FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1980 » No. 323/324
Christian B. Richter

Keiner wird gewinnen

Durchs wilde Nuristan, Sommer 1980

Ein Österreicher besuchte im vergangenen Sommer Afghanistan, und zwar die nördliche Provinz Nuristan. Abseits der üblichen Journalistenrouten traf er auf Bergbewohner mit Steinschloßflinten, die modernster sowjetischer Bewaffnung trotzen. Das Gebiet ist befreit, die Regierungstruppen sind aus den Bergtälern verdrängt und haben sich in ihre Stützpunkte zurückgezogen. Sowjetische Bomber belegen, à la Vietnam, Flächen mit ihrer tödlichen Last.

Kleine Djirga
(Versammlung der erwachsenen Männer) in Kamdesh in Nuristan unter der weißen Fahne des Widerstands

Ziegen für Patronen

Für eine Ziege sind derzeit gerade noch fünfzehn Patronen zu bekommen, und die muß sich jeder nach mühsamen Fußmärschen in einem der Waffenbasare in Pakistan beschaffen, wenn der lokale Nachschub durch Überläufer und Überfälle nicht ausreicht. Ein Taglöhner muß dafür einen Monat, für eine Kalaschnikow fünf Jahre lang arbeiten. Von zehn Mujaheddins (wie inzwischen alle Widerstandskämpfer genannt werden) haben nie mehr als zwei oder drei eine automatische Waffe, der Rest kämpft mit alten Jagdgewehren. Selbst an diesen lösen sich mehrere Männer ab, weil sie zuwenig davon haben.

In den abgeschlossenen Agrargebieten der Hindukush-Täler, von denen hier berichtet wird, gibt es jetzt überhaupt keine Verdienstmöglichkeiten mehr, die Landwirtschaft produziert keinerlei Überschüsse. Handel, Transportwesen, staatliche Verwaltung haben aufgehört zu existieren. Nur in Pakistan drüben läßt sich als Gelegenheitsarbeiter, beim Straßenbau, als Erntehelfer oder als Händler gelegentlich etwas verdienen, aber kaum mehr als 20 Rupien pro Tag (etwa 25 öS).

Die keine Überlebensmöglichkeiten mehr sehen, die der ständigen Bedrohung entgehen wollen, die flüchten. Annähernd 100.000 von ihnen registriert die UNO weiterhin jeden Monat, 1,5 Millionen sind es inzwischen in Pakistan, etwa eine halbe Million im Iran. Endstation ist eines der derzeit 102 halbwegs betreuten riesigen Lager.

Auch ohne Krieg war jede Mißernte in Afghanistan eine Massenkatastrophe. Jetzt sind unzählige Dörfer zerbombt, Felder verwüstet, ein großer Teil des Viehbestandes ist gegen Waffen und Munition eingetauscht, das derzeit wichtigste „Lebensmittel“ wie die Afghanen es nennen.

Wir haben nicht den üblichen kurzen Weg von Peshawar aus genommen, auf dem für die Kriegsberichterstatter Besichtigungstouren veranstaltet werden, sondern eine Route im Norden, in Luftlinie nur 100 km von der sowjetischen und 300 km von der chinesischen Grenze entfernt. Wir sind zwei Wochen zu Fuß durch Nuristan marschiert, im Gebiet zwischen der Frontlinie beim sowjetisch besetzten Flughafen Barikot und den Orten Gawardesh, Pitigal, Saret, Mandagal, Kamdesh.

Im Tal des Landay-Sin-Flusses, wo die einzige Straße verläuft, sind die Zeichen des Krieges überall zu sehen: zerstörte Dörfer, zerbombte Brücken, ausgebrannte Schützenpanzerwagen, Straßensperren, Verteidigungsstellungen aus geschichteten Steinen, Kampfgruppen der Mujaheddin, eilig errichtete Gräber. Der alte Verwaltungssitz und die Kaserne in Ormol ist nur mehr eine Ruine, umgeben von ausgebrannten Panzerwagen.

Oben in Kamdesh liegt der einzige hier abgeschossene Hubschrauber. Teile wurden demontiert und an den umliegenden Häusern befestigt, wahrscheinlich um damit das Böse abzuwehren.

Trotz der bis zum äußersten angespannten Versorgungslage und ihrer elenden Bewaffnung verteidigen die Nuristanis ihr Gebiet (das annähernd so groß wie die Schweiz ist) jetzt bereits seit zwei Jahren erfolgreich. Seit dem Frühjahr 1979 hat es kein feindlicher Soldat mehr betreten können, nur dem Luftkrieg sind sie weiter wehrlos ausgeliefert.

Nuristan ist heute die einzige Ostprovinz, die vollständig von den Mujaheddin kontrolliert wird, und dadurch eine immer wichtigere, wenn auch sehr gebirgige Verbindung mit Pakistan und der Außenwelt.

Regierung überfällt Bauern

Den vereinzelt schon früher in Nuristan aufgetauchten Anhängern und Funktionären der Demokratischen Volkspartei stand die lokale Bevölkerung zwar immer schon mißtrauisch gegenüber; sie wurden als dubiose Fremde und Klugscheißer eingestuft, von denen eher nichts gutes zu erwarten war, oder einfach als Sowjetagenten.

Mit den Bauern kam im ganzen Land keine Verständigung zustande, und in Nuristan gibt es nur Bauern und dörfliche Handwerker. Die Besitzunterschiede sind dort minimal, für das simple Enteignungs- und Umverteilungsprogramm der Zentralregierung gab es kaum Ansatzpunkte. Nicht einmal die Armsten und Abhängigsten konnten durch diesen Versuch einer „Revolution per Dekret“ auf deren Seite gezogen werden. Angriffe auf das dichte soziale Netzwerk der Familien-, Dorf- und Stammesbeziehungen führten vielmehr zu einer „mechanischen“ gemeinsamen Abwehrreaktion.

Zu einer unmittelbaren Auseinandersetzung über konkrete Reformvorhaben ist es in Nuristan gar nicht gekommen. Der Widerstand wurde durch wahllose Verhaftungen ausgelöst.

Die Nuristanis sind erst seit der Jahrhundertwende von der Zentralregierung unterworfen und wurden zwangsweise islamisiert. Aus Kafiristan, dem Land der Ungläubigen, wurde damals Nuristan, das Land des Lichtes. Vom Gebiet der mongolischen Hazaras sind die Nuristanis praktisch nur durch die Straße über den Salang-Paß getrennt, die sowjetische Hauptnachschublinie.

Im Herbst 1978 führte die Regierung eine großangelegte Strafaktion durch, Armeeverbände, verstärkt durch Stammeskrieger der Gujur, Muschwani und Kohistani, die als Söldner gekauft und durch Beuteversprechungen aufgehetzt worden waren, drangen mit überlegenen Kräften in Nuristan ein, zerstörten im Süden die meisten Dörfer und verwüsteten das Land.

Die Mujaheddin blieben mit kleinen Verbänden in den umliegenden Bergen, sammelten im Frühjahr alle Kräfte für einen Großangriff, befreiten Kamdesh, zerstörten die Garnison in Ormol und trieben die gegnerischen Truppen durch das enge Flußtal nach Süden bis zum Flughafen Barikot. Dort verläuft noch heute die Frontlinie.

Gegen Eindringlinge aus allen anderen Richtungen ist Ostnuristan (Kamdesh) durch vier- bis siebentausend Meter hohe Gebirgszüge verhältnismäßig gut geschützt.

Diskutieren bis zur Einstimmigkeit

Seit eineinhalb Jahren gibt es also, wie die Bevölkerung selbst sagt, ein „befreites Nuristan“, ein „staatenloses“, selbstverwaltetes Gebiet in der Größe der Schweiz — ohne Regierung, ohne Verwaltungsapparat, ohne Steuern, ohne formelle Wehrpflicht, ohne Polizei, ohne Gefängnisse. Jedes Dorf bildet eine eigene, vollständig autonome Einheit.

Grundlegendes System der Entscheidungsfindung ist überall die Djirga, die Ratsversammlung, an der alle erwachsenen Männer teilnehmen können. In ihr wird immer versucht, eine generelle Übereinstimmung zu erreichen. Wenn es die äußere Lage erlaubt, wird solange diskutiert, „bis Gegenstimmen verstummen“, ohne daß abgestimmt und damit überstimmt wird. Die Meinungen besonders angesehener Ratsmitglieder haben stillschweigend ein größeres Gewicht.

Hierarchien gründen sich hier primär auf Prestige und nur indirekt auf Besitz. Besitz wurde immer wieder vernichtet, um dafür Ansehen zu gewinnen, zum Beispiel durch die Veranstaltung eindrucksvoller Festmähler für Gäste und das ganze Dorf oder durch die Beschaffung militärischer Ausrüstung.

Der bewaffnete Widerstand wird von Kampfgruppen getragen, die aus zehn bis zwanzig Mann bestehen und meist weit weg von ihren eigenen Dörfern im Einsatz sind. Es gibt keine festgefügten Kommandostrukturen. Gemeinsame Aktionen erfolgen auf Grund kurzfristiger Absprachen. Für Bewaffnung, Munition und Nahrungsmittel sorgen die Mitglieder jeder Gruppe jeweils selbst.

In jüngster Zeit wurde damit begonnen, dafür eine Art Mujaheddin-Steuer einzuheben. Einzelne Kommandanten haben inzwischen soviel Ansehen erlangt, daß ihre Zuständigkeit für große Gebietsabschnitte und die dort operierenden Gruppen anerkannt wird. Die Grenzen solcher Einflußbereiche sind aber fließend und Koalitionsvereinbarungen müssen immer wieder erneuert, durch bewiesene Führungsqualitäten bestätigt werden.

Die bisherigen Hierarchien haben sich bereits verändert, konnten aber verständlicherweise noch nicht durch entsprechend stabile Gegenmodelle ersetzt werden. Ganz vereinzelt beginnen zum Beispiel auch Frauen schon Waffen zu tragen. Sogar traditionell verfeindete Nachbarstämme kämpfen immer wieder gemeinsam. Selbst mit den Stämmen, die vor zwei Jahren zusammen mit den Regierungstruppen in ihr Gebiet eingefallen waren, haben die Nuristanis inzwischen Frieden geschlossen.

Die zahllosen Überläufer aus der afghanischen Armee werden integriert, auch wenn sie keine Nuristanis sind, ebenso wie gelegentlich versprengte Mitglieder der städtischen Intelligenz.

Der Informationsstand ist zweifellos bei vielen gestiegen: durch das zwangsweise stärkere Interesse an Lageberichten von Reisenden, durchziehenden Flüchtlingen und anderen Mujaheddin-Gruppen. Große Bedeutung haben auch die Radionachrichten, insbesondere jene der Kurzwellensender. Mohammed Osman, der Dorfälteste des winzigen Ortes Pitigal, hat mit uns zum Beispiel lange über die Situation in Zimbabwe und Nicaragua diskutiert und darüber ziemlich gut Bescheid gewußt.

Der bisherige Widerstand ist zwar nur sehr schwer zu zerschlagen, weil es keine Kommandozentren gibt; die Nachteile der dezentralen Organisation werden aber für die Aufständischen immer fühlbarer. Noch immer konzentrieren sie alle Kräfte auf den unmittelbaren Kampf. Was im Hinterland passiert, ist Nebensache, ebenso jede Bemühung um eine Sicherung der Versorgung, weil sie in den Traditionen nicht verankert ist.

Hunger und Flächenbombardement

Nach einer brutalen Hierarchie bekommen von einer Mahlzeit zuerst die Männer, dann die Söhne, dann die Frauen, schließlich die Mädchen. Daher verhungert im Extremfall zuerst die ganze Familie, bevor es den kampffähigen Mann trifft.

Auch während der Erntezeit hat es für uns tagelang immer nur Fladenbrot, einige Brocken Käse und ungezuckerten Tee gegeben, was nach den strengen Regeln der Gastfreundschaft eben das beste war, was das jeweilige Dorf zu bieten hatte.

Selbst in den unzerstörten Dörfern kann gerade das allernötigste produziert werden, es fehlt die Arbeitskraft der Männer, die hauptsächlich für die Viehhaltung und den Tauschhandel zuständig sind. Der Importbedarf an Zucker, Salz, Tee, Reis, Petroleum, Stoffen kann mangels Überschüssen kaum mehr gedeckt werden, und wenn, dann nur höchst beschwerlich in Pakistan. Die Hochgebirgspässe dorthin sind sechs Monate im Jahr zugeschneit. Wo die Felder verbrannt und die Bewässerungsanlagen zerstört sind, leben alle am Rand der Hungersnot, die im Winter voll spürbar wird.

In dieser Situation versuchen die sowjetischen Strategen, den Widerstandswillen durch Terror gegen die Zivilbevölkerung zu brechen. Mit dem laufenden Ausbau der militärischen Kontrolle von Städten und Hauptverkehrswegen sollen die ländlichen Widerstandsgebiete voneinander isoliert und ihre Versorgung mit Lebensmitteln aus lokalen Basaren verhindert werden. Wiederholte Flächenbombardements unterstützen diese Taktik. Besonders brutal wird das alles im Hazarajat durchgeführt, dem praktisch eingeschlossenen Kerngebiet Zentralafghanistans.

Neu angelaufen ist in diesem Sommer eine großangelegte Verminungsaktion. Es werden Hunderttausende handtellergroße Plastikminen aus der Luft abgeworfen, deren Sprengkraft perfiderweise so dosiert ist, daß sie nicht tötet, sondern dem Opfer in der Regel nur den Fuß oder das Bein abreißt. Diese Minen sind grün, haben die Form eines gewellten Blattes und sind dadurch im Unterholz, in den Wiesen und Feldern nur schwer zu erkennen.

Vor allem an Paßübergängen, aber auch in Landwirtschaftsgebieten haben wir solche dicht verminten Zonen durchqueren müssen. Jetzt üben die Menschen größtmögliche Vorsicht und bringen möglichst viele Minen mit Steinwürfen zur Explosion, treiben sogar ihre letzten Herden durch verminte Gebiete. Weil die bewaffneten Kämpfer kaum mehr als ein Prozent der Bevölkerung ausmachen sind fast ausschließlich Zivilisten, Frauen und Kinder die Opfer der Bomben und Minen.

Sowjetische Tretmine
in Form eines grünen Blattes (etwa handtellergroß)

Korrumpiertes Exil

Der Widerstand im Land wird zum größten Teil von politisch nicht organisierten Gruppen getragen, die erst vereinzelt Verbindung miteinander haben, aber praktisch keinerlei Auslandskontakte. Das macht es den afghanischen Exilparteien leicht, Erfolge des lokalen Widerstandes an ihre Fahnen zu heften, Meldungen zu manipulieren oder schlicht zu erfinden.

Die Mehrheit der anreisenden Journalisten läßt sich von den Pressebüros dieser Parteien betreuen, die Agenturen übernehmen ungeprüft ihre Aussendungen, irre Darstellungen vom Widerstand finden weltweite Verbreitung. Immer wieder ist von Hunderten abgeschossenen Panzern die Rede, von vielen Tausend Mujaheddin, die Kabul belagern.

Die Karl-May-Version vom grimmigen Stammeskrieger, der sich in Todesverachtung den Streitkräften einer Großmacht entgegenwirft, bloßfüßig und mit einem Steinschloßgewehr, paßt in ein künstliches Bild von der Dritten Welt, dem man noch gewisse Sympathien abgewinnen kann. Sogar sonst unverstandene islamische Motivationen werden zu etwas Positivem, weil sie diesmal gegen „die anderen“ gerichtet sind.

So ziemlich jeder Journalist, dem ich da unten begegnet bin, muß „heiße“ Kriegsberichte nach Hause schicken. Für differenziertere Darstellungen fehlt in den Redaktionen das Interesse. Die Manager der fast durchwegs erst im Ausland gegründeten größeren Exilparteien haben diesen Mechanismus rasch begriffen. Je mehr Echo sie in den Medien für sich, Ihre Partei und ihre Milizen erreichen können, desto größer werden ihre Aussichten auf politische und materielle Unterstützung. Was sie mit der dann machen, ist eine zweite Sache.

Deshalb gibt es auch die organisierten Touren „hinüber“ und die eifersüchtige Abschirmung jedes Ausländers von den unabhängigen Gruppen. Da die Mujaheddin grundsätzlich bei Nacht angreifen, läßt sich leicht einsehen, daß so ziemlich alle Flime und Fotos von Kampfhandlungen gestellt sind oder die Ereignisse eigens inszeniert wurden. Für potentere Fernsehstationen werden exklusiv Tagesangriffe veranstaltet, die chancenlos sind und bei denen es immer wieder Tote gibt. Beispielsweise starben für den Film einer amerikanischen TV-Gesellschaft in diesem Sommer sechzehn Widerstandskämpfer.

Auf der Gegenseite verbreitet TASS weiterhin Bilder lachender Afghanenkinder auf den Knien von Sowjetsoldaten.

Kampfgruppe der Mujaheddin

Daß der Widerstand der Bevölkerung und der lokalen Kampfgruppen zum größten Teil eine Art „Dritte Kraft“ ist, geht in der üblichen Berichterstattung unter, weil das in keine Interessenslage paßt. Der Kampf richtet sich natürlich vor allem gegen die Sowjetintervention und gegen das Kabul-Regime, politisch immer vehementer auch gegen die Monopolansprüche der islamisch orientierten Exilparteien.

In Nuristan etwa entwickelte sich der Widerstand sehr rasch annähernd zu einem Volkskrieg, in dem Parteiauffassungen keine Rolle spielen. Nuristan ist ein Gebiet, in dem keine feindlichen Truppen stehen und das sich als von Pakistan relativ ungefährdet erreichbarer Stützpunkt anbieten würde. Daß es trotzdem für diese Provinz bisher keinerlei Auslandshilfe gegeben hat, davon konnten wir uns während unseres Aufenthaltes recht glaubhaft überzeugen. Die miserable, völlig uneinheitliche Bewaffnung und der Mangel an so ziemlich allem waren dafür einprägsame Beweise.

Die Waffenlieferungen, die es bisher gegeben hat, gingen nach einhelliger Aussage nur an die Exilparteien. Sie sollen von geringem Umfang sein und aus islamischen Ländern kommen. Insbesondere Ägypten wird genannt, inwieweit die USA dahinter stehen, wußte von unseren Informanten niemand.

Von ganz verschiedenen Seiten wird aber nachdrücklich behauptet, daß Pakistan einen Teil der Waffenlieferungen zurückhält. Die Milizen der Exilparteien sind inzwischen die einzigen halbwegs ausgerüsteten Kampfgruppen. Sie verfügen über Granatwerfer und panzerbrechende Waffen, operieren aber nur in grenznahen Provinzen. In einigen dieser Gebiete kommt es auch zu einer Zusammenarbeit mit den lokalen Widerstandsgruppen. Allerdings sind die Parteimilizen ungeliebte Verbündete, weil ihre Führung einer undurchsichtigen Interessenpolitik und der Geschäftemacherei beschuldigt wird.

Sunniten-Mullahs nicht so arg

Vage Hoffnungen auf eine dritte Lösung zwischen einem Regime im Sinne Moskaus und einer islamisch verbrämten Rückkehr zu den Zuständen vor 1978 sind heute so etwas wie eine unterschwellig verbindende Kraft.

Die eine Seite versucht, den Islam als Disziplinierungsmechanismus einzusetzen, genauso wie auf der Gegenseite im Namen der Linientreue Konkurrenten oder Kritik ausgeschaltet werden. Als Ungläubiger oder Abtrünniger gilt für die orthodoxen Extremisten im Exil jeder, der sich außerhalb einer religiösen Gelehrsamkeit politische Gedanken macht. Rund um Peshawar geschahen in letzter Zeit Dutzende politische Morde.

Es gibt Spekulationen, daß der KGB die Orthodoxen unterstützt, weil ihre Strategie ja durchaus in sein Konzept der Polarisierung passen würde. Besonders die Intelligenz ist von beiden Seiten in hohem Maß durch brutalen Terror betroffen, der oft die Züge einer Ausrottungspolitik trägt.

Schon ein Demokratie-Vokabular schafft in der offiziellen Exilszene Verdachtsmomente. Sozialistische Begriffe stehen für die meisten Afghanen auf Jahre hinaus auf dem Index, weil sie von Kabul und der Sowjetpropaganda in Besitz genommen worden sind.

Der Islam wirkt in Afghanistan als ein übergreifender Integrationsfaktor dadurch, daß er die gesamte Lebensweise prägt, nicht so sehr als politisch nutzbare Ideologie. Eine Khomeini-artige Bewegung zeichnet sich bisher nicht ab. Dafür fehlt im überwiegend sunnitischen Afghanistan auch eine religiöse Infrastruktur, die dem schiitischen Klerus im Iran vergleichbar wäre. Hier hatten die Mullahs nie einen allzustarken politischen und meinungsbildenden Einfluß.

Der Widerstand wird zwar im Zeichen des Islam geführt und generell als Djihad, als „Heiliger Krieg“ bezeichnet. Auch nennen sich die Dorf-Djirgas durchwegs „Islamisches Revolutionskomitee“, und jedes Schriftstück ist „Im Namen Allahs“ abgefaßt. Das alles sind aber Zeichen eines Strebens nach Identität, kultureller Selbstfindung und antikolonialistischer Haltung, und nicht so sehr religiöse Kampfparolen. Die im täglichen Leben erkennbare Religiosität hat erstaunlich wenig bigotte oder fanatische Züge.

Oft wurde ich erst nach stundenlangen Gesprächen vorsichtig gefragt, ob mein Land zum Ostblock gehöre, ob wir sozialistisch regiert würden, ohne daß diese Befürchtung die Gastfreundschaft im geringsten beeinträchtigt hätte.

Nach unseren Maßstäben sind die geäußerten politischen Absichten eher undeutliche, naive Hoffnungen. Prägnant ist man nur in dem, was abgelehnt wird: bekämpft werden die Russen, bekämpft wird ihr Regime in Kabul. Die Exilparteien werden als Keil in der Widerstandsfront empfunden. Ihre Alleinvertretungsansprüche finden in Afghanistan selbst bisher recht wenig Unterstützung. Die lokalen Widerstandsgruppen verstehen sich als geschlossene Nationale Befreiungsbewegung, auch ohne gemeinsame übergeordnete Organisation. Traditionelle Feindseligkeiten zwischen einzelnen von den insgesamt etwa zwanzig ethnischen Gruppen wurden bereits in bemerkenswertem Umfang abgebaut. Für separatistische Bestrebungen haben wir keine Anhaltspunkte gefunden.

Die Sicherung ethnischer und regionaler Autonomierechte hat in allen Zukunftsüberlegungen einen hohen Stellenwert. Die Vorherrschaft der Pashtunen ist unter dem derzeit herrschenden Druck kein vorrangiges Problem. Ihr soll mit einer stark föderalistischen Staatsstruktur begegnet werden.

Anwar Amin,
einer der Führer des Widerstands in Nordafghanistan

Politik à la Karl May

Für politische Parteien, die es in Afghanistan bisher immer nur ansatzweise oder im Untergrund gegeben hat, fehlt das Verständnis. Die Bestrebungen im Land selbst tendieren zu einer Konsolidierung des jetzt zersplitterten Widerstandes und zur schrittweisen Herausbildung von politischen Flügeln innerhalb der Befreiungsbewegung. Aus ihnen könnten später Parteien entstehen.

Im Frühjahr wurden große Hoffnungen in die Loya Djirga gesetzt, die große afghanische Bundesversammlung mit gewählten bzw. delegierten Vertretern allen Regionen. Sie tagte mehrere Wochen lang in Peshawar (Pakistan) und richtete dort auch ein ständiges Büro ein. Versammlung und Büro sollten die Plattform werden für eine Koordinierung des Widerstandes und eine Unterordnung der Parteiinteressen erreichen.

Die Loya Djirga ist seit der Gründung Afghanistans im Jahr 1747 immer nur zu äußerst wichtigen Anlässen zusammengetreten. Daß sie jetzt wieder zustandekam, wurde als wichtiges Anzeichen für ein Zurückstellen partikularer Interessen angesichts der Bedrohung des Landes gewertet.

Das Gremium ist aber ziemlich schnell dem professionellen politischen Spiel der Exilparteien erlegen. Die hatten kein Interesse, ihre Strategie und ihren Umgang mit Hilfsgeldern und politischen Verbindungen zu deklarieren und einer gemeinschaftlichen Kontrolle zu unterstellen.

Einer der einflußreicheren Parteiführer, Gilani, hat sich mittels eines cleveren Überrumpelungsmanövers zum Vorsitzenden der Loya Djirga wählen lassen. Dadurch ist sie zu einem Werkzeug bestimmter Exilparteien geworden, und das Vertrauen in ihre Möglichkeiten ist rapide geschwunden. Gilani selbst, ein reicher Aristokrat, früher Peugeot-Importeur in Kabul, gibt sich sehr westlich, hat bereits feudale Büros in London und Peshawar, stützt sich aber auch auf das religiöse Ansehen, das seine Familie ostentativ in Anspruch nimmt. In einem persönlichen Gespräch mit ihm sind keinerlei greifbare politische Ideen zutage getreten. Gegen ein Foto hat er sich lange gesträubt, weil er nicht beim Friseur war. Sein fetter Sohn läßt sich von Verehrern die Hände küssen.

Von den Exilparteien (nach unserer Zählung dreiundzwanzig) haben sich bis jetzt erst die sechs in der „Islamischen Allianz zur Befreiung Afghanistans“ zusammenarbeitenden „konservativen“ Parteien etabliert. Über sie laufen die internationalen Kontakte, sie versuchen die Flüchtlinge und die Flüchtlingshilfe zu kontrollieren, ihnen gelingt es, den größten Teil internationaler Hilfsgelder für den Aufbau ihrer Organisationen zu verwenden. Von den sechs Parteien der Allianz sind vier strikt islamisch orientiert, zwei vergleichsweise „liberal“.

Die vielen kleineren Parteien und parteiähnlichen Gruppen, die außerhalb der „Islamischen Allianz“’ bestehen, operieren oft nur halboffiziell oder im Untergrund. Sie könnten überwiegend links von den „Liberalen“ unter den Sechs eingeordnet werden. Das Spektrum reicht von der sich als sozialdemokratisch verstehenden pashtunischen „Afghan Mellat“ in New Delhi bis zu maoistischen Kleingruppen. Etliche von ihnen sind an der Organisation des Widerstandes in Afghanistan selbst beteiligt. Viele tarnen sich als normale Mujaheddin-Gruppen, ohne sich parteipolitisch zu deklarieren, um so langsam einen Rückhalt zu gewinnen.

Bisher wurden jedenfalls wie üblich die Falschen hochgespielt, jene, die das Spiel internationaler Beziehungen schon etwas beherrschen und in die oberflächlichen Orientbilder seit dem Khomeini-Phänomen zu passen scheinen. Die Wurzeln von Khomeinis Erfolg gehen aber bis auf Mossadegh zurück, auf die jahrzehntelang von allen Seiten im Stich gelassene Opposition gegen den Schah, die jetzt ihrerseits von einer sogenannten Revolution gefressen wird.

Der Widerstand in Afghanistan ist in Wahrheit noch immer sehr isoliert. Nach dem vorläufigen Scheitern aller Versuche, in Peshawar eine hinreichend akzeptierte Plattform afghanischer Interessen zu schaffen, sind die unabhängigen Mujaheddin-Gruppen immerhin seit dem Sommer intensiv dabei, sich eine eigene überregionale Organisation aufzubauen. Die Nuristanis und die Hazara, im Widerstand von Anfang an maßgeblich, operieren intern bereits weitgehend koordiniert. Damit soll ein geschlossenes Widerstandgebiet von Zentralafghanistan bis zur Ostgrenze geschaffen werden, das sich im Hochgebirge sehr lange halten könnte.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1980
, Seite 34
Autor/inn/en:

Christian B. Richter:

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Geographie