FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1970 » No. 198/II/199
Gerhard Kornat

Kuba: Kulturrevolution mittels Zucker

In Lateinamerika wurde der Begriff „Revolution“ gründlich verschlissen; selbst die Generale in Argentinien und Brasilien wollen nicht als Konservative gelten, sondern meldeten die „Konservative Revolution“ an. Echte sozialrevolutionäre Ansätze, vor allem in Mexiko und Bolivien, versandeten, weil man sich hauptsächlich um ökonomische Strukturumwälzung bemühte, aber die Revolution in den Köpfen unterließ. Die Folgen solcher Unterlassung zeigten sich außerhalb der südlichen Hemisphäre an einigen düsteren historischen Kapiteln, die mit der Chiffre Stalinismus präzise genug umrissen sind.

Ohne Zweifel bemüht sich China, diese Fallgruben durch die Kulturrevolution zu vermeiden. Ein noch verblüffenderes Experiment spielt sich in Kuba ab. Auf der Zuckerinsel wurden bereits mehrere massive Erziehungskampagnen versucht, um zum radikalen Sozialismus mittels „Revolution in den Köpfen der einzelnen“ zu gelangen. Der diesjährigen Zuckerernte mit dem phantastischen Produktionsziel von zehn Millionen Tonnen — das Doppelte der Ernte von 1969 — fällt die Aufgabe zu, den Rahmen für eine eigenständige „kubanische Kulturrevolution“ zu schaffen. Die Diskussion um materielle oder moralische Anreize (incentivos materiales — incentivos morales) nimmt dabei eine zentrale Stellung ein.

Fidel Castro wird deswegen wieder — gerade von orthodoxen kommunistischen Parteizentren — als „Abenteurer“ denunziert. Aber schließlich stellt seine Geschichte ein ununterbrochenes Abenteuer dar. Es begann 1953 mit dem Sturm auf die Moncada-Kasernen in Santiago. Das Kommandounternehmen ging schief; einige starben im Gefecht, andere kamen im Gefängnis um. Fidel überlebte dank glücklicher Umstände, wurde amnestiert, zog nach Mexiko ins Exil und bereitete unverzüglich den nächsten Abenteuerstreich vor. 1957 setzte er mit der kaum seetüchtigen Jacht „Granma“ und rund achtzig Anhängern von Mexiko nach Kuba über.

Die Invasion sollte mit Streiks und Demonstrationen in den kubanischen Städten kombiniert werden. Aber die „Granma“ legte zu spät auf der Insel an: die Demonstrationen waren bereits niedergeknüppelt. Fidels Gruppe stieß am dritten Tag nach der Landung mit Soldaten des Diktators Batista zusammen. Nur ein knappes Dutzend konnte sich in die Berge durchschlagen. Es entwickelte sich jenes Abenteuer, das in zwei Jahren zum unglaublichen Erfolg führte: Batista flüchtete; die „Barbudos“ zogen in den ersten Jännertagen 1959 triumphierend in La Habana ein. Die revolutionäre Umgestaltung begann.

Zwecks „Revolution in den Köpfen der einzelnen“ unternahm man eine Reihe von wirtschaftlichen und ideologischen Experimenten mit einem kaum mehr zu überbietenden Grad an Radikalität, woraus der Anspruch erwuchs, vor der Sowjetunion das Endstadium des Kommunismus zu erreichen. Die These von der Überlegenheit moralischer Anreize gegenüber Profitdenken und materiellen Anreizen spielte dabei eine wesentliche Rolle.

Nach marxistisch-leninistischer Theorie soll die sozialistische Durchgangsphase vom Kapitalismus zum Kommunismus mittels Massenerziehung und Umstrukturierung von Produktionsmitteln gemeistert werden; dabei geht es unter anderem um den allmählichen Ersatz materieller Belohnungen wie Löhne und Profite durch sogenannte soziale oder moralische Anreize. In der Sowjetunion wurde damit in der Phase des „Kriegskommunismus“ (1918 bis 1920) experimentiert, als Trotzki in den Fabriken Kommunen aufzubauen suchte. Die Liberman-Theorie, von Premier Kossygin Ende 1965 offiziell sanktioniert, stellt die bemerkenswerteste Abweichung in Richtung Profitdenken dar. Die chinesischen Kommuneexperimente vor und während der Kulturrevolution würden jener These von den moralischen Anreizen entsprechen, gestatten jedoch kaum schon Schlüsse auf die Effizienz dieses Modells.

In Kuba setzte die Diskussion hierüber nach der „romantischen Phase“ der Revolution ein. Spätestens 1963 waren die ursprünglich vorhandenen, später akkumulierten oder appropriierten Reserven verbraucht, die forçierte Industrialisierung brach zusammen, die Landwirtschaft verkümmerte. Fidel Castro erteilte der kubanischen Ökonomie neue Direktiven: zurück zum Zuckerrohr, mit gleichzeitigen Schwerpunkten auf Viehzucht, Milchwirtschaft, Fischerei und Nickelproduktion! Würden sich diese Ziele mit traditionellen Profitmotiven erreichen lassen?

Die kubanischen Altkommunisten (Blas Roca, Lázaro Pefia, Anibal Escalante, Carlos Rafael Rodriguez), einige von Fidels Revolutionären (zum Beispiel Außenhandelsminister Alberto Mora) sowie die meisten ausländischen, sozialistisch orientierten Berater unter der Wortführung des Franzosen Charles Bettelheim verfochten eine adaptierte „sowjetische Linie“ im Sinne der materiellen Anreize. In der Monatszeitschrift „Cuba Socialista“, damals unter Kontrolle der Altkommunisten, vertrat auch Ota Sik (Prag) diese These. Ihre teilweise Verwirklichung führte zu einer nach Schwierigkeit der Arbeit und nach Leistung gestaffelten Lohnskala des Arbeitsministeriums. Vorgesehen waren folgende acht Stufen (1965, Pesos pro Monat):

LohnstufenBäuerliche ArbeiterAngestellte, ArbeiterTechniker, Führungspersonal
1 64 85 303
2 72 99 351
8 83 115 408
4 97 134 478
5 112 157 560
6 131 185 660
7 154 218 778
8 264 938
Vgl. Jacques Vallier, „L’économie cubaine: quelques problèmes essentiels de son fonctionnement“, „Les Temps Modernes“, März 1968.

Die Entscheidung für materielle Anreize ließ die Gruppe um Ernesto Guevara argumentieren, die Gegensätze in der kubanischen Bevölkerung würden damit nicht ausgeglichen, sondern eher verstärkt. Ein oppositioneller ideologischer Nukleus bildete sich; die „Guevaristen“ wollten materielle Anreize auf einen sekundären Platz verweisen und dafür die revolutionäre Gesinnung hervorstreichen. Als Sprachrohr diente ihnen die Zeitschrift „Nuestra Industria“. Neben Che Guevara und den „Guevaristen“ meldeten sich dort die nordamerikanischen Neomarxisten Huberman und Sweezy sowie der belgische Marxist Ernest Mandel zu Wort.

Für Guevara war die Guerilla eine Art klassenlose Gesellschaft; als Puritaner der Revolution wollte er den „neuen sozialistischen Menschen“, der sich nicht mit Pesos und Profiten, sondern allein durch heroische Anstrengungen schaffen lasse. Die „Guevara-Linie“ betonte die Staatsfinanzierung der Unternehmungen, administrative Zentralisierung, freiwilligen, unbezahlten Arbeitseinsatz und moralische Anreize wie die Verleihung von Fahnen, Wimpeln, Diplomen, Medaillen, Titeln (vom „Nationalen Arbeitshelden“ bis hinunter zum „Faulpelz“). Ebenso sollten allmählich die Löhne — nach oben hin — angeglichen werden. Geld würde jedoch überhaupt seine Bedeutung verlieren, denn der revolutionäre Staat sollte in einer späteren Phase Wohnung, Fürsorge, Versicherung, Erziehung, Sport, Vergnügen, Kultur usw. umsonst liefern.

Che Guevara benützte seine Reise durch Afrika und Asien (1965) zur Propagierung seiner Thesen auch im Ausland! Damals schon verdammte er den „ökonomischen Revisionismus“ Jugoslawiens und der Tschechoslowakei.

Fidel Castros Position in dieser Kontroverse blieb vorerst undefiniert. In einem Interview mit „Nouvelle Critique“ erklärte er, man müsse zwischen materiellen und moralischen Anreizen eine Balance finden. Die Verschärfung des chinesisch-sowjetischen Konflikts zwang ihn zum Manövrieren zwischen den beiden Parteien. Die kubanische Ökonomie blieb hinter den Zielen des Vierjahrplans zurück. Trotz erhöhter materieller Anreize fiel die Zuckerernte 1966 enttäuschend aus (unter fünf Millionen Tonnen). Experimente mit moralischen Anreizen führten wiederum zu beißenden Kritiken der tschechischen Berater. In Prag, wo soeben die Liberalisierungsperiode eingeleitet wurde, zeigte man wenig Interesse, im Fall des Fehlschlagens der Guevara-Linie zusätzliche Kosten aufgebürdet zu bekommen.

Fidel Castro entschied sich schließlich. Überraschenderweise bekehrte sich der „Pragmatiker“ (als solcher war er zumindest stets definiert worden) zur ideologischen Position. Administrative Umbesetzungen kündigten den Kurswechsel an. Ende September 1966 teilte Fidel den Kubanern in seiner Rede vor den Verteidigungskomitees mit: Kuba würde mit einer Dollarmentalität nie sozialistisches und kommunistisches Bewußtsein entwickeln; wer materielle Anreize verteidige, sei Konterrevolutionär. Es folgten alle klassischen Argumente der Guevara-Linie.

Fidel hatte damit seine Position geklärt. Die Bürokratie beeilte sich, es ihm gleichzutun. 1967 wurden die materiellen Anreize abgebaut. Die Arbeiter auf den Staatsfarmen mußten ihre privaten Parzellen aufgeben (Grundlage eines blühenden Schwarzhandels mit Lebensmitteln).

Anfang 1968 traf die Altkommunisten als Verfechter der „sowjetischen Linie“ der Bann: 40 von ihnen wurden wegen „mikrofraktionistischer Tätigkeit“ zu Strafkolonie von 2 bis 15 Jahren verurteilt. Im März und April 1968 wurden 56.280 Familienbetriebe und Privatunternehmen konfisziert. Bei der Zuckerernte 1968 gab es keine anspornenden Preise mehr. Der neue puritanische Lebensstil erhielt mit der Rationierung von Alkohol und der Schließung der Bartheken eine besondere Note.

In der Rede vom 26. Juli 1969 definierte Fidel Castro seinen Standpunkt im Sinn der moralischen Anreize am entschiedensten: Kuba habe das Recht, die marxistisch-leninistische Doktrin auf seine Weise zu interpretieren; kommunistisches Bewußtsein gleichzeitig mit der Neuorganisierung der Produktivkräfte hervorzubringen, sei ein durchaus orthodoxer Versuch. Dabei schwingt der Anspruch mit, Kuba würde in die kommunistische Phase vor der Sowjetunion eintreten.

Die große Bewährungsprobe der moralischen Incentive findet soeben statt: Mit Profitdenken und Belohnungen konnten nur gegen fünf Millionen Tonnen Zucker pro Jahr erzielt werden. Mit freiwilligem, unbezahltem Arbeitseinsatz sollen 1970 zehn Millionen Tonnen möglich werden. Kuba befindet sich in einer fiestaähnlichen allgemeinen Mobilisierung, um die Zahl zu garantieren.

Die Frage, was mit den zehn Millionen geschehen soll, ist irrelevant (der Absatz ist sowieso gesichert): Fidel Castro denkt bei der Kulturrevolution nicht an die Zahlungsbilanz, sondern an die „Revolution in den Köpfen der einzelnen“. Der gigantische Arbeitseinsatz soll den „sozialistischen Menschen“ hervorbringen; nur wenn „neues Bewußtsein“ gezeugt wird, kann die Revolution ohne Verfälschung weitergeführt werden. Gelingt dies nicht, wird alles fragwürdig.

Aus dieser Perspektive ist der Satz der beiden nordamerikanischen Marxisten Sweezy und Huberman — letzterer ist inzwischen verstorben — zu verstehen: „If the economy does not work, if there are still quite a few years of austerity ahead, then there is a grave danger that the ties between people and goverment will continue to erode and that the diabolic logic of the process will lead the goverment deeper and deeper into the ways of repression.“

Sweezy-Huberman schreiben dies in ihrem Aufsatz „Socialism in Cuba“, „Monthly Review Press“, 1969. Demgegenüber hatte das erste Kubabuch der beiden Autoren, „Anatomy of a Revolution“ (1960), die Revolution noch dithyrambisch besungen. Deswegen kommt dem oben zitierten Satz besondere Bedeutung zu.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
1970
, Seite 731
Autor/inn/en:

Gerhard Kornat:

Foto: Von Edith Darnhofer / Edith Darnhofer, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=49421127
Gerhard Kornat lehrte an der Anden-Universität, Bogotá‚ war Korrespondent der „Presse“, lebt nun wieder in seiner Heimatstadt Wien.

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