FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1971 » No. 215/I/II
K. S. Karol • Michael Siegert (Übersetzung)

Kurs auf die Kommunen

Reisebericht aus China

K. S. K. besuchte China erstmals 1965. Im Frühjahr 1971 sah er mehr als zwei Monate lang jene Fabriken, Kommunen, Schulen, Universitäten wieder, die er damals besucht hatte, desgleichen die Mandschurei und die Provinz Kiangsi, beide meist verschlossen für Ausländer. Siehe seinen Bericht „Nixon statt ultralinks“ NF Aug./Sept. 1971. — K. S. K., gebürtig zu Polen, sowjetische Schulen und Hochschulen, ist Journalist in Paris, meist auf Reisen. Zwischen 1961 und 1968 lange Aufenthalte auf Kuba, Gespräche mit Fidel und Che. Mitarbeiter „Le Monde“, „Nouvel Observateur“, „Neues Forum“. Bücher u. a. „La Chine de Mao“ 1966, „Les Guerilleros au pouvoir“ 1970 (über Kuba).

I. Drei Versionen von China

China unterhält gegenwärtig Auslandsbeziehungen auf drei Ebenen: Regierung, Volk und kommunistische Partei. Ein Besucher wird je nach Stellung in eine Kategorie eingeordnet und von einer der drei Spezialabteilungen für ausländische Beziehungen betreut. Die Chinesen geben einfach drei verschieden ausführliche Erklärungen, die der Aufnahmefähigkeit von Ausländern angepaßt sind. Normalerweise erhalten die Journalisten die einfachste Version, die auch für die Geschäftsleute bestimmt ist, welche die Messe von Kanton besuchen. Darin liegt weniger Herablassung als der Wunsch, nicht zu verletzen. Die Chinesen meinen, daß ein Europäer, auch der abgestumpfteste, imstande ist zu sehen, daß sich ihr Land gut entwickelt, während sehr wenige fähig sind, die Probleme dieser so ganz andersartigen Gesellschaft zu begreifen.

Die amerikanischen Journalisten scheinen sehr empfänglich für ein solches Arrangement. Bei ihrer Ankunft in Peking lange ideologische Debatten fürchtend, waren sie angenehm überrascht von ihren lächelnden Gastgebern, die sie in keiner Weise zu indoktrinieren versuchten. Was man ihnen bot, waren sehr gut organisierte touristische Rundfahrten und eine sehr entscheidende Darlegung der Forderungen Chinas.

Nichts entging den Amerikanern, weder die chinesische Reinlichkeit noch das Fehlen der Luftverschmutzung, noch das friedliche Bild der Städte bei Nacht, die strahlende Gesundheit der Jugend, die offensichtlich keine Drogen zu sich nimmt, noch die Abwesenheit von Arbeitslosigkeit, noch die entspannte Atmosphäre bei den Arbeitern. Natürlich vermerken sie, daß das chinesische Regime nicht „demokratisch“ ist, aber sie fügen gewöhnlich hinzu, daß es allem Anschein nach populär ist. Diese Reportagen machen in den USA großen Eindruck, vor allem in den Großstädten, wo man es kaum mehr wagt, nach Einbruch der Dämmerung auszugehen, wo man von der „Pollution“ belästigt wird, von der Droge und von der Angst um den Arbeitsplatz.

Wenn Nixon also von seiner Chinareise mit leeren Händen zurückkommt, wird er es schwer haben, die Verantwortung dafür auf den Isolationismus der Regierung Maos zu schieben und die alte antichinesische Kampagne wieder in Schwung zu bringen.

II. Verarbeitung der Kulturrevolution

Kann man die großen Veränderungen durch die Kulturrevolution feststellen, wenn man sich damit begnügt, die geordneten Massen der Großstädte zu besichtigen, die wohlversorgten Geschäfte und Märkte zu besuchen, einige Stunden in Fabriken oder Kommunen zu verbringen, wo jetzt alles ruhig scheint, fast lächelnd? Außer einigen Anschlägen in großen Schriftzeichen, die noch auf den Mauern verblieben sind, hat die Kulturrevolution keine sichtbaren Spuren hinterlassen. In den Berichten aller Chinesen hingegen ist sie sehr wohl bemerkbar: sie ist weiterhin der Hauptbezugspunkt. Man scheint einige Lehren gezogen zu haben, und die Kader legen heute Wert darauf, sie hervorzuheben.

China hat sich brutal in einem Spiegel gesehen, es hat alle Widersprüche, die nach der Beseitigung des Privateigentums entstanden waren, herausgestellt. Die Kritik von der Basis her hat die gewachsene Bürokratisierung enthüllt, die Relikte alter Gehorsamsgewohnheiten und des Mißbrauchs an Autorität, die Existenz neuer, verdeckter sozialer Schichtungen. Heute finden die Kader, daß diese Kritik ebenso gewaltsam wie parteiisch war, indem sie nicht nur die Ideen und die Methoden einbezog, sondern auch die Menschen selbst, bis auf die Knochen, und daß es manchmal zu ungerechten oder überflüssigen Konflikten kam.

Man bereut nicht die Leidenschaft dieser Zeit, aber man versucht jetzt, sie zu analysieren und zu erklären. Die Hauptschwierigkeit bestand darin, daß man kritisieren und völlig zerstören mußte und gleichzeitig aufbauen, um das Land funktionsfähig zu erhalten. Unzählige Gruppen behaupteten, die „Linie des Vorsitzenden Mao“ zu vertreten, die sich untereinander nicht vertragen und auch nicht zusammenarbeiten wollten. Die Militärs-ohne-Waffen mußten diese Streitigkeiten schlichten; fast überall versicherten sie mir, daß sie viel Mühe mit dieser Aufgabe hatten und daß sie viele Fehler gemacht hätten. In ihren Reihen gab es die meisten Opfer in der kurzen Zeit der Gewalttätigkeiten.

Heute wird der Akzent auf die Notwendigkeit einer Synthese gesetzt. Sie wächst langsam und ist noch nicht vollzogen. In der Optik der jetzigen Kader geht es vor allem darum, alle positiven Elemente aus der Erfahrung der „Bombardierung des Hauptquartiers“ zu sammeln. Es hat nicht weniger als fünf Jahre gedauert, bis die Komitees der kommunistischen Partei in den 29 Provinzen, autonomen Gebieten und Städten mit Sonderstatus neu organisiert werden. In einem Land, das in der Partei den Motor seiner Entwicklung sieht, ist das eine ziemlich lange Zeit für ein Provisorium. Während der ganzen Zeit mußten den alten Kadern junge eingegliedert werden, die sich während der Kulturrevolution hervorgetan hatten.

Die Kulturrevolution hatte enthüllt, daß „China noch ein Ozean des kleinbürgerlichen Denkens“ ist. Überall hat man mir gesagt, daß dies die Erklärung sei für die Entscheidungen der vergangenen Jahre und auch die gegenwärtigen Schwierigkeiten. In einigen Jahren würde eine neue Kulturrevolution stattfinden; dann werde man feststellen können, inwieweit der jetzige „Sprung vorwärts“ im Bereich der Ökonomie auch das politische Bewußtsein der Chinesen verändert habe. Sicherlich ein Wagnis, wie es noch nie zuvor von einem Land eingegangen wurde.

III. Die Modellbrigade von Tachai

Tagtäglich kommen Tausende chinesische Bauern nach Tachai, um seine Modellbrigade zu besuchen, die den Landbewohnern vom Vorsitzenden Mao 1964 als Beispiel vorgestellt wurde. Sie kommen auf Lastwagen und entfalten ihre roten Fahnen wie für ein Fest. In diesem Dorf mit 83 Familien (438 Einwohner) ist der Empfang in besonders wirkungsvoller Weise organisiert, Propagandagruppen führen die Besucher durch die Felder, sorgen für ihre Verpflegung — gewöhnlich im Freien — und veranstalten politische und technologische Gespräche. Weder Durcheinander noch Lärm: jede Gruppe verhält sich aufmerksam und diszipliniert. Wenn man das Funktionieren dieser gut geölten Maschine beobachtet, versteht man besser, wie 11 Millionen Roter Garden sich wochenlang in Peking aufhalten konnten, ohne das Leben und die Arbeit seiner Einwohner zu stören.

Die Arbeiten dieser Brigade wurden durch Broschüren und Filme im ganzen Land bekannt gemacht, im Detail beschrieben, und die Reden von Tschen Yung-kuei, des Parteisekretärs von Tachai, nehmen in der nationalen Presse mehr Platz ein als die Interventionen so mancher Mitglieder des Politbüros. Er ist somit einer der bekanntesten Männer in China. Niemand verstand es so wie er, mir die konkrete, tägliche Wahrheit, die eigentlichen sozialen Verhältnisse auf dem Land lebendig zu machen wie dieser Bauer, dessen „richtige Ideen“ aus der Praxis stammen. Er lernte im Alter von 46 Jahren lesen und schreiben.

Wer sind seine Feinde? Die „Vier Alten“ — die alte Kultur, die alten Ideen, alte Sitten und Gewohnheiten.

Tachai liegt in einer besonders armen Gegend, die vor der Befreiung für einen hohen Prozentsatz von Analphabetismus und Aberglauben bekannt war, von Hungersnöten entvölkert und durch Abholzungen verwüstet, wozu noch verheerende Überschwemmungen kamen. Im Ganzen so heruntergekommen, daß die einfache Aufteilung des Landes oder auch genossenschaftliche Kooperationen nichts verbessern konnten, allenfalls die Armut gleichmäßiger verteilen.

Während der schwierigen Jahre der „großen Not“ 1960/61 — die härteste Zeit für China seit Gründung der Volksrepublik — schien sich die führende Gruppe in Peking mit Konzessionen an die individualistische Haltung der Bauern abgefunden zu haben, um die landwirtschaftliche Produktion in Gang zu bringen und zu stimulieren. „Es macht nichts, ob eine Katze schwarz oder weiß ist; wenn sie Mäuse fängt, ist sie eine gute Katze“ hieß die Losung bezüglich Priorität der Produktion. In Tachai tat Tschen Yungkuei alles, um mehr Getreide an den Staat zu liefern, aber er war überzeugt, daß das Prinzip „mit allen Mitteln“ nicht gut war. Für ihn erklärte sich die unzureichende Lieferung nicht aus einem Exzeß des Kollektivismus, sondern eher durch die partielle und widerspruchsvolle Art der Kollektivierung.

Nach Abschaffung allen privaten Grundeigentums zeigten sich die „Vier Alten“ von neuem im System der Entlohnung, das auf „Punkte“ gegründet war, das heißt auf rein materielle Anreize, und auf eine traditionelle Auffassung vom Wert der Arbeit. Seiner Meinung nach hinderte ein solches System die sozialistische Dynamik der Landwirtschaft, indem sie neue und gefährliche soziale Polarisationen hervorrief und das Niveau der Produktion hemmte.

IV. Die Lohn-Börse

Jeder Aufgabe entsprach damals eine bestimmte Anzahl von Punkten; Arbeiten, die am meisten Sachkenntnis erforderten, waren am besten bezahlt. Auf den ersten Blick entsprach dies dem sozialistischen Prinzip: „Jedem nach seiner Leistung.“ Aber in Wirklichkeit wertete man die Arbeit nach dem Marktwert ihres Resultates. Die Stärksten, die am besten Ausgebildeten, die Schlauesten sammelten viele Punkte, während die anderen (vor allem die Frauen) wenig verdienten, selbst wenn sie sehr gewissenhaft ihre Aufgaben erfüllten. Ihre Arbeit hatte in den Augen der Brigade wenig Wert, und schließlich verließen sie die Felder, um sich den Funktionen der Familie zu widmen, außerhalb der Landwirtschaft.

Der Punktewert wurde am Ende des Jahres im Laufe einer Diskussion über die Verwendung des Gesamteinkommens der Brigade festgelegt. Diejenigen, die viele Punkte erreicht hatten, lehnten die Vorschläge der kollektiven Investitionen ab, um ihre bereits erworbenen Gewinne nicht zu schmälern. Obwohl das Land allen gehörte, waren die Nutznießer nur eine Minderheit, die noch dazu überwiegend aus solchen zusammengesetzt war, die früher am wenigsten gelitten hatten und die am stärksten von den „Vier Alten“ durchdrungen waren.

Tschen Yung-kuei hätte im ersten Band des „Kapitals“ von Karl Marx die Antwort auf seine Bedenken betreffend „Arbeit-Wert-Ware“ finden können; aber auch ohne diese Quelle konnte er bei den „armen und mittelarmen Bauern“ das Bewußtsein schaffen, daß das Punktesystem zur gleichen Not und zur selben untergeordneten Tätigkeit führte wie unter dem alten Regime. Und mit ihrer Hilfe hat er eine andere Art von Entlohnung eingeführt, die sich auf politische Kriterien gründet, das heißt, es berücksichtigt die kollektivistische Haltung, die Hingabe, die Rechtschaffenheit und Qualität der Arbeit eines jeden einzelnen.

Von nun an sollte jedes Mitglied der Brigade selbst die Anzahl der Punkte vorschlagen, die es verdient zu haben glaubte, und alle anderen sollten sich dazu äußern. Zunächst waren diese Sitzungen der „individuellen Einschätzung und öffentlichen Festsetzung“ stark besucht, und ich glaube gern, daß sie erregt waren. In der Tat handelte es sich darum, den Bauern eines der früher rückständigsten Gebiete Chinas die Möglichkeit zu geben, sich in revolutionärer Art über ihren eigenen Wert, sowohl als Individuen wie auch als Produzenten, auszusprechen und frei zu diskutieren. Nach und nach wurden aber diese Versammlungen seltener, um Zeit zu gewinnen und weil man die Resultate nach einem größeren Zeitraum besser einschätzen konnte. Auch entschloß man sich, am Ende jedes Halbjahrs einen „Modell-Arbeiter“ zu definieren und eine Punkteskala aufzustellen, wobei man alle anderen Bauern an diesem Modell maß. Auch die Spanne zwischen den Einkommen mußte verringert werden: gegenwärtig übersteigt sie nicht den Faktor 2,2.

Nach dieser Reform änderten sich die Beziehungen innerhalb der Brigade schnell, weil jeder das Gefühl hatte, daß seine Bemühungen entsprechend anerkannt wurden. Überdies konnte die Brigade bessere Resultate erzielen, besser die Bedürfnisse ihrer Mitglieder befriedigen und mehr in ihre Ausrüstung investieren, was wiederum eine Steigerung der Produktion und eine Erhöhung der Einkommen ermöglichte. 1963 wurde Tachai von einer großen Überschwemmung heimgesucht, aber die Brigade verfügte bereits über Vorräte an Getreide und war imstande, allein mit dieser Naturkatastrophe fertig zu werden.

„Der Staat bot uns viermal seine Hilfe an, und wir haben viermal abgelehnt. Wir machten uns an die Arbeit, und die Familien verzichteten fast einstimmig auf ihr privates Stück Land (nur zwei Familien stimmten dagegen), um sich besser der Wiederherstellung unserer Terrassen und dem Aufbau der Steinhäuser widmen zu können. 1964 ernteten wir schon 802 Dschins Getreide pro Mu, das Doppelte der Norm in unserem Gebiet (das Dschin entspricht ungefähr einem halben Kilogramm; das Mu entspricht 1/15 Hektar). Damals hat der Vorsitzende Mao uns die rote Fahne zuerkannt und die Losung ausgegeben, ‚Sich vom Beispiel Tachai anregen lassen‘“, schloß Tschen Yungkuei stolz.

V. Kurs auf die Kommunen

Die Geschichte des Tschen Yung-kuei ist damit nicht zu Ende. Er behauptet, daß Liu Schao-tschi und sein Hauptquartier nicht wollten, daß die „proletarischen Kriterien“ der Brigade in anderen Kommunen angewandt werden. Sie wollten nicht offen die Entscheidung Maos anfechten, aber sie taten alles, damit sie wirkungslos blieb. Die Frau Liu Schao-tschis, Wang Kuang-mei, pries die Resultate der Brigade von Tao-yuan, im Distrikt Tang-schan in der Provinz Hopei; sie wollte damit zeigen, daß gute Ernten nichts zu tun haben mit dem System des Rechnungswesens. Überdies wurden rasch Prüfungskommissionen nach Tachai entsandt, um zu beweisen, daß die Bilanz von Tschen Yung-kuei frisiert worden war, um dem Vorsitzenden Mao zu gefallen.

Diese Überprüfungen führten zwar zu nichts, aber Tachai blieb isoliert; seinem Beispiel folgte nicht einmal das Dorf, mit dem es zur Zeit der Kooperation verbunden gewesen war.

Erst in der Kulturrevolution konnte diese „Einkreisung“ durchbrochen werden. Tschen Yung-kuei wurde Vizepräsident des Revolutionskomitees der Provinz Schansi, Präsident des Revolutionskomitees des Bezirks Hsi Yang, zu dem seine Kommune und seine Brigade gehört. Die Brigade von Tachai ist eine der 24 Brigaden der Kommune gleichen Namens, die 11.000 Einwohner zählt. (Nach dem Kommune-System von 1959 besteht jede Volkskommune aus mehreren Brigaden, welche praktisch mit Dörfern identisch sind. Der Lokalverband „Kommune“ mußte nach der Zurücknahme des ersten Großen Sprungs 1960 die meisten Funktionen wieder an die Brigaden abgeben und behielt nur gewisse zentrale Versorgungseinrichtungen sowie regionale Investitionsvorhaben. — Anm.d.Ü.)

In den Kommunen der anderen Provinzen konnte ich feststellen, daß die privaten Äcker immer noch bestehen und die Buchführung nach dem Punktesystem geschieht. Tschen Yung-kuei leugnet diese Tatsache nicht, aber er stimmt meinen Schlußfolgerungen nicht zu. Vor der Kulturrevolution wurde das Punktesystem als gerecht und für die lange Zeit des Aufbaus des Sozialismus als notwendig angesehen; die Partei weiß aber jetzt, daß dem nicht so ist. Diese Änderung der Linie sei von nationaler Bedeutung. Andererseits kann die Partei aber nicht von einem Tag zum andern ihre Entscheidungen den Volkskommunen aufzwingen. Einzelne Kommunen haben sich mit einfacher Mehrheit für die Methoden von Tachai ausgesprochen. Trotzdem glaubte die Partei, daß man warten und sich einen größeren Anschluß von der Basis her sichern müsse. Deshalb übrigens die vielen Besichtigungen von Tachai.

Tschen Yung-kuei ist sicher, daß diese neue Schlacht im „Klassenkampf auf dem Lande“ gewonnen wird und daß die Gefahren einer Rückkehr zum Kapitalismus in China ausgeschaltet sind. Dennoch triumphiert er nicht. Er sieht schon andere Schwierigkeiten voraus, beginnend mit der Überführung der Produktionsmittel und des Rechnungswesens der Brigaden an die Kommunen. „Meiner Meinung nach sollte dies im eben beginnenden Fünfjahrplan geschehen“, schließt er.

Während der folgenden fünf Tage fuhr ich durch den Distrikt Hsi Yang, der „ein Distrikt nach der Art von Tachai“ ist. Man zeigte mir zunächst eindrucksvolle hydraulische Arbeiten: Dämme entlang der Flüsse, Wasserreservoirs, Bewässerungskanäle, die an bestimmten Orten durch Tunnel Gebirge kreuzen, oder Aquädukte bis zu 28 Meter Höhe. Ich besichtigte auch eine kleine Fabrik, die seit Dezember 1968 zwölf Tonnen Kunstdünger pro Jahr erzeugt, und den staatlichen Bauernhof Tschi Tu, der auf 100 Hektar Land, das einem feindlichen Fluß entrissen wurde, ausgewählte Saaten für alle Brigaden der Umgebung kultiviert.

Was bei diesen Besichtigungen überrascht, ist gerade das Insistieren auf dem niedrigen Selbstkostenpreis bei dem jeweiligen Projekt. Handle es sich nun um einen kleinen Schweinestall oder um eine große Reparaturwerkstatt für landwirtschaftliche Maschinen — man zeigt immer eine Bilanz, welche die Rentabilität des Unternehmens aufweist. Meist hebt man auch hervor, daß alles ohne die Hilfe des Staates zustandekam, „indem wir uns auf unsere eigenen Mittel stützten“, und daß die Sache der Kommune und allen ihren Mitgliedern bereits Gewinn brachte. Durch diese Erklärungen gewinnt man den Eindruck, daß die Chinesen nichts so sehr erschreckt als Schulden zu haben, und sei es beim Staat.

Der erwähnte „Modell-Arbeiter“ ist in den Dörfern nicht der produktivste Bauer, sondern der gewissenhafte Mann, der zurückgeht, wenn er nicht sicher ist, seine Aufgabe gut erfüllt zu haben, die Frau, die täglich aufs Feld geht, wenn sie auch mehrere Kinder hat, oder der Alte, der daheim hätte bleiben können und sich seiner „Fünf Garantien“ erfreuen, der es aber vorzieht, seiner Brigade zu helfen. Bei all diesen Modellen wird die freiwillig geleistete Arbeit gelobt und nicht nur das Produkt der Arbeit, dessen Wert durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage bestimmt würde.

VI. Klassenkampf im chinesischen Ruhrgebiet

Wenn man direkt vom ländlichen Bezirk Hsi Yang in die Industrieprovinz Liao-ning kommt, bemerkt man sofort die regionale Unausgeglichenheit, die China aus seiner Vergangenheit geerbt hat. Es besteht ein schlagender Kontrast zwischen den noch primitiven Dörfern des Nordwestens und den Großstädten im Nordosten (der alten Mandschurei), wie Schenyang und seinem stahlerzeugenden Ableger Anschan; dies läßt die außergewöhnliche Schwierigkeit hervortreten, ein so widersprüchliches Land zu integrieren und gleiche Lebensbedingungen auf nationaler Ebene zu schaffen.

Die Provinz Liao-ning ist die einzige in China mit überwiegend städtischer Bevölkerung. In gewissem Sinn ist sie das chinesische Ruhrgebiet, ein Land des Stahls, des Eisens und der Kohle, Hauptort der Schwerindustrie. Allein das metallurgische Kombinat von Aschan, mit seinen 50 integrierten Fabriken und seinen 150.000 Arbeitern beweist, daß man dort schon im industriellen Zeitalter lebt. Kann man hier dieselben Methoden der Geschäftsführung anwenden wie in Tachai oder in den industriellen Unternehmungen, die überall auf dem Lande verstreut sind? Riskieren die Chinesen nicht eine Vergrößerung der Entwicklungsunterschiede in den verschiedenen Teilen des Landes, wenn sie jedes Gebiet, jede Provinz und jeden Distrikt auffordern, „auf die eigenen Kräfte zu bauen“?

Diese Fragen sind im Nordosten noch akuter als in den hypertrophen Städten Peking oder Schanghai. Dieses rohstoffreiche Gebiet könnte sich schneller entwickeln und der chinesischen Gesellschaft als Lokomotive dienen. Das war auch die Hauptidee des ersten Fünfjahrplanes (1953-1958), der sich auf die Hilfe der Sowjetunion stützte und auf den absoluten Vorrang der Schwerindustrie setzte. Diese Strategie wurde nach der überstürzten Abreise der sowjetischen Techniker im Jahre 1960 ein für allemal aufgegeben. Schon während meiner letzten Reise 1965 hat man mir bis zum Überdruß erklärt, daß sich ein Land nicht harmonisch entwickeln kann, wenn es einen Sektor zum Schaden des anderen forçiert.

Nach der neuen Linie soll jede Region ihre eigenen Rohstoffe und Ressourcen aufs beste nützen, um zum gemeinsamen Pool beizusteuern, den die Planifikateure anschließend zugunsten der Zurückgebliebenen verwenden, damit nach und nach der Abstand beseitigt wird. Während der Kulturrevolution wurden Lui Schaotschi und sein Hauptquartier beschuldigt, diese „proletarische Doktrin“ sabotiert und in der Praxis die frühere bourgeoise Sowjetdoktrin angewandt zu haben. Im Nordosten scheint das Mißtrauen gegen diese Politik am größten gewesen zu sein und der Sieg der „Linie des Genossen Mao“ zu den genannten Änderungen geführt zu haben.

Die große Seltenheit von Besuchern in diesem Gebiet erzeugt eine besondere Neugierde der Chinesen gegenüber ausländischen Besuchern, was sich in einem besonders herzlichen Empfang ausdrückt. In Schenyang und Anschan nahmen sich die Revolutionskomitees vollzählig Zeit, ihre Gäste zu empfangen, und antworteten eifrig auf alle Fragen, selbst die heikelsten. „1967 hat sich in anderen Gebieten die Arbeiterklasse in zwei rivalisierende Organisationen gespalten; bei uns gab’s drei“, sagte mir Tung Hsi-wen, einer der Verantwortlichen der Provinz Liao-ning, beinahe stolz. „Wir hatten unglaubliche Schwierigkeiten, die Einheit wiederzufinden und dieses Durcheinander zu überwinden“, fügte Schen Wen-schang hinzu, ein 44jähriger Soldat, Veteran des Koreakrieges und gegenwärtig Vizepräsident des Revolutionskomitees von Anschan.

Um zu beweisen, daß es sich tatsächlich um eine Wiedervereinigung und nicht um den Sieg einer einzigen Gruppe handelt, erzählten mir die früheren Verantwortlichen der „Liao Ko Chan“, des „aufständischen Viertels vom 31. August“, und der „Liao Lien“ Erinnerungen an ihre Dreieckschlacht und wiederholten originalgetreu jene Beleidigungen, die sie damals untereinander ausgetauscht hatten.

Bei den Besichtigungen hatten, diesmal im Gegensatz zu 1965, die kleinen Fabriken Priorität, die fast handwerklich arbeiten, sowie Unternehmungen der Leichtindustrie, die es früher nicht gab. Erst nachdem man mir gezeigt hatte, daß Schenyang „auf seinen eigenen Beinen geht“, ohne sich auf Importe aus anderen Provinzen zu stützen, wurden wir in die Riesenanlagen der Werkzeugmaschinenfabrik geführt.

VII. Mao schafft das Leistungsprinzip ab

Während der Kulturrevolution veröffentlichte die chinesische Presse lange Auszüge eines Textes von Mao vom 22. März 1960 mit dem Titel „Charta des metallurgischen Kombinats Anschan, im Gegensatz zur Charta des metallurgischen Kombinats Magnitogorsk“. Mao definiert die fünf Prinzipien der Basis Anschan: die Politik an die Kommandostelle setzen; sich auf eine große Massenbewegung stützen; die zwei Beteiligungen anwenden (nämlich die der Arbeiter an der Leitung und die der Kader an der manuellen Arbeit); unvernünftige und überflüssige Vorschriften beseitigen; eine technische Revolution machen mit Hilfe der Verbindung der „Drei in Einem“ (Arbeiterklasse, Kader, revolutionäre Techniker). Dann erinnert er an die fünf Prinzipien von Magnitogorsk — als negatives Beispiel: Verwaltung durch eine Person; Kontrolle der Fabrik durch Techniker; Priorität der Produktion gegenüber der Politik; materielle Anreize für die Arbeiter; Streben nach Profit um jeden Preis.

Bemerkenswert ist, daß dieser Text 1960 redigiert wurde, zur Zeit der „großen Kalamität“, als selbst die leitenden Kreise in China geneigt schienen, auf materielle Anreize zurückzugreifen, um das Anlaufen der Produktion in Industrie und Landwirtschaft zu erleichtern. Überdies datiert er vier Monate vor Abreise der sowjetischen Techniker und lange vor dem Ausbruch der öffentlichen Polemiken zwischen China und der UdSSR. Das metallurgische Kombinat von Magnitogorsk war das Glanzstück des ersten sowjetischen Fünfjahrplans; Mao hat also Stalins Gedanken über die Verwaltung der Unternehmungen explizit abgelehnt und ihm die Vaterschaft jenes „kapitalistischen Weges“ zugeschrieben, den die sowjetische Wirtschaft gegenwärtig einschlägt.

Trotz der fundamentalen Bedeutung dieser Schrift erwähnte sie 1965 mir gegenüber niemand in Anschan. Seltsam. Selbst heuer konnte ich den vollständigen Text nicht in die Hand bekommen. Der 22. März, der Jahrestag der Abfassung der „Charta“, wird in Anschan und in allen chinesischen Industriezentren gefeiert. Bis zur Kulturrevolution, so sagte man mir, haben Liu Schao-tschi und seine Helfershelfer „die UdSSR als ihren Meister betrachtet und Magnitogorsk als ihr Modell“.

Die Basis hat den Kadern damals eine harte Lehre erteilt, indem sie ihnen bewies, daß sie „von den Massen getrennt waren, von der Realität und von der Praxis“. Diese „Drei Scheidungen“ waren durch eine hierarchische Verwaltung begünstigt worden, welche die schlechten Gewohnheiten und „dunkle Neigungen“ anspornte. Die Kader sahen ihre Fehler ein, erhoben sich gegen den kapitalistischen Weg und wurden in das Revolutionskomitee gewählt.

VIII. Die Arbeiter erteilen den Kadern eine Lehre

Der alte Stahlarbeiter Hsiao Schia-yun lacht:

Die Politik soll an der Kommandostelle gewesen sein? Was für ein Schwindel! Die alte Direktion wandte nicht weniger als 28 verschiedene Methoden an, um die Arbeiterklasse zu korrumpieren und zu spalten. Damit die Fabrik funktionierte, stützte man sich auf Geldversprechungen, auf Prämien und auf die Aufstiegsmöglichkeiten zwischen den Arbeiterkategorien.

Manuelle Arbeit der Kader? Daß ich nicht lache. Nachdem sie in der Werkstatt erschienen waren, um sich zu zeigen, kehrten sie schnell in ihr Büro zurück zu irgendeiner Sitzung. Sie kamen uns vor wie Ziegen, die bald hier, bald dort weiden. Welchen Kontakt konnten sie mit den Massen haben, wenn sie in einem Haufen Papier lebten und sich nur von Technikern unterrichten ließen? Wir haben ihnen in der Kulturrevolution die vier Wahrheiten gesagt.

In jeder Fabrik des Kombinats von Anschan gibt es von nun an ein Revolutionskomitee der „Dreifachen Allianz“ (Vertreter der Basis, der Kader, des Militärs), geteilt in drei Gruppen, die abwechselnd manuelle Arbeit nach dem System der „Vier Bestimmten“ leisten (bestimmte Werkstatt, bestimmte Zeit, bestimmte Quantität und Qualität der Arbeit). Alle Prämien wurden abgeschafft und die beruflichen Kategorien vereinfacht. Die Auffächerung der Löhne wurde reduziert (Untergrenze 40, Obergrenze 110 Yüan). In der Entlohnung berücksichtigt man vor allem politische Kriterien, das heißt die Einstellung zur Gemeinschaft und die Fähigkeit, die Gedanken des Vorsitzenden Mao in schöpferischer Weise anzuwenden.

Meine Gastgeber pflegten eine bescheidene, ja pessimistische Haltung einzunehmen. Dieses Kombinat, sagten sie, ist zu kompliziert, zu verletzlich, in Zukunft darf man nicht mehr riesige Einheiten wie Anschan errichten.

Unter dem alten System hat man mit den Gewerkschaften schlechte Erfahrungen gemacht. Die Gewerkschaftsbürokratie wurde während der Kulturrevolution heftig angegriffen. Daher hütet man sich vor neuen Bürokratien. Anderseits kann man nicht auf Kontrollorganismen für die Revolutionskomitees verzichten, sollen diese nicht Gefahr laufen, den „Vier Krankheiten“ zu unterliegen (Bürokratismus, Arroganz, Betrügerei und Passivität).

Europäische Stahlkaufleute haben auf der Messe von Kanton eine Erhöhung der Diversifikation des chinesischen Stahls konstatiert. Meine Gastgeber haben mir das bestätigt. Man sagte mir, daß in Anschan mehr als 2000 Verbesserungen gemacht wurden, von denen 200 sehr wichtig sind — vor allem auf Grund von Vorschlägen der Arbeiter. Anschan ist weiterhin der Hauptlieferant von Stahl in China.

„Wir streben keineswegs Autarkie an“, sagte mir der Vizepräsident von Anschan, „aber wir müssen vor allem unseren sozialistischen Weg verteidigen. Wir dürfen vom Ausland einzig diejenigen Techniken übernehmen, die unserem besonderen Ziel dienen.

Beim Abschiedsessen galt sein letzter Toast den künftigen, seiner Meinung nach unausbleiblichen Kulturrevolutionen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1971
, Seite 8
Autor/inn/en:

Michael Siegert:

Geboren am 12. Oktober 1939 in Reichenberg (Liberec), gestorben am 23. Oktober 2013 in Wien; studierte längere Zeit Naturwissenschaften und Geschichte an der Universität Wien; 1963 Vorsitzender der Vereinigung demokratischer Studenten; später Mitarbeiter der sozialistischen Studentenorganisation; war von 1973 bis 1982 Blattmacher des FORVM.

K. S. Karol:

Foto: Par Jac. de Nijs / Anefo — Nationaal Archief, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=34746528
Zu Polen gebürtig, in der Sowjetunion zur Schule und Hochschule gegangen, lebt als Journalist in Paris, soweit er nicht auf Reisen ist. Zwischen 1961 und 1968 ausgedehnte Aufenthalte auf Kuba, Gespräche mit Castro und Guevara, 1965 in China. Bücher u. a.: „La Chine de Mao“ (1966), „ Les Guerilleros au pouvoir“ ’ (1970). Mitarbeiter von „Le Monde", „Nouvel Observateur“, „Neues Forum“ („Die Sowjetunion wird immer kapitalistischer“ I und II, NF Dezember 1970 und Jän./Feb. 1971; „Kuba — Zucker mittels Militarisierung“, NF Juni/Juli 1970; „Über Castro“, NF Anf. Sept. 1970).

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