FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1971 » No. 205/206
Eduard März

Ist Eigentum egal?

Walter Hesselbachs Beitrag zur Theorie und Praxis der Gemeinwirtschaft

Dr. Eduard März, arbeitet derzeit an einem Buch „Große sozialistische Ökonomen“ sowie an einer Neuauflage seines 1959 erstmals erschienenen Marx-Buches. Der Autor des von März rezensierten Buches, Dr. h. c. Walter Hesselbach, geb. 1915, ist Vorsitzender des Vorstandes der Bank für Gemeinwirtschaft, eines der größten Bankunternehmen der Bundesrepublik.

Walter Hesselbach hat die umfangreiche Literatur über die Theorie und Praxis der Gemeinwirtschaft um einen interessanten Beitrag bereichert. [1] Der große Wert dieser kleinen, aber dennoch sehr inhaltsreichen Studie, scheint mir darin zu liegen, daß der Autor von seinen reichen praktischen Erfahrungen ausgehend, einen den Gegebenheiten unserer Periode adäquaten Begriff der Gemeinwirtschaft zu erarbeiten versucht. Ich möchte vorwegnehmen, daß ich das kleine Büchlein für überaus wertvoll finde, zugleich aber auch recht kontroversiell und diskussionswürdig.

Hesselbach beschreibt die Geschichte und die gegenwärtige Bedeutung der vier großen Sektoren der deutschen Gemeinwirtschaft: Konsumgenossenschaften, Unternehmensgruppe Volksfürsorge, Unternehmensgruppe „Neue Heimat“ und Arbeitnehmerbanken. Für den Autor dieser Zeilen, der die deutsche Gemeinwirtschaft nur aus einigen wissenschaftlichen Arbeiten und gelegentlichen Zeitungsartikeln kennt, ist dieser Teil der Studie vielleicht der wertvollste. Es werden hier viele aktuelle Probleme angepackt, so zum Beispiel wie die Konsumgenossenschaften auf die Konzentrationstendenzen im Einzelhandel reagieren, wie sie sich vom Gedanken der Mitgliederförderung zu lösen beginnen und sich zunehmend auf das allgemeine Verbraucherinteresse hin orientieren.

Die gemeinwirtschaftlichen Leistungen der Wohnungsgesellschaften der Gruppe „Neue Heimat“ bestehen in erster Linie darin, daß sie auf die ungerechtfertigt hohen Differentialgewinne der Haus- und Grundstückeigentümer verzichten. Diese Unternehmungen verlangen nur die Kostenmiete des jeweiligen Baujahres zuzüglich der staatlich genehmigten Verwaltungskosten und wirken dadurch als Preisregulatorr am Wohnungsmarkt. Darüber hinaus spielen sie eine führende Rolle bei der Einführung neuer Baumethoden und haben eine große Anzahl vorbildlicher Großwohnanlagen geschaffen. Sie gehen heute zunehmend vom Bau einzelner Wohnsiedlungen zum umfassenden Städtebau über.

Hesselbach beschreibt mit einer großen, aus langer persönlicher Praxis erworbenen Kenntnis die Funktionsweise der Bank für Gemeinwirtschaft. Er vergleicht die Struktur dieser Bank mit drei ineinanderliegenden Kreisen. Im ersten Kreis ist sie Hausbank der Gewerkschaften und Konsumgenossenschaften und der gemeinwirtschaftlichen Unternehmen. Zur gegenwärtigen Zeit beträgt der Anteil dieses Kundenkreises am Passiv- und Aktivgeschäft weniger als zehn Prozent. Um diesen Kern legt sich der zweite Kreis, nämlich die Tätigkeit der Bank für Gemeinwirtschaft als allgemeine Geschäftsbank, die in den letzten Jahren ihr Niederlassungsnetz erheblich ausweiten konnte. Als dritten Kreis sieht Hesselbach den Einfluß auf andere in- und ausländische Bankhäuser und Spezialkreditinstitute. Dazu gehört auch die enge Zusammenarbeit mit anderen Gewerkschafts- und Genossenschaftsbanken und mit den gleichfalls gemeinwirtschaftlich orientierten Sparkassen.

Der Autor hebt insbesondere drei gemeinwirtschaftliche Aufgaben der Bank für Gemeinwirtschaft hervor: erstens die Sorge für die Liquidität der Gewerkschaften; zweitens die Sicherung der Liquidität der übrigen gemeinwirtschaftlichen Unternehmen und drittens eine gewisse ordnungspolitische Funktion im Geld- und Kreditsektor.

Das Buch Hesselbachs enthält auch eine recht flüchtig skizzierte Entwicklungsgeschichte der europäischen Gemeinwirtschaft. Diese Art der Darstellung läßt wohl die Vertrautheit des Autors mit dem Gegenstand recht deutlich erkennen, vermittelt aber, wie es bei einer so gedrängten Zusammenfassung unvermeidlich ist, kein sehr ausgewogenes Bild der allmählichen Ausbreitung dieser Wirtschaftsform.

Interessanter, ergiebiger, aber auch zugleich kontroversieller, ist der dritte Teil seiner Arbeit, in der er sich um Ansätze für eine Theorie der gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen bemüht. Er betont zu Recht, daß das europäisch-nordamerikanische Entwicklungsmodell des Industrialisierungsprozesses keineswegs das allein gültige sei und stellt diesem das japanische, russische und schließlich auch das chinesische Modell gegenüber. Er tritt dann dem weitverbreiteten Vorurteil entgegen, daß die Industrialisierung Europas den primär gewinnorientierten kapitalistischen Unternehmen zu verdanken sei. Erst heute, nachdem eine ganze Generation von ökonomisch orientierten Wirtschaftshistorikern sich um die Erhellung der komplizierten Zusammenhänge zwischen der privaten und der öffentlichen Wirtschaft bemüht hat, ist es verhältnismäßig leicht, die überragende Rolle des öffentlichen Sektors und anderer gemeinwirtschaftlicher Organisationsformen beim Aufbau der kapitalistischen Produktionsweise nachzuweisen. Wie Hesselbach ganz richtig erkennt, bedienen sich die jungen, industriell rückständigen Nationen des staatlichen Instrumentariums beim Aufbau einer Industriegesellschaft in weit höherem Maße als die USA und Europa im 19. Jahrhundert.

Man muß jedoch mit Überraschung feststellen, daß der Autor dem westeuropäischen „Neomerkantilismus“ so gut wie keine Beachtung schenkt. Schon in dem Kapitel, in dem die einzelnen Bereiche der Gemeinwirtschaft dargestellt werden, finden wir nur ganz flüchtige Hinweise auf das Bestehen von Industrieunternehmungen der öffentlichen Hand. Dies mag durch den Umstand bedingt sein, daß dieser Unternehmungsform in der Bundesrepublik nur eine relativ untergeordnete Bedeutung zukommt. Einige der größeren gemeinwirtschaftlich-industriellen Unternehmen, wie die Volkswagenwerke, die VEBA, die Preussag usw., sind ja bekanntlich zu einem großen Teil in Privatbesitz überführt worden.

Hesselbach kann es aber nicht unbekannt sein, daß in England, Italien, Frankreich, Holland und nicht zuletzt auch in Österreich das sog. verstaatlichte industrielle Unternehmen einen nicht unbeträchtlichen Anteil an der industriellen Wertschöpfung hat. Dies hängt zum Teil mit den Nationalisierungsaktionen nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen; zu einem vielleicht noch größeren Teil aber mit den Bestrebungen dieser Länder, den Aufbau neuer kapitalintensiver Produktionszweige (wie Computerindustrie, Petrochemie, Flugzeugbau usw.) durch einen massiven Einsatz staatlicher Mittel zu ermöglichen. Der westeuropäische Staat tritt so in eine wirtschaftliche Symbiose mit der Privatwirtschaft nicht bloß in den Sphären der Infrastruktur (was von Hesselbach hervorgehoben wird), sondern auch in einigen neuartigen „Schlüsselindustrien“, um einen Entwicklungsrückstand, insbesondere gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika, zu vermeiden oder jedenfalls zu verringern.

Hesselbach bedient sich gewöhnlich des Ausdrucks „pluralistische Gesellschaft“, wenn er von unserer gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialordnung spricht. Der alte, hausbackene Ausdruck „Kapitalismus“, der in der angloamerikanischen Literatur noch immer in Mode ist, wird von ihm fast immer vermieden. Immerhin anerkennt der Autor, daß es auch in einer „pluralistischen Gesellschaft“ soziale Gegensätze gibt und daß der Begriff „Gemeinwohl“ von Arbeitgebern oder Arbeitnehmern in sehr unterschiedlicher Weise definiert werden kann.

Dennoch spricht sich Hesselbach gegen einen „leeren“ Relativismus bei der Verwendung des Begriffs aus. Es gibt, so meint er, für die Möglichkeit sinnvoller Gemeinwohldefinitionen zwei Grenzen. Die erste Grenze ist die Zeitbezogenheit des Begriffs und die zweite die Notwendigkeit seiner Interpretation im Sinne eines „Humanismuszwanges“. Ob mit einer solchen Begriffsbestimmung ein „leerer“ Relativismus vermieden werden kann, scheint dem Verfasser dieser Zeilen außerordentlich fraglich. Unter „Humanisierung“ werden Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht immer das gleiche meinen. Man denke nur an die Frage der Einkommens- und Vermögensverteilung. Im übrigen verdeutlicht der Autor die Relativität dieses Begriffs durch den Hinweis auf seine Zeitbezogenheit. Sein Vorschlag, nach einem demokratischen Prozeß der Diskussion, eine Übereinstimmung darüber zu erzielen, was unter „Gemeinwohl“ zu verstehen ist, erscheint mir etwas naiv. (Siehe Seite 152.)

Für den gemeinwirtschaftlichen Charakter eines Unternehmens ist nach Hesselbach heute nicht mehr das Eigentum, sondern die Funktion bestimmend. Auch hier können sehr gewichtige Gegenargumente angeführt werden. Die in den USA recht populäre These von dem Riesenkonzern, der das Gewinnstreben gemeinnützigen Zielvorstellungen unterordnet, hat bekanntlich in der theoretischen Diskussion eine recht geteilte Aufnahme gefunden. Man wird gewiß nicht ableugnen können, daß Firmen wie General Motors, Standard Oil, General Electric usw. nicht die gleiche Preis- und Gewinnstrategie verfolgen können wie die kleine, in ihrer Existenz ständig gefährdete Firma des 19. Jahrhunderts. Aber die Institution des Privateigentums ist unauflöslich mit der Gewinnorientierung verbunden, und diese kann mit schweren Nachteilen für das öffentliche Interesse verbunden sein, wie die Diskussion über die stetige Verschlechterung der Umweltslage so deutlich gezeigt hat. Im Gegensatz zu Hesselbach ist der Rezensent jedenfalls der Meinung, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Eigentum und der gesellschaftlichen Funktion eines Unternehmens besteht.

Im Gegensatz zum Ostblock billigt Hesselbach dem westlichen Wirtschaftssystem eine grundsätzlich rationalistische Orientierung zu. Hier ist nicht der Platz, auf die bürokratische Deformation des planwirtschaftlichen Systems im Osten näher einzugehen. Wenn sich Hesselbach mit der Feststellung begnügte, daß auch die stalinistische und neostalinistische Wirtschaftsordnung keine attraktive gemeinwirtschaftliche Alternative gegenüber dem westlichen System darstellt, wäre ihm durchaus zuzustimmen. Aber man hat den Eindruck, daß Hesselbach — etwa im Sinne von Max Weber — ein durch gemeinwirtschaftliche Enklaven aufgelockertes privatwirtschaftliches System als die rationalistische Lösung schlechthin ansieht. Dies geht unserer Meinung nach aus einer Stelle hervor, die in dem Abschnitt „Zielepluralismus der Unternehmen“ zu finden ist:

Die Anerkennung des Pluralismus im Unternehmensbereich führt dazu, daß auch die Verfechter der gemeinwirtschaftlichen Unternehmen dieses Prinzip nicht mehr für die gesamte Wirtschaft deklarieren, wie dies noch nach dem Ersten Weltkrieg bei Walter Rathenau der Fall war. Wenn sie die Prinzipien der Gemeinwirtschaft für alle Wirtschaftsobjekte und für die gesamte Wirtschaft verbindlich erklären, dann fallen sie nur von einem Extrem ins andere und machen sie sich desselben Fehlers schuldig, der heute durch die Überbetonung des privaten Gewinnstrebens begangen wird. Jeder Ausschließlichkeitsanspruch für ein Verhaltensprinzip widerspricht der Vielgestaltigkeit der Welt und der in ihr herrschenden Motive. Im Gegenteil: Wir sehen in der Vielfalt der Unternehmenstypen in der Wirtschaft unter dem Aspekt höchstmöglicher Freiheit einen Wert an sich.

(Seite 153/154)

Man kommt zum Schluß, daß Hesselbach, wie weiland Hegel und seine Schule, den von ihm erarbeiteten Gemeinwohlbegriff letzten Endes dazu verwendet, um die bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung als die beste aller möglichen Welten zu charakterisieren. Ich gebe zu, daß es der langen Schule von Sozialisten — von Robert Owen über Karl Marx bis zu den neuen Vertretern des Sozialismus wie etwa Otto Bauer und G. D. H. Cole — nicht gelungen ist, ein sehr überzeugendes Modell eines vorwiegend gemeinwirtschaftlich orientierten Systems zu entwerfen. Aber die Sehnsucht nach einer besseren Welt als der heutigen wird, wie ich glaube, ein Ansporn sein für weitere geistige sowie praktische gesellschaftspolitische Experimente.

[1Walter Hesselbach, Die gemeinwirtschaftlichen Unternehmen, Instrumente gewerkschaftlicher und genossenschaftlicher Struktur- und Wettbewerbspolitik, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1970.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1971
, Seite 1180
Autor/inn/en:

Eduard März:

Leiter der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Arbeiterkammer Wien, Professor für Nationalökonomie an der Wirtschaftshochschule Linz, einer der wenigen Theoretiker der österreichischen Sozialdemokratie, Vertreter eines undogmatisch und antidogmatisch offenen Austromarxismus.

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