FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1973 » No. 229
Michel Bosquet

Jenseits der SP-KP-Allianz

P.S.U. und C.F.D.T. zu den Wahlen in Frankreich

Der 26. Oktober 1972 könnte in die Geschichte der französischen Arbeiterbewegung eingehen. An jenem Tag veröffentlichte eine nicht sehr gewichtige Gruppe der äußersten Linken ihr Programm: die Grundlage für den 8. Parteitag der P.S.U. (Parti Socialiste Unifié), 188 Seiten. Zum ersten Mal erreichte das politische Denken der französischen Linken das Niveau der besten italienischen Arbeiten.

Herablassendes Lächeln traditioneller Kommentatoren: Was bedeutet schon dieses Grüppchen politisierender Intellektueller, die sich den Kopf zerbrechen, was nach dem Kapitalismus kommen soll: sozialistische Gesellschaft, die frei, selbstverwaltet, dezentralisiert und doch geplant wäre; Aktionen, die dieser Gesellschaft den Weg bereiten könnten; Verhältnis zwischen solchen Aktionen und Zielen einerseits und den in Gang befindlichen Wahlmanövern anderseits? Die Antwort ist schnell zur Hand: „Die P.S.U. ist keine reale politische Kraft, ihr ‚Manifest‘ wird das Wahlresultat nicht beeinflussen.“

Möglich. Aber woran mißt man eine politische Kraft? Nach welchen Kriterien bezeichnet man die P.S.U. als politisch bedeutungslos, während man die SP sehr ernst nimmt, eine Partei, deren Mitglieder so gut wie unsichtbar sind und die seit 25 Jahren kaum einen Beitrag zur Theorie geleistet hat? Antwort: Die SP hat ihre Leute im Staatsapparat, sie ist daher regierungsfähig, eine Kraft bei den Wahlen und eine respektable Institution. Die Leute von der P.S.U. dagegen — wie auch die Maoisten, Anarchisten, Trotzkisten — stellen sich eine ganz andere Aufgabe: Ferment oder Geburtshelfer bei einer radikalen Umwandlung der Gesellschaft durch die Massen selbst, nicht durch jene, die die Massen regieren und manipulieren. Das Gewicht dieser politischen Kraft kann nicht an institutionellen Kriterien gemessen werden.

Aber sie existiert. Das Bemerkenswerte im Fall der P.S.U. ist gerade, daß diese gespaltene Partei, ohne klare Identität und mit geringer organisatorischer Kontinuität, entscheidenden Anteil hat am Wiedererstehen einer gegen den Staatsapparat und die parlamentarischen Wahlen gerichteten Strömung in der französischen Arbeiterbewegung. Das sieht man z.B. wenn man das Manifest der P.SU. mit den in derselben Woche veröffentlichten Thesen des Gewerkschaftsverbandes C.F.D.T. (Confédération Française Democratique du Travail, ehemals: Christlicher Gewerkschaftsverband), über Selbstverwaltung vergleicht: ähnliche Thematik, ähnliche Analysen und Zielsetzungen, gemeinsame Sprache.

Dies ist letztlich darauf zurückzuführen, daß C.F.D.T. wie P.S.U. Forderungen des Mai 1968 aufgreifen. Dazu bedurfte es jedoch einer eigenen Sprache. Die P.S.U.-Leute — unter anderen — haben sie mühsam geschmiedet, mit beträchtlichen Anleihen bei den Theorien der italienischen Bewegung. Die P.S.U. hat eine Denkweise und Sprache erarbeitet, die — trotz wichtiger Meinungsverschiedenheiten — auf unterirdischen Wegen in die Begriffswelt der C.F.D.T., eines Gewerkschaftsverbandes mit 700.000 Mitgliedern, eingedrungen ist.

Das wichtigste Thema, das C.F.D.T. und P.S.U. gemeinsam haben, ist die Selbstverwaltung. Dieser Ausdruck ist nicht sehr glücklich gewählt. Er wird mißbraucht und in widersprüchlicher Weise ausgelegt (wie übrigens auch die Ausdrücke „Faschismus“, „Sozialismus“, „Arbeiterkontrolle“ und andere). Die Losung „Selbstverwaltung“ bedeutet für jene, die sie geprägt und 1968 aufgegriffen haben, das folgende: Wir wollen nicht besser regiert werden, wir wollen uns selbst regieren. Wir wollen nicht besseren Führern die Macht geben, über uns zu entscheiden: Wir wollen diese Macht selbst ausüben, mit Hilfe unserer eigenen souveränen, kollektiven Entscheidungsorgane. Demokratie soll aufhören, ein Alibi für die Macht der Apparate zu sein, sie soll Wirklichkeit werden im Leben und in der Arbeit der Menschen.

„Selbstverwaltung“, schreibt die C.F.D.T., „ist eine Form der Machtausübung, im Betrieb, aber auch im Wohnviertel, in der Gemeinde, in der ganzen Gesellschaft.“ Sie „stürzt die Profitlogik um“, die Art und Weise, zu produzieren, zu konsumieren; Städte zu bauen; zu versorgen, zu befördern, zu erziehen, zu leben. „In einer Gesellschaft, die nicht selbstverwaltet ist, kann es auf die Dauer keine Inseln der Selbstverwaltung geben.“

Die C.F.D.T. verwirft also den Staatssozialismus (oder Staatskapitalismus) mit der gleichen Entschiedenheit wie den Privatkapitalismus: „Um die Selbstverwaltung zu verwirklichen, muß man zuerst die Kapitalisten enteignen; doch das genügt nicht. Man muß auch festlegen, wie die Arbeiter sich die Produktions- und Austauschmittel aneignen ... Wenn in einer sozialistischen Gesellschaft (oder in einer, die sich so nennt) die Arbeiter nicht die unmittelbare Entscheidungsgewalt über ihre Arbeitsmittel und Arbeitsbedingungen haben, sind sie im Begriff, ihre wirkliche Macht zu verlieren.“ Doch im gemeinsamen Programm der KP und der SP ist diese „unmittelbare Entscheidungsgewalt“ praktisch zugunsten einer Art Staatspaternalismus ausgeschlossen.

„Der Sozialismus, so wie ihn die traditionelle Linke versteht“, schreibt die P.S.U., „ist ein System, das für Wohnung, Ernährung, Erziehung sorgen soll. Um den Ausdruck zu gebrauchen, der wie eine Litanei in allen Abschnitten des ‚gemeinsamen Programms‘ wiederkehrt: er soll ‚die Bedürfnisse befriedigen‘. Aber nichts geschieht, um der menschlichen Gemeinschaft die Herrschaft über die Mittel der Kommunikation, des Austausches, der Wissensverbreitung, die Herrschaft über den Lebensrahmen zu geben; Bildung, Arbeit, Gesundheit der Menschen bleiben äußere Objekte. Der Mensch des Staatssozialismus ist ein Mensch der Bedürfnisse; man denkt nicht daran, daß er auch ein Mensch der Wünsche, der Freiheit sein könnte, einer, der diese Freiheit individuell und kollektiv auf schöpferische Weise gebrauchen will.“

C.F.DT. und P.S.U. stellen also der zentralistischen Konzeption des „gemeinsamen Programms“ ihre eigenen Programmvorschläge entgegen; diese setzen ebenfalls die Eroberung des Staatsapparates voraus, aber auch seine radikale Umwandlung und seinen allmählichen Abbau. Diese Umwandlung kann nicht von oben dekretiert werden, sondern nur das Ergebnis des „bewußten Handelns der Massen“ sein, mit dem Ziel, Organe der unmittelbaren Volksmacht zu schaffen und die Macht der zentralen Apparate einzuschränken. Diese „bewußten“ und „seibstgeleiteten“ Aktionen müssen der Eroberung der Zentralmacht vorangehen, denn nur so vermag die Arbeiterklasse zu erkennen, daß sie imstande ist, sich selbst zu befreien und zu regieren. Unter den Zielen, die erreicht werden müssen, „bevor eine bewußte Mehrheit den Staatsapparat erobert“, nennen sowohl C.F.D.T. als auch P.S.U. (diese in ausführlicherer Form):

  • völlige Umgestaltung der Arbeitsorganisation, Abschaffung der Hierarchien und der abstumpfenden Arbeit sowie jener Arbeitsbedingungen, die mit der Gesundheit und der kulturellen Entwickiung der Arbeiter unvereinbar sind;
  • Neugestaltung der Produktions-, Kontroli- und Instandhaltungsaufgaben;
  • Abwechseln in unangenehmen Beschäftigungen — wie Müllabfuhr —, damit es keine „Parias“ mehr gebe;
  • Selbstverwaltung der Informations-, Bildungs- und Kulturmedien, wie auch Umgestaltung der Schule, um die Erziehung aus einer gesonderten Tätigkeit zu einem integrierenden, permanenten Bestandteil von Arbeit und Leben aller zu machen;
  • Dezentralisierung der Entscheidungen, usw.

Die P.S.U. schlägt außerdem die Abschaffung der Polizei als permanente Körperschaft vor; ihre Aufgaben sollen entprofessionalisiert und Wohnviertelausschüssen, Freiwilligen oder zeitweilig Einberufenen übertragen werden. Man könnte auch noch die Volkstribunale hinzufügen, die in Kuba — von Berufsrichtern unterstützt — die Repression durch Vergleiche, Schiedssprüche, moralischen Druck und Bewährung ersetzen konnten.

„Die C.F.D.T. betrachtet den Übergang zum Sozialismus nicht als unmittelbares Ergebnis der Eroberung der Staatsmacht ... Es genügt nicht, die Regierung zu ändern, man muß auch die Art und Weise des Regierens ändern, indem man nach der Machtergreifung dezentralisierte politische Einrichtungen schafft, die imstande sind, die Selbstverwaltung zu fördem und zu sichem.“

„Ohne die Möglichkeit eines Wechsels durch Wahlen auszuschließen“, und „selbst wenn der durch die Eroberung des Staatsapparates bewirkte Bruch gewisse sofortige Veränderungen ermöglicht ..., wird der Übergang zum Sozialismus ein langandauernder Prozeß sein, in dem die sozialen Kämpfe und das Handeln der Volksmassen entscheidend sein werden.“

Hier liegt der Hauptunterschied zum gemeinsamen Programm der KP und SP: Da dieses an die unmittelbaren, disparaten Interessen aller Unzufriedenen appelliert, kann es kein Gesellschaftsprojekt sein, das die Massen, ihre Gegensätze überwindend, selbst in die Hand nehmen. Es kann nur den „nichtmonopolistischen Schichten“ einen Katalog von Maßnahmen vorsetzen, die allesamt von der Zentralgewait ausgehen und deren Stärkung voraussetzen: Wenn die Massen richtig wählen, werden sie gut regiert werden, aber jeder soll an seinem Platz bleiben.

„Es ist nicht verwunderlich, daß das gemeinsame Programm keinerlei Einheitsdynamik hervorbringt“, sagte Edmond Maire kürzlich in einem Interview für die italienische Tageszeitung „Manifesto“. „Unserer Meinung nach besteht die Einheitsdynamik darin, daß das Konzept des Sozialismus, und sogar das Programmkonzept, aus den tatsächlichen Kämpfen hervorgeht, so daß der Kampf von heute das Konzept für morgen in sich trägt. Ein solches Programm kann man nicht mit dem Stimmzettel verwirklichen; indem man es in der Aktion vorwegnimmt, schafft man die Möglichkeit, es morgen zu verwirklichen, mit einer Mehrheit, die dazu entschlossen ist. Ohne die Dynamik der Volkskämpfe kann die Kohäsion einer Wähler- und Parlamentsmehrheit nicht von langer Dauer sein.“

Eine Regierung der Linken kann nur dann dem Schicksal der Volksfront von 1936 einerseits und einer autoritär-bürokratischen Verknöcherung anderseits entgehen, wenn sie von einer Offensive der Volkskräfte getragen ist, die in allen Bereichen des sozialen Lebens Organe der direkten Demokratie schafft, die imstande sind, den Widerstand der Bourgeoisie, aber auch die autoritären Tendenzen der Zentralmacht zu brechen. „Die Arbeiter bekommen nur das, was sie sich nehmen“, heißt es im Manifest der P.S.U. „1936 hat die Volksfront keine einzige der in ihrem Programm vorgesehenen Maßnahmen durchgeführt. Umgekehrt war keine der Errungenschaften von 1936 im gemeinsamen Programm vorgesehen. Alle wurden in den großen Streiks von Mai und Juni 1936 durchgesetzt. Sobald die Arbeiter, den Aufrufen von KP und SP folgend, mit den Fabriksbesetzungen aufhörten, hörte auch das Parlament auf, Reformen zu beschließen. Dieser Pause folgte bald die Reaktion.“

Der Weigerung der C.F.D.T., das „gemeinsame Programm“ zu unterstützen, wird aus der nachstehenden Argumentation besser verständlich: Ein Wahlsieg kann für die Arbeiter eine Gelegenheit sein, Freiheiten und Machtbereiche zu erobern und eine radikale Umwandlung der ökonomischen, sozialen, kulturellen und psychologischen Strukturen einzuleiten. Dieser Befreiungsbewegung darf man nicht schon im voraus Grenzen setzen. Darum will die C.F.D.T.sich an kein Regierungsprogramm binden; sie will freie Hand haben, gegebenenfalls die Initiative der Massen zu koordinieren und zu leiten; und um die Gefahren des Staatszentralismus sowie des Wiederaufflammens der Reaktion zu vermeiden, will sie diese Initiative schon jetzt stimulieren, indem sie den Arbeitern klarzumachen sucht, daß ihre Macht weder vom Stimmzettel noch von den Dekreten einer Linksregierung kommen kann.

Ob die C.F.D.T. auf der Höhe ihrer selbstgestellten Aufgabe ist — und ob die P.S.U. imstande ist, die politische Grundlage dafür zu liefern —, das ist eine andere Frage. In seinem Interview für „Manifesto“ sagte Edmond Maire unverblümt, die C.F.D.T. habe sich noch lange nicht völlig von der zentralistischen und dirigistischen Tradition der französischen Arbeiterbewegung befreit, ihre Mitglieder seien meist nicht imstande, zu führen und zugleich die Initiative von unten zu stimulieren, und die Verbindung von betrieblichen und sozialen Kämpfen stelle Probleme, die noch weit von einer Lösung entfernt seien.

Was die P.S.U. betrifft, so wirft ihre dem Maoismus nahestehende Fraktion eine Reihe von Problemen auf, die der Parteiführung offenkundig Verlegenheit bereiten: Dies betrifft den Führungsstil, die Frage der Teilnahme am Parlamentarismus, den Prozeß der Machtergreifung und vor allem Organisationsprobleme, das heißt die Art und Weise, wie eine revolutionäre Partei aufgebaut und in den Massen verwurzelt sein soll.

Die P.S.U. ist offensichtlich nicht einheitlich und wird es auch nicht werden. Ebensowenig wird die C.F.D.T. je zu einem revolutionären Gewerkschaftsverband werden. Wozu also die „nebulosen Theorien“, wenn es gilt, Wahlen zu gewinnen und einen Staatsapparat in Besitz zu nehmen? Die Antwort ist einfach: Die Geschichte bleibt bei den Wahlen nicht stehen. Wie immer sie ausgehen, werden die Arbeiter um ihre Befreiung und gegen die diktatorischen Tendenzen der Zentralmacht — der jetzigen oder einer ganz anderen — kämpfen müssen. Wahrscheinlich wird weder die C.F.D.T noch gar die P.S.U. an der Spitze dieser kommenden Kämpfe stehen. Gewiß aber wird es Kämpfer geben, die von ihnen beeinflußt sind und dafür sorgen werden, daß der neue Kampftypus sich ausbreitet und seinen politischen Ausdruck in einer neuen revolutionären Kraft findet, die nur sie hervorbringen können.

  • C.F.D.T. — Confédération Française Democratique du Travail. Entstand 1919 als C.F.T.C., Confédération Française des Travailleurs chrétiens. Namensänderung auf dem Kongreß vom November 1964. Im Statut findet sich kein Hinweis mehr auf Enzykliken, christliche Moral u.dgl. Sie beruft sich im neuen Statut auf den Humanismus, „darunter auch der christliche Humanismus“. — Etwa 600.000 Mitglieder. Auf dem jüngsten Kongreß wurden als Hauptprogrammpunkte bezeichnet: 1. „demokratische Planwirtschaft“; 2. „soziales Eigentum“ an den Produktionsmitteln; 3. „Selbstverwaltung“. Der ehemalige Christliche Gewerkschaftsverband bekennt sich ausdrücklich zum Sozialismus.
  • P.S.U. — Parti Socialiste Unifié. Generalsekretär: Michel Rocard, einziger Abgeordneter der P.S.U.; in seinem Wahlkreis Yvelines besiegte er 1969 in einer Nachwahl den ehemaligen gaullistischen Ministerpräsidenten Couve de Murville. Gründung der Partei: 1960, agitierte damals vor allem für ein unabhängiges Algerien. Derzeit etwa 16.000 Mitglieder, 30 Prozent Studenten. Beschränkt auf lokale Schwerpunkte: Paris, Bretagne, Rhônetal, Lothringen und Süden. — Entstanden aus Leuten, die aus der KP und SP herausgingen, mit dem Ehrgeiz, die Linke zu einigen (daher der Parteiname). Derzeitiges Ziel: „Brücke“ zwischen APO-Linker und KP, Basisaktionen in Betrieben und Wohnvierteln.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1973
, Seite 13
Autor/inn/en:

Michel Bosquet: Pseudonym von André Gorz, unter dem dieser in seiner journalistischen Tätigkeit auftrat.

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags

Begriffsinventar