Streifzüge » Print-Ausgaben » Jahrgänge 2001 - 2010 » Jahrgang 2007 » Heft 41
Martin Scheuringer
2000 Zeichen abwärts

Jäger und Sammler des verlorenen Zitates

Der homo academicus verkörpert jenen Typus des Bürgers, der Lesen und Schreiben am intensivsten zu seiner beruflichen Praxis macht und dabei als zu bestaunendes Resultat eine Unmenge an Gescheitheit akkumuliert. Er darf auf einen Platz in dem gesonderten System der Gesellschaft hoffen, das sich der Fabrikation neuer Erkenntnisse verschrieben hat und mit viel symbolischem Kapital verbunden ist.

Die Exemplare dieser Subkultur sind getrieben vom Imperativ, ständig neues Wissen zu erzeugen, geradezu von einem Lesewahn ergriffenBeschleunigung ist auch in diesem scheinbar vom realen Warenverkehr entkoppelten System ein spürbares Phänomen: Es wird immer schneller gelesen und immer schneller geschrieben. Sogar die Begutachter von wissenschaftlichen Arbeiten haben nicht mehr die Zeit, eine eingehende Prüfung von Art und Stringenz der Begründung zu leisten. Vielmehr wurde die Begutachtung zu einer Bewertung rationalisiert: Relevant ist die Anzahl der zitierten Quellen; je länger das Literaturverzeichnis, desto gescheiter ist wohl das vorgelegte Forschungsergebnis. Die Arbeit scheint mehr Wert darzustellen, da wohl mehr Lesezeit drinnen steckt. Geprüft wird die Rasanz des akademischen Akkumulationsmechanismus, nicht die Brisanz des Denkens.

Wissenschaftler ähneln zusehends Sammlern, die sich durch den bibliothekarischen Dschungel schlagen, auf der Suche nach Früchten, die sie gewinnbringend in ihren Publikationen zitieren können. Das Buschmesser wetzt der eine schärfer als der andere, um eine Überleitung von Strauch zu Strauch freizuschlagen – wehe, es bleibt einer im Dickicht hängen. Das relativ sicher Ertrag bringende Sammeln wird nur von Waghalsigen unterlassen, zugunsten der riskanteren Jagd nach dem kaum zu findenden brennenden Dornenbusch, dessen göttliches Zitat Anerkennung und Auflage verspricht.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
2007
, Seite 28
Autor/inn/en:

Martin Scheuringer:

Geboren 1980, lebte bis 1999 im Mühlviertel und in Linz, seit 1999 in Wien. Studium der Soziologie und Philosophie, seit 2005 Mitglied der Redaktion der Streifzüge. Vater zweier Töchter und eines Sohnes. Würde gerne in die Praxis desertieren, findet aber das passende Fragment noch nicht.

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