Die Fotografie leitete das Zeitalter des objektiven Blicks ein. Von ihr erhoffte man sich ein neutrales Betrachten von Objekten. Diese Schärfung des Sehens brachte eine neue Form der Repräsentation mit sich und löste die bis dahin vorherrschende Repräsentation durch das Bild und die Plastik ab. „Die Dinge entwickelten sich so schnell, daß schon um 1840 die meisten unter den zahllosen Miniaturmalern Berufsphotographen wurden“ (Benjamin 1996, 53). Der Blick durch das Objektiv verändert unsere Wahrnehmung, im besonderen auch die Wahrnehmung des Krieges. Beginnen wir mit der Frage: Was macht ein Fotograf im Krieg? Er hält einzelne Bewegungen und Bewegungsabläufe fest. Die Aufnahmen haben vielfach eine Vorher-Nachher-Funktion. So zeigen sie beispielsweise die Situation vor, während und nach der Schlacht. Ereignisse werden aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen. Der Fotograf muß bei seiner Arbeit technische Details berücksichtigen, die Einstellungen des Apparates auf die Lichtverhältnisse und die Entfernung zum Objekt berechnen sowie Format und Bildausschnitt bestimmen. Kämpfe, Massaker, Leid, Tod, Sterben nimmt er durch das Objektiv der Kamera vor seinem Auge wahr, während das zweite Auge geschlossen bleibt. Realität wird so als eine Abfolge von Bildern wahrgenommen. Diese besondere Erlebnisweise bedeutet eine erhebliche Distanzierung von dem eigentlichen Geschehen und eine Reduktion der sinnlichen und affektiven Wirkung, die von ihm ausgehen. Die Isolierung und Technisierung des Augensinns hat eine versachlichte Wahrnehmung zur Folge, die das Gesehene nicht in die seelische Vorstellungswelt des Fotografen eindringen läßt. Der Fotoapparat neutralisiert die Einbildungskraft, er läßt mit „kaltem Auge“ sehen (vgl. Reifarth/Schmidt-Linsenhoff 1995, 493 ff.).
Der Historiker Bernd Hüppauf geht davon aus, daß die Kriegsfotografie seit dem Ersten Weltkrieg die neue Disproportionalität zwischen Mensch und Destruktionsapparat, dem einzelnen Soldaten und dem unübersehbaren Raum der Front, dokumentiert. Er setzt sich mit der fotografischen Repräsentation von Gewalt im Zweiten Weltkrieg auseinander und fragt nach deren Funktion. Zentral ist für ihn der durch die Fotografie geäußerte Wunsch nach Dokumentation, der Glaube an die Kraft des Bildes als Bild. Gegenüber der Unsicherheit des eigenen Ichs angesichts der Erfahrung der Totalität des Krieges und der Gewalt, wird versucht, eine objektive Sicherheit zu setzen (vgl. Hüppauf 1995, 506 ff.). Die Fotos des Weltkrieges lassen eine spezifische Entleerung erkennen, einen entleerten Blick, wie Hüppauf es nennt: Die Fotos, die Verbrechen an der Zivilbevölkerung oder industrielle Vernichtung festhalten, sind aus einer Perspektive der Entsubjektivierung aufgenommen worden. Dabei ist das Auge vom Ich des Fotografen losgelöst, sein Blick stammt aus dem zeit- und raumlosen Nirgendwo. Dieser Blick aus dem Nirgendwo läßt sich als äußerste Steigerung im Prozeß der Rationalisierung des Blicks verstehen und kann nur dann funktionieren, wenn wir es mit einem entleerten Ich zu tun haben. Das Foto kann demnach als Versuch gewertet werden, seine eigene bedrohte Identität zu sichern: „Vor den Szenen der unglaublichen Gewaltsamkeit suggeriert der entleiblichte Blick aus dem Nirgendwo eine Macht, nicht über das Geschehen vor dem Objektiv, sondern über die gefährdete Identität des Ichs hinter dem Sucher. Solange eine Wirklichkeit, die alles Erwartete und bis dahin Gesehene sprengt, die alle Ideale von Humanität und alle Bilder vom Menschen widerlegt, dem organisierenden Blick aus der interesselosen Maschine Fotoapparat unterstellt werden kann, scheint das Ich von diesem Anblick nicht unmittelbar betroffen zu sein und kann sich der Hoffnung hingeben, über die Zeit hinweg seine eigene Konsistenz zu bewahren“ (Hüppauf 1995, 514).
Die ich-stabilisierende Trennung beruht demnach auf einem beobachtenden Subjekt und einem beobachteten Objekt. Durch die Kamera hofft man eine Welt festhalten zu können, zu der der Fotograf nicht gehört, und zu der ihm die Kamera auf Distanz hält. Man hofft, dem eigenen Ich einen Raum zu erhalten, der von der totalen Zerstörung unbeschädigt bleibt. Das Fotografieren ist in diesem Zusammenhang als ein Akt der Auflehnung gegen die Entsubjektivierung, die die beiden Weltkriege sichtbar machten, zu begreifen. Daß der Fotograf sich im Verhältnis zu dem/der Betrachteten in einer privilegierten Machtposition befindet, liegt auf der Hand — dies um so mehr in einer Zeit, in der Macht und Machtlosigkeit bis ins Absolute gesteigert wurden. Fotos, die im Zusammenhang mit der Gewalt im Zweiten Weltkrieg stehen, können folglich nicht mit Kategorien wie „böser“ oder „verständnisvoller“ Blick beschrieben werden, da sie, so Hüppauf, einen kalten Blick voraussetzen. Das bedeutet, daß die Frage nach der Bedeutung von Bildern aus der NS-Zeit für den Fotografen und für uns BetrachterInnen nicht allein mit dem Verweis auf die mörderische Ideologie des Nationalsozialismus zu beantworten ist. In diesem Sinne ist auch Klaus Theweleits Bemerkung zu verstehen, daß er nicht an „das bloße Festhalten von Wirklichkeit“ durch Fotografie glaube. Genausowenig hält er von Hinweisen der Fotografen, daß es nicht ihre Schuld sei, „wenn da so viel Schreckliches passiere“. Für ihn ist der Fotograf (im weitesten Sinne, denn Fotograf ist in seinem Text im Grunde auch der soldatische Mann) gleich einem Suchscheinwerfer, der von seinem anvisierten Objekt ein Bild entstehen läßt. Dieses Bild kommt einem Polizeifoto gleich, welches den Eindruck vermittelt, daß der/die Abgebildete nicht mehr lange unter den Lebenden weilen würde. (vgl. Theweleit 1995, 223)
Der technisch gerüstete Blick ist aber nicht bloß kalter Blick, der dem Betrachter/der Betrachterin eine Distanzierung und Stabilisierung erlaubt, sondern - wie der Verweis auf Theweleit bereits andeutet — handelt es sich dabei auch um ein „zielendes Auge“, welches jederzeit zum Blitzangriff auf sein Opfer bereit ist. Die Kamera ist im Regelfall männlich besetzt und die Nähe zum Militärischen ist nicht zu übersehen. Der kriegsbegeisterte und gewaltverherrlichende Ernst Jünger etwa beschreibt die Fotografie als Waffe, die das Sehen zu einem Akt des Angriffs umwandelt. Ähnlich wie Hüppauf geht Jünger davon aus, daß die Fotografie aufgrund ihres teleskopischen Charakters ermöglicht, Vorgänge durch ein unempfindliches und unverletzliches Auge zu sehen. „Die Photographie ist als ein Ausdruck der uns eigentümlichen, und zwar einer grausamen, Weise zu sehen. Letzten Endes liegt hier eine Form des bösen Blicks, eine Art von magischer Besitzergreifung vor“ (Jünger 1960, 189). Recht aufschlußreich sind auch die Bezeichnungen für die ersten entwickelten Kameras: 1874 erfand der Franzose Jules Janssen seinen „astronomischen Revolver“, der bereits Reihenaufnahmen ermöglichte. Als Vorbild für seine Entwicklung diente ihm der Trommelrevolver, der ein Vorläufer des Maschinengewehrs war. In Anlehnung an Janssens Entwicklung konstruierte Etienne-Jules Marey die „fotografische Flinte“, auch chronofotografisches Gewehr genannt, die es erlaubte, ein bewegliches Objekt anzuvisieren und aufzunehmen. Der neu entwickelte Fotoapparat hatte zunächst dieselbe Aufgabe wie das Gewehr, das Gewehr wiederum dieselbe wie das Auge: das Zielen. Das Leitmotiv des Panoptikums Sehen ohne gesehen zu werden, wurde auch für die Fotografie bestimmend und führte zur Herausbildung eines voyeuristischen Blicks, eines „heißen Blicks“ sowie zu einer Technik der Selbstvergegenwärtigung und Selbstkontrolle. Dieser voyeuristische männliche Blick stellt ein für die Moderne hegemoniales Modell dar.
Das Modell des Sehens ohne gesehen zu werden wurde von den militärischen Aufklärungsflugzeugen übernommen. Das Sehen wurde zum Fliegen und umgekehrt. Die ursprüngliche Militärluftfahrt bestand nicht im Einsatz von bewaffneten Flugzeugen, diese wurden von den Generalstäben zunächst abgelehnt, sondern in der Luftaufklärung. Interessant ist dabei, daß die Luftfahrt und der Film gegen Ende des 19. Jahrhunderts gleichzeitig in Erscheinung traten. Die Luftaufklärung wurde zur Information der Bodentruppen und zur Aufnahme von Fotos betrieben, die Augen des Flugzeugs, die Kamera, beleuchtete die Orte des Krieges. Die Realität des Krieges ging nun in einer kinematischen Wahrnehmung auf. Das Sehen aus der Luft beschränkte sich nicht mehr auf die Zeit im Flugzeug, sondern konnte durch Foto und Film jederzeit erfolgen. Die Logik der Flugaufklärung lag darin, daß sie selbst unsichtbar (so weit wie möglich), sichtbar machen sollte. Sie entzog sich dem Blick des anderen, um selbst sehen zu können, und ermöglichte so eine neue Lektüre des Schlachtfelds. Auch der Blick aus dem Bunker — ähnlich dem durch die Linse — funktioniert nach diesem Schema: Die Sehschlitze des Bunkers, wie auch das Zusammenkneifen des Lids, reduzieren das Blickfeld auf das Wesentliche, das Ziel. Während des Ersten Weltkrieges wurden die erstmals eingesetzten Jagdbomber mit Repetierfotografie und Repetiergewehr ausgestattet. Fotografie und Gewehr wurden so miteinander verkoppelt, daß Aufklärung und Zerstörung unmittelbar gemeinsam wirkten. Die Kamera wurde so installiert, daß der Pilot bei der Betätigung seiner Waffen gleichzeitig auch die Kamera auslöste. Die Funktion des Auges ging nun in der Funktion der Waffe auf (vgl. Virilio 1994, 35). Die Devise der Artillerie im Ersten Weltkrieg lautete folglich: Was beleuchtet ist, ist entdeckt, ist zerstört. Nachdem der Krieg zu einem Stellungskrieg wurde, übernahm die Luftaufklärung die Aufgaben der überflüssig gewordenen Kavallerie. „Alles änderte sich, so daß die Generalstabskarten, die alten topografischen Vermessungen, hinfällig wurden. Nur die Blende des Objektivs konnte den Film der Ereignisse konservieren, den momentanen Frontverlauf, die Sequenzen eines fortschreitenden Verfalls. Neue Kampfstellungen, Einschläge der Fernfeuerwaffen, der Grad der Zerstörung der Stellungen: allein die Repetierphotographie konnte mit den Waffen Schritt halten“ (ebd., 157).
Das neue Waffenauge läßt also eindeutig eine geschlechtsspezifische Codierung erkennen. Es entlarvt sich als „männlicher“ Blick, als ein lustvoller und/oder verachtender Blick des Betrachters auf das „weiblich“ besetzte Objekt. Die visuelle Lust ist als Produkt einer wissenschaftlichen Vermessung des Körpers, die mit den optischen Geräten des ausgehenden 19. Jahrhunderts möglich wurde, zu begreifen. In diesem Zusammenhang sind die ersten mittels Serienfotografie erzeugten Bewegungsstudien von Eadwaerd Muybridges zu erwähnen. Durch die im technischen Bild neu entstandenen Körper, entwickelte sich auch eine neuartige Lust am Anblick (vgl. Peters 1998, 17 f.). Auch im Kino kommt dieser militärisch-männliche Blick zu tragen. Virilio zufolge nimmt der Krieger den Voyeurismus des Regisseurs/des Zuschauers vorweg. Der obszöne Blick, den der militärische Eroberer auf das vom Krieg verwüstete Gelände wirft, gleicht jenem, den er auf den Körper der ferngerückten Frau wirft. Im Kino gibt es — im Unterschied zum Theater — im Grunde immer nur einen Zuschauer. Denn wenn der Filmstar in die Kamera blickt, blickt er gleichzeitig allen Zuschauern in die Augen, egal wo diese auch sitzen mögen. Das hat zur Folge, daß ein jeder genau so sieht wie die Kamera. Der Zuschauer wird sozusagen zur Kamera, von der es aber nur eine gibt. Er wird aufgrund der Verdunkelung in die Position des Voyeurs und des Angreifers versetzt, er fliegt sozusagen (vgl. Virilio 1994, 39). Die Kamera ist von nun an zwischen dem Menschen und der Welt, sie gibt seine Perspektive vor, die ihre ist.
Fotografie ist also weit mehr als nur ein Zeitdokument oder eine Momentaufnahme aus dem Krieg. Der Funktion als Zeitdokument mit Anspruch auf Authentizität wird sie jedoch, wenn überhaupt, nur dann gerecht, wenn sie ausreichend beschriftet ist. Wie wichtig eine sorgfältige Kontextualisierung von Bildern ist, zeigt etwa die jüngste Kritik an der Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Die Initiatoren der Ausstellung erklärten kürzlich, sie hätten die Macht der Bilder unterschätzt. Zwar hat die Ausstellung den BesucherInnen auch einiges an Textmaterial zu bieten, die Anziehungs- und Aussagekraft geht jedoch eindeutig von den Bildern aus. Das brachte freilich den Vorteil mit sich, daß die Ausstellung so gut besucht war — hätte sie nicht so stark mit Bildern gearbeitet, wäre die BesucherInnenzahl sicherlich weitaus geringer ausgefallen.
Abgesehen davon, daß das Objektiv Kriege noch nie objektiv festgehalten hat, ist Fotografie eben nicht nur in Zeiten des Krieges Teil der „Logistik der Wahrnehmung“ (Virilio) — auch wenn dafür inzwischen Bilder der Echtzeit, der Geschwindigkeit, natürlich weitaus effizienter eingesetzt werden. Im Spiel der Bilderfluten mit der Vorstellungskraft der BetrachterInnen ist kein Ende absehbar, und es scheint ganz so, als ob irgendwer auf Autopilot geschalten hätte. Das erinnert an Star Wars und an einen Spruch des Jedi-Ritters: „Die Art der Wahrnehmung bestimmt unsere Realität.“
Literatur:
- Benjamin, Walter, 1996: Kleine Geschichte der Photographie, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M.
- Hüppauf, Bernd, 1995: Der entleerte Blick hinter der Kamera, in: Heer, Hannes/Naumann, Klaus (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, Hamburg, S. 504-527
- Jünger, Ernst,1960: Über den Schmerz, in: ders.: Werke, Band 5, Essays I, Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart, S. 151-198
- Peters, Kathrin, 1998: Die obszöne Fotografie. Einige Fragen, in: metis. Zeitschrift für historische Frauenforschung und feministische Praxis, Nr. 13, S. 17-30
- Reifarth, Dieter/Schmidt-Linsenhoff, Viktoria, 1995: Die Kamera der Täter, in: Heer, Hannes/Naumann, Klaus (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, Hamburg, S. 475-503
- Theweleit, Klaus, 1995: Männerphantasien, Band 2, München
- Virilio, Paul, 1994: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung, Frankfurt/M.