viel lebte, ein wenig studierte, sich in diversen Jobs vom Hochleistungs-Sackelpicker bis zum Fahrradboten verdingte … und erste Erfahrungen als Berufsschreiber sammelte. Der Frühphase als freier Journalist folgte nach dem Studienabschluss ein Jahrzehnt als Hauptverantwortlicher für zwei kleine Öko-Magazine, bevor er sich nach einer Start-up-start-down-Episode als Online-Redakteur im zukunftsverheißenden Jahr 2001 als „Textmaker“ endgültig selbstständig machte und den Schwerpunkt seiner Tätigkeit mehr und mehr in die Buchwelt verlagerte.

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