Joannes Reuchlin und die Gestalt vom „guten Juden“
(Zum 80. Geburtstag Max Brods am 27. Mai 1964)
Max Brod wurde am 27. Mai 1884 in Prag geboren — also „als Böhmen noch bei Österreich war“, wie es in einem derzeit populären Wienerlied heißt. Daß gerade ein solches Lied derzeit populär werden kann, mag symptomatische Bedeutung haben. Auch in den etwas höheren Bezirken der Literatur obliegen wir ja, seit das alte Österreich nicht mehr existiert, der lieben Gewohnheit, alle, die auf seinem einstigen Gebiet zur Welt gekommen sind, für Österreich zu reklamieren. Und es gibt nur wenige, bei denen wir das mit so großer Freude und so tiefer Ehrerbietung tun könnten wie bei Max Brod. Er ist von Österreich her tatsächlich zur Welt gekommen, und zwar im umfänglichsten Sinn, nämlich im geistigen. Er hat die österreichischen und böhmischen Wurzeln seiner Herkunft aufs allerglücklichste mit den Traditionen und Verpflichtungen seines Judentums zur Synthese eines weltoffenen Humanismus verbunden, der in ihm einen seiner letzten großen Repräsentanten besitzt, und einen ungebrochen wirkenden dazu. Aus Israel, wo er seit einem Vierteljahrhundert lebt, kommt Brod fast alljährlich nach Deutschland (und leider allzu selten nach Österreich)‚ hält Vorträge und Vorlesungen, stellt die Thematik seiner religionsphilosophischen Schriften zur Debatte, liest aus seinem reichen belletristischen Werk, erzählt und diskutiert über seinen großen Freund und Gefährten Franz Kafka (dessen Weltruhm ohne die an Selbstaufopferung grenzende Obsorge Max Brods undenkbar wäre). Wir wüßten unter den heute in deutscher Sprache Schreibenden kaum einen zweiten, der über ein Register von gleicher Spannweite verfügt, kaum einen zweiten, der sich mit gleicher Kompetenz an die Übersetzung lateinischer und hebräischer Texte machen könnte, wie das der achtzigjährige Max Brod in seinem vor der Vollendung stehenden Werk über Joannes Reuchlin unternimmt. Wir sind stolz und glücklich, nachstehend einen Abschnitt aus dem Manuskript dieses Werks veröffentlichen zu können.