FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1970 » No. 197/I
Michael Buselmeier

Kaputte Lehrlinge

Deutsche Erstaufführung von Peter Tersons „Lehrlingen“ in Heidelberg

Das politische Bewußtsein der Lehrlinge ist in den letzten drei Jahren gewachsen. Durch gezielte Aktionen gegen Mißstände in den Betrieben, die in Lehrlingszeitungen vermittelt wurden, haben die Lehrlinge die Impulse der Studentenbewegung in eigene Praxis umgesetzt. Kaum noch eine Lehrlingsfeier ohne Protest. Und am 7. Juni 1969 demonstrierten in Köln 10.000 Lehrlinge gegen das bevorstehende Ausbildungsförderungsgesetz mit Sprechchören wie „Aktionäre an die Wand, Werke in Proletenhand“ und „Arbeitskampf ist Klassenkampf“.

In Peter Tersons Stück „Die Lehrlinge“, dessen deutsche Erstaufführung gerade in Heidelberg geschah, ist von alldem nicht einmal ein schwächlicher Reflex enthalten. Kein Hinweis ist darin zu finden auf die miserable Berufsausbildung, auf die Ausbeutung der billigen Arbeitskraft der Lehrlinge, auf die entfremdete Arbeit an der Maschine, auf die inhumanen Paragraphen des Lehrvertrags, die den Lehrling zu Gehorsam, Achtung, Arbeitsamkeit, Treue und gesitteter Lebensführung verpflichten, auf die in der Berufsschule gelehrte Ideologie, die die herrschenden Produktionsverhältnisse rechtfertigt.

Terson betreibt Konfliktverschleierung. Sein unkritisches Stück besteht aus einer Reihe längerer Szenen, die in einem Zeitraum von 18 Monaten jeweils am selben Ort und zur gleichen Stunde spielen: im Innenhof einer Fabrik während der Mittagspause. Eine Gruppe von Lehrlingen, „für eine beschissene Scheißstunde der Drehbank entkommen“, kickt aufs Tor, zwei ältere Arbeiter „sabbern ihren Brei“, junge Arbeiterinnen, ums Kofferradio versammelt, horchen aufs Schlagermagazin, plappern über Sex und Urlaub. Ab und zu erscheint der Vorarbeiter und meckert, weil der Ball über die Mauer geschossen wurde. Bisweilen geht eine Tippse über den Hof.

Im Mittelpunkt dieser Milieuszenen steht der 18jährige Douglas Bagley, Anführer der Lehrlingsbande, ein Schläger, „Superclown“, Weiberheld. Das Stück zeigt den Prozeß seiner Integration in die bestehende Ordnung. Zu Anfang noch motzt Bagley herum, überdreht lustig, verhöhnt die reaktionären Vorurteile der älteren Arbeiter, nennt die Fabrik ein Gefängnis, aus dem er noch ausbrechen werde, um Hippie zu sein. Dann aber macht er ein Kind und wird per Ehe sozialisiert. Seine rebellischen Gesten und Reden werden matt, und er paßt sich dem kleinbürgerlichen Verhalten der älteren Arbeiter an; mit ihnen wird er nunmehr regelmäßig übers Wochenende zum Fischen fahren: „Haltet mir mal schon ’n Platz frei, ihr Knacker, ich bring’ meine Thermosflasche mit. Das sind Aussichten.“ Bagleys nur jugendbedingter Protest ist vorbei.

Tersons Vorstellungen von den Arbeitern entsprechen durchaus dem Bild, das die sozial Herrschenden Tag für Tag verbreiten. Die Lehrlinge sind zwar sauer, meckern herum, doch geht ihre Opposition über harmlosen Unfug nie hinaus. Sie wollen nur eines: ’raus aus dem Dreck, nach oben. Einer avanciert ins Zeichenbüro, ein anderer zur Handelsmarine, ein dritter wird als Fußballprofi entdeckt. An die Stelle von Solidarität und Klassenbewußtsein ist der Kampf um eine bessere Stelle in der Betriebshierarchie getreten. Dieses Aufstiegsdenken kritisiert Terson weder, noch motiviert er es, er bestätigt es bloß fatalistisch.

Was den Sklaven auf dem Fabrikhof bleibt, ist die Sehnsucht nach dem scheinbar freien Leben der Künstler und Studenten, die freilich immer seltener sich zu artikulieren wagt, die Hoffnung auf einen Zustand aufgehobener Entfremdung, über dessen systembedingte Verhinderung weder die Lehrlinge noch ihr Autor informiert sind.

Genau diese Unwissenheit aber ist im Fall des Autors sträflich. Da Terson die soziale Bedingtheit der gezeigten Verhaltensweisen nicht reflektiert und statt dessen mit vager Geste alles global „Scheiße“ nennt, kann zuletzt nur ein verlogenes Stück entstehen: unwahr nicht nur als moralisches, sondern auch als ästhetisches Phänomen.

Tersons Stück vertritt stilistisch eine Art Pseudonaturalismus, eine Sprache, die immer so tut, als wäre sie „natürlich“, dies aber nur in einer ganz vordergründigen, oberflächlichen und klischeehaften Weise ist. So kommt es, daß die erschreckende Kommunikationsunfähigkeit der Arbeiter eher als komische Dummheit wirkt und die Verrohung ihrer Sprache als Gag goutierbar wird. Terson rettet sich, statt exakt zu begründen, in doofe Lustigkeit, und nur selten gelingt ihm ein Durchblick auf die Ursachen der versehrten Sprache. Die soziale Problematik des Themas wird mit dem Geschwätz oft ungemein schlampig geschriebener Dialoge verdeckt.

Das Fiese an solchem Theater liegt darin, daß es kaputte, verstümmelte Arbeiter als exotische Tiere, als teils komische, teils dumme, teils opportunistische Wesen prostituiert, und zwar vorwiegend einem Publikum gegenüber, das von der Ausbeutung dieser Verstümmelten lebt. Indem die versehrten Individuen sich ungeschickt verhalten, bieten sie dem Bürger zum Lachen Anlaß. Wie Zadeks Film „Ich bin ein Elefant, Madame“ die Schülerbewegung bewußt lächerlich machte, so denunziert Tersons Stück die sich politisierenden Lehrlinge naiv.

Hans Neuenfels, der durch die Aufführung von Tersons „Zicke-Zacke“ Anfang 1969 zum Popstar avancierte, danach aber von der bürgerlichen Presse und dem autoritären Theater, die ihn zuvor aufgebaut hatten, als „Gagregisseur“ fallengelassen wurde, hat „Die Lehrlinge“ inszeniert. Zu Neuenfels bleibt anzumerken, daß seine Arbeiten noch immer um einiges über dem feierlichen Stumpfsinn stehen, der allabendlich auf mehr als hundert deutschen Theatern zelebriert wird. Bei Neuenfels ist es manchmal lustig, und man kriegt öfters was Neues zu sehen. Wer, wofür es gute Gründe gibt, sein Poptheater als unreflektiert und affirmativ ablehnt, muß sich um so schärfer von jener reaktionären Bourgeoisie distanzieren, die Neuenfels bekämpft, weil er ihre Bildungserwartungen enttäuscht.

Schon auf Grund der Geschichte dieses Regisseurs war ein kritisches Verhalten gegenüber dem unkritischen Terson-Stück kaum zu erwarten. Dessen Fabel ist ohne größere Schwierigkeiten auf die westdeutschen Verhältnisse übertragbar. Dies würde freilich eine genaue Überprüfung des Arbeitermilieus bis in scheinbare Kleinigkeiten erfordern: deutsche Arbeiter trinken Bier statt Tee, ihre Aggressionsobjekte sind nicht Neger, sondern Gastarbeiter. Erforderlich ist weiterhin die Überprüfung jedes Ausdrucks und jeder Geste auf die Grundlagen ihrer Glaubwürdigkeit. Voraussetzung einer solchen Arbeitsweise, die auf dauerndem Prüfen basiert, wäre eine weit längere Probenzeit, als sie das bestehende Theatersystem zur Verfügung stellen kann.

Seinen Mangel an profunden Kenntnissen der Situation in den Betrieben versuchte Neuenfels dadurch zu kompensieren, daß er vorweg einen Film ablaufen ließ, der einen Stanzer bei der Arbeit zeigte; dazu erklang ästhetisierende Beatmusik. Filme im Theater, warum nicht? Bazon Brock und Peter Handke haben anläßlich der Experimenta 1969 aus ästhetischen Gründen dafür plädiert. „Gerade im Theater Filme zu sehen, ist befremdend schön und schön befremdend“ (Handke). Es müßte aber mehr als nur „schön“ sein. Dazu wäre es freilich nötig gewesen, nicht vor Beginn einen eher verschleiernden Film zu zeigen, sondern die Pausen zwischen den einzelnen Szenen mit kurzen Filmen zu füllen, die die Realität des Arbeitsprozesses unverhüllt zeigen: Akkordarbeit am Fließband und Maschinengeräusche, die physische und psychische Schäden zur Folge haben.

Klaus Gelhaar hat für Neuenfels ein schönes und zweckmäßiges Bühnenbild gebaut, eine hermetisch abgeschlossene Gefängniswelt: rostiges Wellblechgehäuse, grober Schotterboden, in dessen Mitte ein kleines Rasenquadrat; rechts führt eine Treppe hinauf zu einem Balkon, von wo aus die Vorgesetzten den Hof überwachen; die etwas abgesenkte Vorderbühne ist mit Blechfässern angefüllt. Dieser Raum bietet Voraussetzungen genug für eine kritische Inszenierung der „Lehrlinge“.

Neuenfels aber fand keine Konzeption. Bis zur Pause ließ er den klischierten Realismus Tersons unter weitgehendem Verzicht auf eigene Knalleffekte nachzeichnen. Im zweiten Teil wechselte er den szenischen Stil; nun wurde mit schnellen Bildschnitten, simultanem Sprechen, verselbständigten Gags und einzelnen Lärmexzessen gearbeitet. Generell wurde das, was bei Terson angelegt ist, verstärkt: die meisten Personen verkamen auf der Bühne vollends zu grob umrissenen Karikaturen, die dem Gelächter der Konsumelite ausgesetzt wurden, während wenige Protagonisten — Manfred Meihöfer (Harry), Gottfried John (Bagley), Ulrich Haß (Wags) — ihre Rollen persönlich profilieren durften. Statt die Vereinzelung der Lehrlinge, die letztlich aus der Unterdrückung am Arbeitsplatz resultiert, durch deutliche Verlangsamung von Gestik und Sprache sinnlich zu machen und daraus gezielte Aggressionen zu motivieren, inszenierte Neuenfels einerseits Langeweile und andererseits leere Exaltation, die bisweilen der Klamotte ziemlich nahekam.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1970
, Seite 547
Autor/inn/en:

Michael Buselmeier:

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