FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1972 » No. 219
Kurt Puchinger

Kann der Kapitalismus planen?

Am Beispiel der Wiener Kommunalwirtschaft

I. Lueger kontra Großbourgeoisie

Die Kommunalisierung wirtschaftlicher Schlüsselbereiche ereignete sich in Österreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter konservativer bürgerlicher Herrschaft (Lueger), zu einer Zeit, als „anderwärts solche Maßnahmen noch als gefährliche sozialistische Experimente gewertet wurden“. [1]

Im Zusammenhang mit den Eisenbahnbauten 1850-1860 hatte der Ausbau der österreichischen Großindustrie begonnen, und zwar auf der Basis einer wirtschaftlichen Struktur, die noch nicht den kapitalistischen Bedürfnissen entsprach.

Zwei Klassen standen auf Grund ihrer Stellung innerhalb der Warenproduktion gegen den liberalen Kapitalismus. Einmal die in eine vor- und frühkapitalistische Vergangenheit zurückblickenden selbständigen Handwerker und Kleingewerbetreibenden mit ihren Koalitionspartnern Adel und Krone; auf der anderen Seite die von sozialistischen Zielen geleiteten Industriearbeiter, die im Gegensatz zu den widerstreitenden Fraktionen der herrschenden Klasse, auf der politischen Ebene nicht in den liberalisierten neoabsolutistischen Staat integriert waren.

In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts konnte sich das Kleingewerbe mit Hilfe der aristokratischen Bundesgenossen gegen die aufkommende Großbourgeoisie auf politischer Ebene durchsetzen: die Christlichsozialen schlugen die Liberalen aus dem Felde. Durch die Gewerbegesetzgebung wurde auf zünftlerische Organisationsformen zurückgegriffen, staatliche Regelungen und Konkurrenzbeschränkungen zum Schutz bestehender Kleinbetriebe sind seither ein Bestandteil der österreichischen Wirtschaftspolitik.

Die vergleichsweise starke Besteuerung von Aktiengesellschaften und der allgemeine Kapitalmangel verfestigten die kleinbetriebliche Wirtschaftsstruktur sowie die Vorherrschaft der Banken bzw. ausländischen Kapitalgruppen. So wurde die Kommunalisierung und Verstaatlichung defizitärer Betriebe notwendig.

Die ersten Kommunalisierungen wurden nicht auf Grund der Stärke der Arbeiterklasse durchgeführt, sondern von bürgerlich-staatlichen Organen, um den Zusammenbruch „der Wirtschaft“ zu verhindern, das heißt, um den an den Versorgungs- und Energiesystemen (Bahn, Gas, Wasser, Straßen, städtische Verkehrsmittel etc.) hängenden Unternehmern die Profite ungeschmälert weiterhin zu garantieren. Die Defizite wurden aus dem Steueraufkommen gedeckt, also von der arbeitenden Bevölkerung.

Durch die Kommunalisierung defizitärer Betriebe übernehmen öffentliche Körperschaften die Garantie der Kapitalprofite und werden so „objektiv“ zum staatlichen Herrschaftsinstrument der Kapitalistenklasse. Die staatlichen Infrastrukturen von heute (Verkehr, Energie, Ver- und Entsorgung, Wohnbau) unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht von jenen Kommunalisierungsmaßnahmen.

II. Kriegswirtschaft erzwingt Mieterschutz

Zwischen 1893 und 1920 wurde in Wien an einem „Generalregulierungsplan“ herumgebastelt. Unmittelbarer Vorgänger dieses Planes, der sich aus mehr als zweihundert Teilregulierungsplänen zusammensetzt, ist der Bauzonenplan von 1893, der eine De-facto-Anerkennung der Nutzungsmischung in den bereits dicht bebauten Erweiterungs- und Erneuerungsgebieten darstellte und keinen Versuch einer Entmischung von Wohnen, Produktion und Erholung unternahm.

Über den Generalregulierungsplan, der von einem eigens dafür vom Gemeinderat geschaffenen Regulierungsbüro ab 1894 auf der Grundlage von Wettbewerbsentwürfen ausgearbeitet wurde, heißt es in einer neueren Studie, daß dort „ausschließlich die Interessen der Christlichsozialen oder verschiedener pressure groups innerhalb dieser Partei Berücksichtigung fanden“. [2] Die Funktion der planenden Stelle bestand darin, den ärgsten Übelständen abzuhelfen. Im übrigen durfte die private Initiative des Unternehmers bzw. Grundeigentümers in keiner Weise behindert werden. „Die Kommune konnte im Bereich der räumlichen Stadtentwicklung, soferne sie nicht selbst als Bauherr auftrat, nur reagieren, die Aktion ging von einzelnen Bürgern einer privilegierten Schicht aus, deren Handlungen für die Gemeinde nicht prognostizierbar waren, da sie keinerlei Möglichkeit zur systematischen Erforschung der Motive jener Gruppe hatte.“ [3]

Das Interesse jener pressure groups war, grob gesprochen, aus dem Eigentum an Grund und Boden Profit zu schlagen, und zusätzlich aus den darauf errichteten Objekten. Alle Kosten, welche die Amortisationszeit des investierten privaten Kapitals über das durchschnittliche Maß verlängert hätten, gingen zu Lasten der Gemeinde. Die Folge: Wuchermieten und ein Verbauungsgrad von 85 Prozent.

1917 wurde in Österreich, wie in anderen kriegführenden kontinentalen europäischen Staaten, eine kriegswirtschaftliche Mieterschutzverordnung erlassen, als vorübergehender Eingriff in die Wohnungswirtschaft. Diese Regelung wurde in die sozialdemokratischen Reformen übernommen und 1922 in das Mieterschutzgesetz umgewandelt. Seither war der Wohnungsbau für das private Kapital nicht mehr rentabel.

Was bedeutet eine solche Maßnahme, wenn die gesellschaftlichen Eigentumsverhältnisse nicht grundlegend geändert werden? Anstatt den Kapitalisten durch Enteignung überhaupt aus dem Geschäft zu katapultieren, wird ihm eine Einnahme beschnitten und eine andere gleichzeitig um ein Mehrfaches erhöht. Die Wohnung ist ein Teil der Kosten für den Unternehmer, der ja die Arbeitskraft kauft. Den Bau von Wohnungen übernimmt freiwillig die Gemeinde, sie übernimmt also Kosten für das Kapital. Auf Grund der sehr niedrigen Mieten konnten die Industrielöhne ebenso niedrig gehalten werden, was die Profite der Industrie begünstigte.

Auf der anderen Seite hatten diese Maßnahmen zur Folge, daß laut Verordnung die Mieter in den alten Häusern zur Bezahlung der Instandhaltungskosten herangezogen wurden. Sie müssen die Kosten der Wertsicherung tragen, das heißt das Risiko ist vergesellschaftet.

Da nun alle Hauseigentümer, trotz der gesetzlichen Kündigungsbeschränkungen, ihre Mieter loswerden wollten, um die Häuser abreißen und profitabler nutzen zu lassen, und da andererseits die Gemeinde nicht imstande war, die Wohnungsverteilung zu kontrollieren, außer bei den von ihr zunächst nur spärlich errichteten Wohnanlagen, entwickelte sich in beachtlichem Gleichklang die Eigenheimideologie sowohl bei den Kapitalisten wie bei den Sozialdemokraten: Kleingartenvereine und Lustgartenkonglomerate.

In einer Broschüre aus dem Jahr 1928 heißt es: „Ein wichtiges Vehikel in dieser Richtung bildet insbesondere das Bedürfnis nach Neubau von kleinen Eigenwohnhäusern. Das belebendste Stimulans der Prosperität des Gemeinwesens bildet jederzeit die Erweckung und Entstehung neuer Volksbedürfnisse.
Aus uns selbst heraus, aus dem Bedürfnis nach Eigenhäusern aber kann der erste Antrieb zur erhöhten Tätigkeit erwachsen. Um den Preis, im eigenen Haus wohnen zu können, werden viele mehr zu arbeiten und mehr zu sparen bereit sein. Wer unsere Bevölkerung seit der Nachkriegszeit beobachtet hat, die Besiedlung immer wachsender Grundflächen durch Schrebergärten und Weekendhäuschen, muß die Überzeugung gewinnen, daß gerade hier ein neues, mächtiges Volksbedürfnis am Werke ist.“ [4]

Man kann also das sagenumwobene „Rote Wien“ gerechterweise nicht ohne Einbeziehung der Kleingartenentwicklung beurteilen. Die politische Bedeutung des Auseinanderlaufens dieser beiden Tendenzen wurde von der Sozialdemokratie nicht reflektiert. Der Gemeindewohnbau konnte nur kurzfristig als emanzipatorische Maßnahme gelten; die Begründung blieb auf der ökonomischen „Sorgeebene“ für wirtschaftliche Entwicklung hängen — worin sich das staatstragende Bewußtsein der Sozialdemokratie manifestiert. [5]

III. Deportation der Mieter?

Während in der Zwischenkriegszeit ein Plankonzept nicht nachzuweisen ist, gibt es deren einige in der Zweiten Republik. Es sei kurz auf das erste hingewiesen, das von Roland Rainer stammt und das einigermaßen diskutabel war. Neben der mikroklimatisch äußerst günstigen, fast militärischen Ausrichtung der Wohnblocks mit viel „Betreten verboten“-Grün dazwischen, kennzeichnen zwei Momente dieses Konzept und alle folgenden:

  • Expansion des Siedlungsgebietes in Form von Satelliten, Halbsatelliten oder Aufbauachsen, die sich nach Vorhandensein gemeindeeigenen Grundes richten, und
  • die völlige Vernachlässigung sozialer Siedlungskonzepte für das Gebiet der Gürtelzone (Zweierlinie bis Vorortelinie), also der eigentlichen Wohngebiete der arbeitenden Massen. Diese werden per Planungskonzept in die äußersten Winkel des Gemeindegebietes verschickt.

Das zynische Pendant zu den gemeindlichen Deportationskonzepten sind die „Sanierungsversuche“ im innerstädtischen Bereich, z.B. Blutgasse-Schönlaterngasse. Die Relevanz solcher Versuche steht im umgekehrten Verhältnis zu den Preisen der dortigen Wohnungen (80 Quadratmeter um 900.000 Schilling).

Das, was sich als Gemeindeplanung ausgibt, nicht nur auf der Ebene des Wohnungsbaues, auch auf der der öffentlichen Verkehrsmittel, der direkten finanziellen Förderung privater Unternehmungen etc., ist nicht mehr eine laufende Kapitulation vor den Interessen des Privatkapitals — wie man in der Zeit der politischen Konfrontation gesagt hätte —, sondern ein relativ reibungsloses Hand-in-Hand-Arbeiten. Staatliche Wirtschaftsplanung im Kapitalismus überhaupt muß sich prinzipiell darauf beschränken, mit Hilfe von „Leitlinien“, „Zielsetzungen“ und „Empfehlungen“ so etwas wie ein kapitalistisches Gesamtinteresse zu formulieren, um nicht mit sich selbst in Widerspruch zu geraten. Solange die durch Vertragsfreiheit und Privateigentum geschützte Macht und Unabhängigkeit kapitalistischer Unternehmenskonzentrate bestehen, muß jede staatliche Planung scheitern, die nicht die Sicherung der Kapitalrentabilität als primäres Ziel setzt und die Verwirklichung aller anderen Absichten dem unterordnet.

[1Kurt W. Rothschild, Wurzeln und Triebkräfte der Entwicklung der österreichischen Wirtschaftsstruktur (Hg. Wilhelm Weber), Berlin 1961.

[2Renate Schweitzer, Der Generalregulierungsplan für Wien 1893-1920, in: Berichte zur Raumforschung und Raumplanung der österreichischen Gesellschaft für Raumplanung Nr. 6/1970.

[3Ebenda.

[4Gottfried Kunwald, Der Wohnungsbau in Wien, Wien 1928.

[5Marxistische Kritik, Wien, Heft 1/1971.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1972
, Seite 26
Autor/inn/en:

Kurt Puchinger:

Geb. 1946 Wien, cand. arch. 1970-1971, 1. Bundesvorsitzender des Verbandes Sozialistischer Studenten Österreichs.

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