FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1975 » No. 262
Claudie Broyelle • Jacques Broyelle

Klassenkampf in China

Widerstreit zweier Linien in den Fabriken (I. Teil)

Der Kampf zwischen zwei Linien, zwischen Linken und Rechten in China, wird von der westlichen Presse immer als Machtkampf an der Spitze beschrieben. Das ist er zwar auch, aber dabei bleiben die sozialen Inhalte unberücksichtigt. Der französische Soziologe Jacques Broyelle und seine Frau Claudie [*] haben die Kampagne gegen Lin Piao und Konfuzius (1973/74) in China erlebt und erforscht, was an der sozialen Basis geschah: Lohnfragen, Prämien, Rechte der Arbeiter usw. Auch wer den Verfassern nicht in alle Einzelheiten ihrer Interpretation der Links-rechts-Dialektik folgt oder ihre Qualifikation zur Beurteilung industrieller Technik und Organisation anzweifeln mag, wird noch genug Material über die soziale und politische Situation finden. Das Thema ist die Industrie — also muß man sich erinnern, daß Chinas Bevölkerung immer noch zu vier Fünfteln bäuerlich ist, wenn auch die industrielle Produktion (nach einer Äußerung Tschu En-lais 1970) bereits drei Viertel des erzeugten Werts ausmacht.

1 1972/73: Restauration des kapitalistischen Weges

„Die Errungenschaften der Kulturrevolution verteidigen, nicht die goldene Mitte halten und nicht zu den Riten zurückkehren“ — das ist eine der großen Linien der Kampagne, die besonders für die Betriebe wichtig ist, wie wir bei unseren Besuchen feststellen konnten und wie es auch die chinesische Presse seit einigen Monaten bezeugt.

Eine der ersten auftauchenden Fragen war eben die der Prämien. Als wir im August 1973 die Fabrik Tschau Yan besuchten, einen kleinen Frauenbetrieb in Peking, erzählte man uns, über die Prämienfrage werde überall diskutiert. Zur gleichen Zeit sagte man, in der Kulturrevolution habe es viele „Exzesse“ gegeben, vor allem sei man in der völligen Abschaffung der Prämien zu weit gegangen. Aber die neuen Prämien seien minimal und hätten nichts mit denen Liu Schao-tschis zu tun, die manchmal ebenso hoch gewesen seien wie der Grundlohn; meist handelte es sich um Naturalprämien, [1] Kleinigkeiten, Kalender und Kugelschreiber, die am Jahresende an die Bestarbeiter verteilt wurden.

Wenn aber die Prämien so geringfügig waren, wozu dienten sie? Warum gewährte man diese symbolischen Prämien, wenn nicht gerade als Symbol, als Betonung des Prinzips, um sie wieder zu einem Produktionsanreiz zu machen und die Arbeiter auf die Rückkehr zur revisionistischen Produktionsleistung, zu den „Riten“, vorzubereiten? Der stellvertretende Vorsitzende des Revolutionskomitees eines Bergwerks in Anschan sagte uns: „Anfangs (1973) gab man als Prämien Kalender und Notizbücher, dann Kugelschreiber, etwas später Thermosflaschen, und unmittelbar vor ‚Pi Lin Pi Kong‘ hielt man schon bei Decken.“ Man war allmählich zum Prämiensystem zurückgekehrt, und die Prämien waren in manchen Fällen schon ziemlich groß.

Mit dem Beginn der „Pi Lin Pi Kong“Kampagne im Jänner 1974 änderte sich der Ton sehr schnell. Es wurde offenbar, daß hinter der Prämiendiskussion etwas sehr Wichtiges stand. Wir erhielten auf unsere Frage ganz kategorische Antworten. In der Pekinger Jeep-Fabrik, die wir im Februar 1974 besuchten, sagte man uns: „Prämien? Gibt es nicht mehr ... jetzt schon gar nicht!“ Die Dockarbeiter in Schanghai verurteilten auf einem Tatsebao (handgeschriebene Wandzeitung mit großen Schriftzeichen) die Methode der materiellen Anreize, mit denen die Arbeiter zu „Tonnensklaven“ gemacht würden (das heißt, abhängig von der Anzahl ver- oder entladener Tonnen). [2]

Zwei Gespräche

Gibt es Prämien als Produktionsanreiz?

Ja, aber keine Geldprämien.

Die Theorie der materiellen Anreize ist doch kritisiert worden?

Ja, gewiß, aber die neuen Prämien haben mit denen aus der Zeit Liu Schaotschis nichts zu tun. Liu machte die Prämien zum Motor der Produktion; heute arbeiten die Arbeiter für die Revolution. Es ist eine ganz andere Einstellung. Wir halten uns jedoch an den sozialistischen Grundsatz: „Jedem nach seiner Leistung.“ Darum belohnen wir jene, die mehr und besser arbeiten, mit kleinen Geschenken.


Gibt es Prämien, um die Produktion zu stimulieren?

Nein, seit der Kampagne „Pi Lin Pi Kong“ („Lin Piao und Konfuzius kritisieren“) nicht mehr.

Auch nicht in Naturalien?

Nein, weder in Geld noch in sonst einer Form. Eine Prämie, ob in Yüan oder in Hemden, ist immer ein materieller Anreiz, und das ist der revisionistische Weg.


Diese beiden Gespräche mit Betriebsleitern führten wir im Abstand von einem Jahr, das erste im Sommer 1973, das zweite im Sommer 1974, beide in der gleichen Region: in Nordostchina. Sie hätten ebensogut im selben Betrieb stattfinden können. In der Zwischenzeit setzte die Kampagne gegen Lin Piao und Konfuzius ein und damit eine große Offensive gegen die restaurative Strömung, die in vielen Bereichen festzustellen war, nicht nur im Überbau, sondern, wie diese Notizen bezeugen, auch in der Produktion.

Ein anderes Thema der Kampagne gegen die Restauration ist die Kritik am Bürokratismus, besonders an der Loslösung der Kader von der manuellen Arbeit, von der Basis.

Die Pekinger Volkszeitung (Renmin Ribao) veröffentlichte am 31. März 1974 den Text eines Tatsebaos von fünf Arbeitern der Pekinger Volks-Maschinenfabrik mit dem Titel: „Wo sind die Hämmer der Mitglieder des Parteikomitees?“ Auch diese Kader waren zu den Riten zurückgekehrt: Nachdem sie im September 1971 in die neue Betriebsparteileitung gewählt worden waren, hatten sie nach und nach aufgehört, an der Werkbank zu arbeiten. Das Tatsebao geht mit ihnen ins Gericht: „Erinnert ihr euch noch daran, daß die Arbeiter bei eurer Wahl jedem von euch einen Hammer schenkten? Was ist mit den Hämmern geschehen? Habt ihr daran gedacht, daß ihr nicht nur einen Hammer beiseite gelegt habt, sondern die gute Tradition der engen Beziehungen zwischen der Partei und den Massen und der Verbindung von Theorie und Praxis?“ [3] Das Tatsebao klagt auch über ein Anwachsen des Bürokratismus aufgrund der Loslösung der Kader von der Basis.

Auch die Arbeiter eines Chemiebetriebes in Lantschou beklagten sich über die Rückkehr zu bürokratischen Riten (und die Presse druckte es nach): eine Überzahl von Funktionären, mit denen man nie sprechen kann, weil sie fortwährend in Sitzungen sind usw. „Oben tausend Fäden, unten eine einzige Nadel“, sagten sie.

Auf leisen Sohlen, mit kleinen Schritten begann die Rückkehr zu kapitalistischen Methoden, und immer offener zeigten gewisse Leute ihren Unglauben an die schöpferische Intelligenz der Massen und an deren Fähigkeit, bei der Entwicklung neuer Techniken und neuer Leitungsformen mitzuwirken (in konfuzianischer Sprache heißt das: „Die Hochgeborenen für klug und die Niedriggeborenen für dumm halten“).

Dagegen rief der Leitartikel des Renmin Ribao vom 10. April 1974 zum Kampf auf („Lin Piao und Konfuzius kritisieren und die Industrieproduktion steigern“): Die Industriebetriebe sollten fortfahren, die „revisionistischen Leitungsmethoden“ zu kritisieren, sie sollten „die Initiative der Massen zur Kenntnis nehmen und die Bemühungen der Arbeiter und der Techniker um technische Neuerungen und wissenschaftliche Forschung unterstützen“. „Die führenden Genossen“, heißt es in dem Leitartikel, „müssen den sozialistischen Eifer der Arbeiter, Kader und Techniker richtig würdigen.“ Wenn man das in Erinnerung rufen mußte, so offenbar deshalb, weil manche Leute es seit den heißen Jahren der Kulturrevolution vergessen hatten.

Wie ist es zu erklären, daß die gleichen Tendenzen wiederkehrten, die kurz zuvor kritisiert worden waren, und zwar fast in der gleichen alten Form? Um dies zu verstehen, muß man die restaurative Strömung in den Betrieben untersuchen.

Als Tschu En-lai in seinem Bericht an den X. Parteitag (am 24. August 1973) sagte, man müsse auf die Tendenz achten, die durch eine andere verdeckt sei, meinte er zwei Dinge:

  1. In der ersten Phase der Kulturrevolution, in den Jahren 1967-1968, mischte sich in die Kritik am Rechtskurs Liu Schao-tschis eine scheinbar linke, in Wirklichkeit aber rechte Tendenz, die Gegenströmung Lin Piaos und Tschen Po-tas.
  2. In die Kritik an der Uiltralinken mischte sich eine rechte Gegenströmung in „klassischer“ Form, in der Form der Restauration. Diese trat vor allem in den Jahren 1972 und 1973 zutage.

Wie kam das? Als klar war, daß eine sehr breite Massenbewegung gegen die Linie Liu Schao-tschis sich entfaltete, ließ sich die Bourgeoisie nicht auf das sinnlose Risiko ein, die materiellen Anreize, die revisionistischen Leitungsmethoden usw. zu verteidigen. Sie schloß sich dem Strom der Kritik an, versuchte aber, ihn von seinen Zielen abzulenken. Als diese Taktik (die darin bestand, anarchistische Tendenzen zu fördern, die Massen gegeneinander aufzuhetzen, jedermann anzugreifen und Gewalttätigkeiten zu provozieren) entlarvt wurde und die Kampagne gegen Lin Piao und Tschen Po-ta begann, zog die Rechte maximalen Nutzen aus der Unklarheit und der Verwirrung, die dadurch entstanden waren, daß die bürgerliche Linie — vertreten durch Lin Piao — sich in sehr „linke“ Formen gekleidet hatte. Die Bourgeoisie vermehrte die Verwirrung noch dadurch, daß sie ausgerechnet Lin Piao als Ultralinken hinstellte, als einen Fanatiker der Revolution, der zu schnell und zu weit gehen wollte. Sie trachtete Lin Piao mit der Kulturrevolution gleichzusetzen, um diese als einen ultralinken Mist erscheinen zu lassen, den man ausräumen müßte. Diese Strömung wurde deutlich erkennbar, nachdem Lin Piao seinen Putschversuch unternommen hatte und damit gescheitert war. Nun blieb der gesamten Rechten nur eines übrig: in den Chor der Kritik an Lin Piao einzustimmen, um dabei den Ton anzugeben. Einerseits spielte sie die politische Bedeutung herunter: Lin sei ein machttrunkenes Ungeheuer und von Natur aus böse gewesen. Anderseits versuchte sie, im „ultrarevolutionären“ Lin Piao die Kulturrevolution selbst zu treffen.

Diese Taktik wird in einem Artikel in der Pekinger Volkszeitung analysiert und angeprangert: „Im Bestreben, Unruhe zu stiften, erklärte ein Häuflein von Feinden, darunter auch die Trabanten Lin Piaos, dieser hätte im wesentlichen eine extrem linke Linie vertreten; unter dem Vorwand, diese Linie zu bekämpfen, verleumdeten jene Feinde die Massenbewegung der Kulturrevolution und die proletarische Linie des Vorsitzenden Mao, um die Kulturrevolution radikal zu negieren und die revisionistische Linie Liu Schao-tschis zu rehabilitieren.“ [4]

In bezug auf die Betriebe konnte die Bourgeoisie nun das Steuer herumwerfen und versuchen, die Kader und die Arbeiter in der ihr vertrauteren Manier der „klassischen“ Rechten zu beeinflussen. Dieselben Leute, die einige Jahre zuvor zum Anarchismus und zur Spaltung gehetzt hatten, führten nun eine Kampagne für die „goldene Mitte“ und die „Rückkehr zu den Riten“. Prämien? Sie völlig abzuschaffen, war ein Fehler man brauche doch zumindest kleine Anreize. Arbeitsteilung? Man hat sie negiert — das war übertrieben. Jetzt sei es notwendig, daß jeder an seinen Platz zurückkehrt, der Arbeiter an die Werkbank und — der Intellektuelle an seinen Schreibtisch. Vorschriften? Man braucht sie, gewiß — aber unter diesem Vorwand führt man das starre, sinnlose Reglementieren wieder ein.

Diese Rückfälle beweisen, daß die alten kapitalistischen Produktionsverhältnisse noch nicht abgestorben sind. [5] Da und dort haben sie sogar Boden zurückgewonnen, den sie während der Kulturrevolution verloren hatten. Den Arbeiter als bloße Arbeitskraft zu behandeln, aus der man so viel wie möglich herausholen muß, ist eine Grundform der kapitalistischen Produktionsverhältnisse; dieser Produktivismus hat überlebt und ist sogar zum Gegenangriff auf die neuen, in der Kulturrevolution entstandenen Produktionsverhältnisse angetreten, insbesondere gegen die Massenbewegung für technische Neuerungen.

3 Wie chinesische Bourgeois die Arbeiter maximal ausnutzen

Es ist nur ein kleiner Schritt von der Losung „Mehr produzieren für die Revolution“ zu der These „Revolution machen heißt mehr produzieren“. Das Ziel der Revolution ist nicht Produktionssteigerung; diese ist ein Mittel und auch eine Folge der Revolution. Und man muß auch fragen: „Wie soll man produzieren?“ Denn die Produktion erzeugt nicht nur Gebrauchswerte, sondern reproduziert auch die Produktionsverhältnisse.

Der Mechanisierungsgrad der chinesischen Industrie ist noch gering, die manuelle Arbeit (und hier wieder die einfache) überwiegt noch die maschinelle. Daraus ergibt sich die Versuchung, den Grundsatz „Das Wichtigste ist der Mensch“ zu entstellen und zu sagen: „Das Wichtigste ist die Muskelkraft.“

So hat es Lin Piao zur Zeit des IX. Parteitags (April 1969) und danach gehalten. Der Hauptwiderspruch nach der Kulturrevolution, sagte Lin, sei der zwischen den sehr weit fortgeschrittenen Produktionsverhältnissen und den rückständigen Produktivkräften; nun komme es darauf an, die Produktivkräfte zu entwickeln; es gebe eine Zeit für die Revolution und eine Zeit für die Produktion, und jetzt gelte es zu produzieren. Für die Arbeiter, sagte er auch, bestehe die Politik darin, gut zu produzieren, so mache man Revolution. „Der Unterschied zu Liu Schao-tschi“, sagte man uns in einer Schwermaschinenfabrik in Schenyang, „liegt nur in der Formulierung: Liu legte das Schwergewicht auf den Profit, der in der Produktion das Kommando übernehmen müßte; Lin Piao verurteilte scheinbar diese Auffassung, aber nur, um zu fordern, das Kommando über die Produktion solle — die Produktion haben!“

Um die Produktion zu steigern, bediente man sich aller möglichen scheinbar ultralinken Mittel: Man erklärte alle Vorschriften für bürgerlich und hatte damit einen Vorwand, die Sicherheitsbestimmungen außer acht zu lassen. Man legte das Schwergewicht auf Quantität und individuelle Leistung statt auf Qualität und Wirtschaftlichkeit, was es ermöglichte, die maximale Verausgabung individueller Arbeitskraft zu fördern, nicht aber die Kooperation der Arbeiter und deren kollektives Denken. Folgende Meldung illustriert diese Abweichung sehr anschaulich. Ein Werkstättenleiter bekommt einen außertourlichen Produktionsauftrag; da aber der Arbeitsprozeß nicht mechanisiert ist, fehlt es ihm an Arbeitskräften. Er weiß nur einen Ausweg: die Arbeiter seiner Werkstatt maximal auszunutzen, indem er jedem von ihnen zwei Maschinen zu bedienen gibt und Überstunden machen läßt. Er lehnt den Vorschlag ab, einige Arbeiter von der Produktion freizustellen, damit sie ihre ganze Zeit der Entwicklung einer technischen Neuerung widmen können, die das Problem durch Mechanisierung lösen würde. Die Arbeiter kritisieren ihn: „Den ganzen Tag rechnest du an deinen Arbeitseinheiten herum; die Arbeiter sind für dich nur Zahlen in der Statistik. Das ist eine bürgerliche Einstellung.“

Am Ende sieht der Werkstättenleiter seinen Fehler ein und übt Selbstkritik: „Gewiß, ich beute niemand aus, aber die Arbeiter nur als Arbeitskräfte zu betrachten, ist eine im Grunde bürgerliche Einstellung ... In der alten Zeit haben die Unternehmer uns mehr oder minder wie Vieh behandelt. Wir waren Werkzeuge, nicht mehr. Niemand dachte daran, an unseren Verstand zu appellieren und ihn gelten zu lassen. Wenn ich heute die Arbeit einzig in Begriffen von Zeiten und Mengen betrachte, behandle auch ich die Arbeiter als bloße Werkzeuge.“ [6]

Die Theorie der „Produktivkräfte“ ablehnen und die Änderung der Produktionsverhältnisse über die Mechanisierung stellen, das ist in Ordnung; aber es bedeutet nicht, die Mechanisierung zu negieren und die Arbeit zu intensivieren. Ein Artikel von Tschen Yong-kwei in der Peking Rundschau Nr. 39/1971 lenkt die Aufmerksamkeit auf diese Frage. Die ideologische Revolutionierung (gemeint ist: die Umwandlung der Produktionsverhältnisse) muß der Mechanisierung vorangehen. Aber Tschen erinnert auch an ein Wort Maos: „Der Schlüssel zum Erfolg in der Landwirtschaft ist die Mechanisierung.“ Er gibt einen knappen Überblick über den Klassenkampf, der sich um diese Frage abspielt: „Manche Leute sagen: ‚Es genügt, revolutionären Geist zu besitzen. [Die Musterkommune] Tatschai hat früher nicht viele Maschinen gehabt, trotzdem war der durchschnittliche Hektarertrag mehr als 75 Zentner.‘ Sie fürchten, die Mechanisierung könnte den revolutionären Kampfgeist schwächen. In dieser Gegenüberstellung von Revolutionierung und Mechanisierung scheint der Akzent auf ersterer zu liegen, aber faktisch werden beide verneint.“

4 Die Herren der Docks von Schanghai

Man sieht, wie eine produktivistische Politik, bei der man die Arbeiter und die Bauern zu einer Intensivierung der Arbeit zu pressen versucht, idealistische Strömungen hervorbringt und zur Verherrlichung der manuellen Arbeit und der harten physischen Anstrengung führt. Solche Heldentaten sind nur eine Etappe; ohne Mechanisierung, ohne die Möglichkeit, Arbeiter und Bauern von manuellen Aufgaben zu befreien, ist es auch nicht möglich, aus ihnen Arbeiter-Intellektuelle und Bauern-Intellektuelle zu machen, dies können sie nur werden, wenn sie durch Produktivitätssteigerung und Mechanisierung Freizeit gewinnen. So bleibt dem Arbeiter nur eine Funktion: Arbeitskraft zu liefern. Ablehnung der Mechanisierung und des Produktivismus sind eng miteinander verbunden. Dies betont das Tatsebao der Arbeiter des Kais Nr. 5 der Schanghaier Docks:

Wir wollen Herren der Docks sein, nicht Tonnensklaven! In den letzten Jahren hat es keine großen Fortschritte gegeben; und zwar deshalb, weil die Führer die Massen vergessen haben. Sie wollen die Arbeiter nicht als Herren behandeln, sondern als Tonnensklaven (abhängig von der Anzahl der ver- und entladenen Tonnen). Das ist der Ausdruck einer revisionistischen Linie in der Führung unseres Betriebes ... Die Führer ‚mobilisieren‘ die Arbeiter nicht durch Förderung der politischen und ideologischen Arbeit, sondern durch materielle Anreize und Druck. Hören wir, was sie sagen, wenn sie die Massen ‚mobilisieren‘: ‚Solange ihr mit eurer Aufgabe nicht fertig seid, dürft ihr den Arbeitsplatz nicht verlassen, um zu duschen.‘ Verärgert über das Arbeitstempo, das ihnen zu langsam erscheint, schreien sie: ‚Ihr seid Anarchisten, ihr haltet euch nicht an die Arbeitsnormen, ihr sucht sie zu drücken!‘ [7]

Arbeiterin am Hafenkai Nr. 5 in Schanghai

An einer anderen Arbeitsstelle der Docks, wo der Zusammenhang zwischen Revolution und Produktion richtig verstanden wird, sagt man: „Man muß der proletarischen Politik Vorrang geben, die Revolution im Überbau und in den Produktionsverhältnissen richtig durchführen und der Entwicklung der Produktion große Aufmerksamkeit schenken.“ In der fünften Abteilung sagt man: „Die Führer haben einen ‚rein militärischen‘ Standpunkt: Die Produktivität hat Vorrang. Sie kümmern sich um die verladenen und entladenen Tonnen, aber sie vergessen die politische Linie.“

Die Ergebnisse? Beispielsweise, daß man nur an die Quantität und nicht auch an die Qualität der Arbeit denkt: „Einmal hatte eine Arbeitspartie Reis zu verladen. Bevor sie mit der Verladung begann, traf sie sorgfältige Vorbereitungen und brauchte deshalb länger als eine andere Partie. Am folgenden Tag, auf einer Versammlung, lobten die leitenden Angestellten die zweite Partie, die schneller gearbeitet und mehr Tonnen verladen hatte, und sagten kein Wort über die erste. Die Arbeiter waren wütend: ‚Was soll das heißen? Wir haben doch einen guten Arbeitsstil! Verdient ein guter Arbeitsstil kein Lob?‘“

Eine andere Folge: Produktivismus und Prämien führen dazu, daß jeder nur an sich selber denkt. Jeder arbeitet so, daß seine Partie möglichst viele Tonnen bewältigt, ohne sich um Kooperation mit den anderen Gruppen zu kümmern: „Da gibt es zum Beispiel eine Partie, die nur schwere Waren laden und mit leichten nichts zu tun haben will. Eine andere Partie muß das zusätzlich besorgen. Eine dritte Partie bereitet die Arbeit für die nächste Schicht nicht ordentlich vor.“

Ein weiteres Beispiel findet sich im stenographischen Protokoll der Diskussion derselben Dockarbeiter, veröffentlicht in der Peking Rundschau Nr. 17 vom 30. April 1974: „Im Februar letzten Jahres bekam unsere Brigade die Aufgabe, ein mit Holz und Sand beladenes Schiff zu löschen. Um mehr Frachttonnage ausweisen zu können, arbeitete die erste Schicht nur am leichter auszuladenden Sand und überließ der nächsten Schicht das Holz. Das ist ein schlechtes Beispiel.“ Die Prämien führen zu allerhand Zwistigkeiten unter den Arbeitern: „Die Prämien der Stauer richteten sich nach der Tonnage der Waren, die sie luden oder löschten, die Prämien der Fahrzeug- und Kranführer nach dem gesparten Treibstoff und nach der Fahrt. Daher verlangten einige Stauer, die nach einer hohen Tonnage strebten, daß die Fahrer schneller fuhren. Aber die Fahrer wollten Treibstoff sparen und nur auf Sicherheit achten. Dies führte zu Streitereien und Meinungsverschiedenheiten zwischen den Hafenarbeitern und den Fahrern. Das alles waren Folgen der revisionistischen Linie.“

Anderswo wurde.die Initiative der Massen durch sinnlose Vorschriften gelähmt:

So stellten wir in der Vergangenheit die Vorschrift auf, daß jeder Arbeiter nur eine spezielle Maschine bediente, z.B. einen Kran oder ein Fahrzeug. Damals waren die meisten Arbeiter mit den Maschinen noch nicht so vertraut, und diese Maßnahme war daher für die Sicherheit in der Produktion notwendig. In der Folge haben sich die Produktivkräfte entwickelt, und die Arbeiter sind heute mit den Maschinen vertraut. Wenn wir uns weiter an diese Vorschrift klammern, wird die Aktivität der Massen gehemmt. Da wir eine Zeitlang diese Vorschrift als nicht aufhebbar betrachteten, lagen manche Maschinen ungenutzt da, weil die Arbeiter, die diese Maschinen bedienten, auf Urlaub waren, während andere Arbeiter, deren Maschinen zur Reparatur geschickt wurden, nichts zu tun hatten. Dies beeinträchtigte natürlich die Leistung der Lade- und Löschmaschinen.

Wir haben dann entsprechend den Meinungen der Massen diese alte Vorschrift abgeschafft und eine neue eingeführt, nach der man „sich auf einem Gebiet spezialisieren und gleichzeitig vielseitig arbeiten“ soll.

Mit Zustimmung der Leitung und nach einer Prüfung ist es den Arbeitern, die verschiedene Maschinen bedienen können, nun erlaubt, dies zu tun. Es gibt immer mehr Arbeiter, die „sich auf einem Gebiet spezialisieren und gleichzeitig vielseitig arbeiten“. Manche von ihnen sind imstande, sieben verschiedene Arten von Kränen und Fahrzeugen zu bedienen. Sie können jede Aufgabe des Ladens und Löschens erfüllen. Dies hat nicht nur den Nutzeffekt der Maschinen beachtlich gesteigert, sondern auch zur Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den Maschinisten und Dockern beigetragen. [8]

Als Ergebnis ihrer Umfrage kommen die Berichterstatter der Shanghaier Zeitungen Befreiung und Wenhuibao, aus denen dieses stammt, zu folgendem Schluß: „(In diesem Hafenabschnitt) hat man den Stil der guten Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Partien aufgegeben, man kümmert sich nur noch um die eigene Partie und den eigenen Abschnitt. Man sorgt weder für Arbeitssicherheit noch für Qualität, und die Mechanisierung ist auf einem toten Punkt angelangt. Kurz, die leitenden Leute behindern die Initiative der Massen.“

Der Stillstand der Mechanisierung ist in der Tat ein wichtiger Punkt, den die Docker in ihrem Tatsebao hervorheben: „Was das Laden und Löschen betrifft, hat die Betriebsleitung nicht versucht, mechanische Hilfsmittel zu entwickeln, sondern sich auf menschliche Muskelkraft verlassen; einmal schlug ein Arbeiter vor, eine moderne Maschine einzusetzen, aber der Chef war nicht dafür: ‚Lauter Träume‘, sagte er. So unterdrückt man die Initiative der Arbeiter.“

5 Arbeiter wollen Ingenieure werden

Im August 1974 besuchten wir etwa 15 Betriebe in den Provinzen Kirin und Liaoning; wir hatten Gelegenheit, mit leitenden Funktionären und einfachen Arbeitern ausführlich zu diskutieren, und gewannen eine Vorstellung von der Breite der Massenbewegung für technische Neuerungen. Fast überall hat die „Pi Lin Pi Kong“-Kampagne einen großen Sprung vorwärts in der Neuerungsbewegung mit sich gebracht. Diese Bewegung wurde nicht erst durch die Kampagne ins Leben gerufen; sie entwickelt sich unaufhörlich seit 1949, aber nicht gleichmäßig, sondern in Wellen. Der Große Sprung von 1958 und die Kulturrevolution bedeuteten zwei Wellenberge der Bewegung. Zwei oder drei Offensiven, und wären sie noch so gewaltig, genügen jedoch nicht zur Erreichung der Ziele der Bewegung; deren Endziel ist nichts Geringeres als die Aufhebung des Unterschiedes zwischen physischer und geistiger Arbeit.

Da die Neuerungsbewegung Existenz und Reproduktion der Bourgeoisie in einem ihrer grundlegenden Elemente trifft, ist sie Gegenstand wütender Angriffe seitens der Rechten, die das verlorene Terrain zurückgewinnen oder zumindest weitere Fortschritte des Proletariats zu blockieren trachtet. Und deshalb entwickelt sich diese Bewegung in Wellen. Nach der Kulturrevolution erlitt die Bewegung für technische Neuerungen unter dem Einfluß der Lin-Piao-Linie einen Rückschlag. [9]

Die Arbeiter einer Fahrradfabrik in Tientsin konstruierten im Lauf der „Pi Lin Pi Kong“-Kampagne eine Produktionsstrecke; sie berichten über die Auseinandersetzungen, in denen diese Neuerung erkämpft wurde: „Anfang dieses Jahres begann ‚Pi Lin Pi Kong‘. Die Arbeiter der Galvanisierwerkstätte schrieben ein Tatsebao mit dem Titel ‚An der Nichtausführung des Projekts einer Produktionsstrecke erkennt man die revisionistische Linie der Betriebsleitung‘. Die Parteizelle der Werkstätte wurde kritisiert, weil sie vergessen hatte, daß die Massen während der Kulturrevolution Kritik geübt haben und daß eine revolutionäre Haltung auch darin besteht, auf die eigenen Kräfte zu bauen.“ Das Tatsebao erinnert darin, daß die Arbeiter während der Kulturrevolution vorgeschlagen hatten, die noch aus den dreißiger Jahren stammenden, ein großes Ausmaß manueller Arbeiten erfordernden technischen Einrichtungen zu erneuern: „Aber damals (in der Kulturrevolution) war der Kampf sehr hitzig, und dieser Vorschlag wurde übersehen.“

Arbeiter des Schanghaier Hafenkais Nr. 5 kritisieren Lin Piao und Konfuzius

1973, im Zuge der „Bewegung gegen die Linie Lin Piaos und für die Verbesserung des Arbeitsstils“, [10] machten die Arbeiter neuerlich Vorschläge zur Modernisierung der Technik und nahmen sogar schon gewisse Neuerungen vor: „Da aber die Betriebsleitung die Bedeutung dieser Neuerungen nicht erkannte, nahm sie die vollständige Durchführung des Produktionsstreckenprojekts nicht in ihren Plan auf ... Dann kam ‚Pi Lin Pi Kong‘. In dieser Kampagne wurde vor allem die Auffassung kritisiert, die Angehörigen der höheren Klassen seien klug und die der unteren dumm. Das hat auf die Massen, aber auch auf die Parteizelle befreiend gewirkt.“ Die Kritik an Lin Piao und ihre Erweiterung auf die Kritik an Konfuzius (das heißt, auf die Kritik an Konservatismus und Immobilismus) führte zu einem starken Aufschwung der Neuererbewegung.

Überall sagte man uns, das Ziel sei, die Arbeit zu erleichtern, ihre Intensität zu verringern und zugleich die Produktion zu steigern. In vielen (aber nicht in allen) Fällen betonte man, das politische Hauptziel der Bewegung bestehe darin, zu erreichen, daß die Arbeiter die Herren der Technik und der Maschinen werden und nicht mehr deren Sklaven sind; ihr Geist soll befreit werden durch die theoretische und praktische Kritik an dem konfuzianischen Aphorismus, wonach „die Hochgeborenen klug und die Niedriggeborenen dumm“ seien.

Konfuzius
(Steinschliffdarstellung)

Im allgemeinen nimmt die überwiegende Mehrzahl der Arbeiter (70 bis 80 Prozent) an der Bewegung teil; der Leitgedanke ist die Dreiereinheit von Kadern, Arbeitern und Technikern, die einander helfen, miteinander kooperieren und voneinander lernen. In den meisten Betrieben gibt es eine permanente Zentrale der Dreiereinheit, während in den Abteilungen temporäre Dreiergruppen gebildet werden, wann immer eine Neuerung durchgeführt wird. Nehmen wir zum Beispiel die Automobilfabrik in Schangtschueng. Dort sind etwas mehr als 20.000 Arbeiter beschäftigt, und in den Werkstätten gibt es mehr als 100 Neuerergruppen, die insgesamt 800 Arbeiter umfassen. Jeder Gruppe gehören ein oder zwei Techniker und ein politischer Funktionär an. Kleinere und mittlere Neuerungen werden von Abteilungsgruppen (gewöhnlich außerhalb der Arbeitszeit) selbst durchgeführt; große Innovationen bedürfen der Zustimmung der Direktion und werden unter der Leitung der Neuerungszentrale verwirklicht. Manchmal kommen Ingenieure und Techniker aus anderen Betrieben oder auch Hochschulprofessoren der Neuerergruppe zu Hilfe. Oft gehen auch Arbeiter in andere Betriebe, um deren Einrichtungen zu studieren oder komplizierte technische Probleme zu klären, die für ihr Projekt von Bedeutung sind. Es gibt auch Neuerergruppen, die aus Vertretern mehrerer Betriebe bestehen. In Schanghai beispielsweise wurden 30 Technikerteams gebildet, bestehend aus Vertretern von zwölf Betrieben, die Meßinstrumente erzeugen. [11]

Manche Neuerergruppen scheinen nur formal zu bestehen, dagegen gibt es auch Betriebe ohne Dreiergruppen, in denen trotzdem Arbeiter und Techniker eine fruchtbare Zusammenarbeit entfalten. In der Schlösserfabrik in Schangtschueng (450 Beschäftigte) gibt es nur einen einzigen Techniker, der früher selbst Arbeiter im Betrieb war. Er hätte sich zerreißen können und wäre doch nicht imstande gewesen, allein in den Dreiergruppen die Technik zu vertreten. In dieser Fabrik besteht anstelle der zentralen Neuerungsgruppe eine Spezialwerkstatt für große Innovationen und die Herstellung von Geräten, deren der Betrieb bedarf; diese Werkstatt unterstützt die „Zweiergruppen“ (Arbeiter/Kader), die zeitweilig in den Abteilungen gebildet werden.

In der „Hsinhua“-Druckerei in Schangtschueng (1.500 Arbeiter) gibt es eine zentrale Technikergruppe für Neuerungen, aber keine zentrale Dreiereinheit. Die Dreiereinheit besteht hier nur an der Basis, in den Abteilungsgruppen, in denen die zehn Techniker des Betriebes sehr aktiv sind.

Diese beiden Betriebe haben eine beträchtliche Anzahl von Neuerungen hervorgebracht, die offenkundig hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, von den Arbeitern selbst entwickelt wurden, da es ja dort nur sehr wenige Techniker gibt.

In einem bestimmten Großbetrieb hingegen, der über eine große Forschungsabteilung und, wie man uns sagte, über eine komplette, von oben bis unten reichenden Struktur der Dreiereinheit verfügt, schien man diese als die Einheit von Kopf und Beinen zu verstehen: Die Techniker und Ingenieure entwerfen, die Arbeiter führen die Entwürfe aus. Bei einer komplizierten automatischen Maschine, die einen ganzen manuellen Arbeitsprozeß ersetzt, fragten wir die Arbeiter, wie lange sie gebraucht hätten, um die Maschine herzustellen. „Einen Monat“, antworteten sie. Als sie unsere Verwunderung bemerkten, präzisierten sie: „Das heißt, einen Monat, um sie zu bauen. Die Ingenieure haben zwei Monate gebraucht, um sie zu entwerfen und die Pläne anzufertigen.“

Bei unseren Besuchen bemerkten wir zwei wichtige Kriterien für eine wirkliche Massenbeteiligung an der Bewegung: einerseits die Menge kleiner und mittlerer Neuerungen, anderseits das Vorhandensein kontinuierlicher Innovationen, kleiner wie großer. Ein Betrieb, in dem es keine oder wenige kleine Neuerungen und nur einige große gibt, ist ganz gewiß einer, in dem vor allem die Ingenieure sich mit Neuerungen befassen. Auch wenn nur sehr kleine und sehr große, aber keine mittelgroßen Neuerungen vorgenommen werden, ist dies ein Zeichen dafür, daß jeder in seiner Domäne bleibt; das Vorhandensein kleiner Innovationen beweist, daß im Gegensatz zum ersten Fall die Bewegung an der Basis existiert, daß die Massen mobilisiert sind; aber die „Lücke“ zwischen kleinen und großen Neuerungen beweist auch, daß die Einheit zwischen Technikern und Massen noch schwach ist.

Arbeitserleichterung:
Während die Arbeiterin der Spinnerei in Ili (Sinkiang) an der Maschine steht (unten [hier: oben]), besorgt ihre Kollegin in der Tientsiner Textilfabrik Nr. 4 ihre Arbeit sitzend (rechts [hier: unten]). Inzwischen wurde in der Pekinger Baumwollfabrik Nr. 1 ein elektrisch betriebener Stuhl entwickelt, den die Arbeiterinnen „Glücksstuhl“ nennen (Peking Rundschau, 19. August 1975, S. 30f)

6 Die Automation kommt nach China

Die Transformatorenfabrik in Schenyang weist Neuerungen aller Art auf. In einer Werkstätte schnitten Arbeiter die Magnetbleche noch auf alte Weise: Zwei Arbeiter bedienten die Schneidemaschine, der eine hielt das Blech und betätigte die Klinge, der andere sortierte und stapelte die geschnittenen Bleche. Die Arbeiter hatten zunächst ein rudimentäres Hilfsgerät gebastelt: es diente dazu, die geschnittenen Bleche automatisch zu stapeln, so daß der monotonste manuelle Arbeitsgang entfiel. Dann die zweite Etappe: eine halbautomatische Schneidestrecke. Das Blech glitt über einen Schneidetisch und wurde in mehreren Arbeitsgängen zugeschnitten. Hier waren die Operationen mehrerer Maschinen vereinigt; obwohl dadurch die Zahl der für diese Arbeit notwendigen Personen auf die Hälfte reduziert war, brauchte man immer noch mehrere, um das Blech zurechtzulegen. Einige Meter weiter war die dritte Etappe der Innovation zu sehen: eine vollautomatische Schneidestrecke, die aufgrund der vorhergegangenen Versuche konstruiert worden war — hier genügte ein einziger Arbeiter, der, an einem Schaltpult sitzend, den ganzen Prozeß überwachte. Im Bedarfsfall war er imstande, die Maschine zu reparieren; da er sie selbst konstruiert hatte, kannte er sie genau.

Die Notwendigkeit der Automation ergab sich aus der dringenden Forderung der Arbeiter, besonders monotone und repetitive Arbeit abzuschaffen. Die Arbeiter, sagte man uns, begannen selbst Maschinen zu basteln. Dann kamen einige Techniker hinzu; sie bildeten eine Arbeitsgruppe, die die automatische Strecke konstruierte.

Das gleiche Bild in der nächsten Abteilung, wo Frauen damit beschäftigt waren, Transformatorenelemente mit Isolierband zu umwickeln. Früher wurde die Arbeit zur Gänze händisch verrichtet; die Arbeiterinnen beklagten sich über die geisttötende Tätigkeit. Sie dachten lange nach, wie sie sich davon befreien könnten, und bastelten ein einfaches Modell einer Maschine, die den ganzen Arbeitsgang selbsttätig verrichten sollte. Techniker wurden zu Hilfe gerufen, um gewisse Probleme zu lösen. Nach einigen Wochen Studieren und Probieren bauten die Arbeiterinnen und die Techniker eine automatische Maschine, die die Transformatorenelemente ganz allein und sehr schnell mit Isolierband umwickelt. Diese Erfindungen kamen in doppelter Hinsicht von den Massen: sie wurden von den Arbeitern gefordert, die dann selbst an Konstruktion und Ausführung mitwirkten. Bei manchen (wie bei der Schneidestrecke) war Kenntnis der Elektronik erforderlich, und im Zuge der Ausführung konnten einfache Arbeiter Wissen auf diesem Gebiet erwerben; in der Folge wirkten sie an einer sehr wichtigen Neuerung mit, die in der benachbarten Werkstatt zu sehen war: eine elektronisch gesteuerte Schneidemaschine, die vom Betrieb in Zusammenarbeit mit einem Institut für Elektronik entwickelt worden war.

Wir konnten den gleichen Vorgang, vom Kleinen zum Großen, in der Landmaschinenfabrik in Schenyang aus der Nähe betrachten. Der Übergang zum Großen ist hier um so bedeutungsvoller, als die Fabrik nur mittelgroß ist und 1958, als sie ihren Betrieb aufnahm, über keinen einzigen Techniker verfügte. In dieser Fabrik werden landwirtschaftliche Maschinen erzeugt und montiert (nur die Motoren werden von einem anderen Betrieb zugeliefert). Früher wurde der Getriebeblock folgendermaßen hergestellt: Der Block ging durch eine ganze Reihe von Werkzeugmaschinen hindurch, deren jede von einem Arbeiter bedient wurde; er übernahm den Block von der vorhergehenden Maschine, legte ihn in die seine ein, führte seinen Arbeitsgang aus und legte das Werkstück auf einen Tisch, von wo der Arbeiter an der nächsten Maschine ihn übernahm. Die erste Neuerung bestand darin, jede dieser Maschinen zu verbessern und neue, spezialisierte und leistungsfähigere Maschinen zu konstruieren, beispielsweise solche, die das Werkstück auf mehreren Seiten gleichzeitig bearbeiten.

Obgleich man auf diese Weise die Anzahl der Maschinen verringert hatte, blieb immer noch viel manuelle Arbeit zu tun: das Werkstück aufzunehmen, es in die Maschine einzulegen und die Bearbeitung zu steuern. Die zweite Neuerungswelle führte zur völligen Automatisierung einer kompletten Maschinenstrecke. Rund 30 Maschinen wurden miteinander zu einer Strecke verbunden, auf der die Werkstücke automatisch von einer Maschine zur nächsten befördert, gewendet und in Position gebracht werden; beim Einlangen des Werkstücks treten die Werkzeugmaschinen automatisch in Aktion, und nach Beendigung der Operation wird das Stück zur nächsten Maschine weitertransportiert. Am Ende der Strecke überwacht ein Arbeiter an einem Schaltpult die Kontrollichter; ein zweiter versorgt die Strecke, und zwei Kontrollore überprüfen die Qualität der bearbeiteten Werkstücke.

Seit Ende 1971 hat der Betrieb 13 Strecken dieser Art selbst entwickelt, auf denen alle möglichen Maschinenbestandteile hergestellt werden. Wohlgemerkt, die Arbeiter, die an diesen Strecken tätig sind, können diese im Bedarfsfall auch selber reparieren; sie kennen ihre Maschinen in- und auswendig, da sie an deren Konstruktion selbst mitgewirkt haben.

Das kapitalistische Gesetz, wonach die Automation die Facharbeiter überflüssig macht und einerseits die Zahl der ungelernten Arbeiter, anderseits die Zahl der studierten Techniker vervielfacht, ist hier auf den Kopf gestellt: Die Automation hat wenig qualifizierte Arbeiter in erfahrene Elektroniker und Mechaniker verwandelt. Die überflüssig gewordenen Arbeiter kontrollieren und steuern nun neue automatische Fertigungsstrecken ihrer Sparte; sie werden nicht entlassen, der Beschäftigtenstand des Betriebes hat sich nicht geändert. Die einzige Personalbewegung, die in diesem Betrieb seit 1968 stattgefunden hat, war die Ersetzung von rund 20 alten Arbeitern, die in Pension gegangen sind, durch die gleiche Anzahl junger Lehrlinge.

(II. Teil folgt)


© Les Temps Modernes, Paris

[*Claudie Broyelle ist Verfasserin des Buches „Die Hälfte des Himmels. Frauenemanzipation und Kindererziehung in China”, Berlin 1973 (Wagenbach).

[1Nicht immer waren die Prämien Naturalprämien, wie uns die folgende Diskussion in der Uhrenfabrik in Tientsin im Mai 1974 bewies:

Hat es in den letzten Jahren eine Rückkehr zum Prämiensystem gegeben?

Ja, das hat es gegeben.

In welcher Form?

In Form von Geld und Konsumgütern.

Gibt es heute noch Prämien?

Nein, sie wurden im Zuge der „Pi Lin Pi Kong“-Kampagne alle abgeschafft.

Anderswo hat der materielle Anreiz andere Formen angenommen. In der Teppichfabrik in Tientsin beispielsweise durften die Arbeiter am Tag vor dem Frühlingsfest (dem 23. Jänner) früher Schluß machen, wenn sie den Tagesplan um drei Prozent übererfüllt hatten (Tatsebao von vier Arbeitern der Tientsiner Teppichfabrik Nr. 2, „Die drei Tage, an denen man von der revolutionären Linie abgewichen ist“, Renmin Ribao, 24. Februar 1974)

[2Vgl. dazu die Dokumentation im NF Juni 1974, S. 22ff (Anm. d. Red.)

[3Peking Rundschau Nr. 22 vom 4. Juni 1974

[4Renmin Ribao, 24. April 1974: „Lin Piao war gegen die Kulturrevolution“

[5Ein leitender Funktionär der Schwermaschinenfabrik in Schenyang sagte uns: „Unsere Erfahrung hat uns gelehrt, daß der Klassenkampf in der Produktion sich in wechselnder Form stets um die folgenden drei Hauptfragen dreht: 1. Soll man sich auf die breiten Massen oder auf die Fachleute stützen? 2. Soll man auf die eigene Kraft bauen oder die Hilfe höherer Stellen oder des Auslandes suchen? 3. Soll man die Revolution an die Spitze stellen oder den Profit?“

[6Chinese literature, Nr. 7/1974, S. 64

[7Tatsebao der Arbeiter der fünften Abteilung der Schanghaier Docks, abgedruckt in Renmin Ribao, 1. Februar 1974

[8Ein weiteres Zitat aus dieser Diskussion brachten wir im NF Juni 1974, S. 23 (Selbstkritik eines Kaders). — Die nachfolgenden Zitate sind in der deutschen Ausgabe nicht enthalten und stammen aus der französischen Ausgabe der Peking Rundschau, dem Quotidien de Pekin (Anm. d. Red.)

[9Artikel in Renmin Ribao, 14. Juli 1974, unter dem Titel „Revolution heißt Entwicklung der Produktivkräfte“

[10Die Kritik an Lin Piao setzte Ende 1972 ein; seit dem X. Parteitag vom August 1973 (und vor allem seit Jänner 1974) hat die Kritik sich zur Kampagne „Pi Lin Pi Kong“ entwickelt.

[11Tägliches Bulletin der New China News Agency (Hsinhua), 15. Juni 1974, Meldung Nr. 061 502 (englisch)

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1975
, Seite 57
Autor/inn/en:

Claudie Broyelle:

Jacques Broyelle:

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