FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1966 » No. 155-156
Horst Knapp
Knapp glossiert

Inflation 1967

Eine Lohnsteigerungsrate von 10% pro Jahr halten die Expansionisten für ebenso untragbar wie die Restriktionisten, und beide Gruppen sind sich darin einig, daß dieses Auftriebstempo wesentlich vermindert werden muß. Hingegen scheiden sich die Geister, sobald es um das Ausmaß der Lohnbremsung und um den einzuschlagenden Weg geht.

Die Restriktionisten wollen mit den Instrumenten der Budget- und insbesondere der Kreditpolitik die inländische kaufkräftige Nachfrage drosseln und damit gleichermaßen die Begehrlichkeit der Gewerkschaften und die Bereitschaft der Unternehmer treffen, branchenweise, betrieblich oder im Einzelfall höhere Löhne und Gehälter zu konzedieren. Daß eine solche Restriktionspolitik partiell zu Produktionseinschränkungen und zur Freisetzung von Arbeitskräften führt, ist nicht ein Begleitumstand, den man in Kauf nehmen muß, sondern die Ultima ratio dieses Kurses.

Der Stabilisierungseffekt wird offensichtlich nur dann erreicht, wenn das bei den Lohnsteigerungsprozenten erzielte Minus größer ist als das, was bei den Produktivitätssteigerungs- und damit auch den Wachstumsprozenten in Kauf genommen wird.

Damit die Inflationsrate auf die realistischerweise anzustrebenden 2 bis 2½% zurückgeht, muß eine Verminderung des Wachstumstempos auf 2% ausreichen, den Lohnauftrieb von 9 bis 10% auf 4 bis 41%, zu reduzieren.

Auf längere Sicht erscheint das nicht ausgeschlossen. Aber wenn wir auf restriktivem Wege die heute zweifellos überspannten Einkommenserwartungen auf ein halbwegs geldwertneutrales Niveau reduzieren wollen, kann sich der Wachstumsverzicht nicht auf ein paar Monate beschränken. Vielmehr werden wir etwa zwei Jahre lang eine auf höchstens die Hälfte der jetzigen reduzierte Wachstumsrate in Kauf nehmen müssen.

Wie sieht die Alternative der Expansionisten aus? Voraussetzung auch dieses Kurses ist eine Verlangsamung des Lohnauftriebes. Unter der Annahme, daß a) die Obergrenze für ein gleichgewichtiges Wachstum heuer und 1967 bei etwa 4½%, auf längere Sicht nicht über 5½% liegt; b) solche Wachstumsraten eine Vergrößerung des genützten Arbeitskräftepotentials erfordern; c) die Volkseinkommensverteilung zunächst konstant bleiben soll; d) die Inflationsrate tunlichst 2% nicht übersteigen sollte, dürften die Durchschnittsverdienste nominell nur um vorderhand 6% und späterhin etwa 7% pro Jahr steigen.

Nach Ansicht der Expansionisten soll diese Lohnbremsung nicht im Wege der generellen Nachfragebeschränkung erreicht werden; denn wenn diese zu einem Absinken der Wachstumsrate führt, geht die obige Rechnung nicht auf. Der einzige gangbare Weg ist der eines mit den Arbeitnehmervertretungen vereinbarten einkommenspolitischen Konzepts, das aber — und das ist entscheidend — zugleich ein wachstumspolitisches Konzept sein müßte, weil sonst die Wachstumsraten, auf denen das Konzept aufgebaut ist, nur auf dem Papier stünden.

Die Voraussetzungen für eine expansive Stabilisierungspolitik sind in Österreich günstig: Wir haben ausreichende valutarische Reserven, und wir haben Arbeitnehmervertretungen, die dank einer international selten erreichten Organisationsdichte, einer klaren Kompetenzverteilung und insbesondere der Integrierung aller politischen Richtungen eine ungleich konstruktivere Haltung einnehmen als nahezu alle ihre ausländischen Schwesterorganisationen.

Für eine freiwillige Lohnbremsung müßten allerdings drei Voraussetzungen erfüllt sein:

  1. Es muß Vorsorge dafür getroffen werden, daß die Lohndisziplin der Gewerkschaften nicht durch einen verstärkten „wage drift“ wettgemacht wird. Dazu braucht man keine „industrielle Reservearmee“, denn die gegenwärtige Überbeschäftigung in Österreich ist eine durchaus künstliche. Eine aktive Arbeitsmarktpolitik im Verein mit einer Aufstockung der Fremdarbeiterkontingente müßte aüusreichen, den Arbeitsmarkt so weit zu entspannen, daß sich der „wage drift“ im wesentlichen auf die — durchaus vernünftige — leistungsgerechte Korrektur der notwendigerweise nivellierten Kollektivvertragslöhne reduziert.
  2. Die freiwillige Selbstbeschränkung der Gewerkschaften müßte Teil eines allgemeinen einkommenspolitischen Konzepts sein, das sich beispielsweise zum Ziel setzt, daß der Wachstumsstoß, den die österreichische Volkswirtschaft jetzt dringend braucht, zwei oder drei Jahre lang dadurch unterstützt wird, daß die Unternehmereinkommen leicht überproportional steigen, wogegen nach Erreichung der angestrebten realen Wachstumsrate von 5 bis 5½% die Weichen so gestellt werden, daß die durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen in beiden Gruppen gleichmäßig zunehmen.
  3. Die wohl wichtigste Voraussetzung ist aber ein wachstumspolitisches Konzept — einige ganz konkrete Gruppen von Maßnahmen, um Wachstumshemmnisse zu beseitigen und da und dort Wachstumsimpulse zu geben.

Die Budgetpolitik und im besonderen die Investitionspolitik des Bundes und der übrigen Gebietskörperschaften; die Reorganisierung und Finanzierung der verstaatlichten Unternehmen; eine Energieplanung auf längere Sicht; und die Koordinierung der öffentlichen Bauaufträge und -darlehen müßten in den Dienst einer wachstumsorientierten Strukturpolitik gestellt werden. Ohne jenen Teil der „Planifikation“, über den man sich ideologischpolitisch ereifert, könnte man solcherart einen sehr beträchtlichen Prozentsatz der Nachfrage — und der Kapitalströme — von Engpaßbereichen weg- und zu wachstumsträchtigen Stellen hinlenken.

Über die Chancen der Realisierung eines solchen Konzepts hin und her zu theoretisieren wäre nicht sehr fruchtbringend. Ungleich sinnvoller wäre es, mit Vertretern des ÖGB und der Arbeiterkammer Sondierungsgespräche zu führen.

Ich wollte, ich hätte damit unrecht, daß der Ernst der Stunde nicht einmal in erster Linie in der ökonomischen Situation liegt, auf die wir zusteuern, und auch nicht so sehr darin, daß fürs erste die Weichen der Budget- und der Währungspolitik schon gestellt wurden. Was den Ernst der Stunde ausmacht, ist vielmehr die erschreckende Tatsache, daß sechs Monate Alleinregierung und Opposition genügt haben, beide Seiten mit tiefsitzendem Mißtrauen zu erfüllen. Die Verhältnisse sind schon so verkrampft, daß jede Seite den guten Willen der anderen bezweifelt.

Auf ÖVP- bzw. Unternehmerseite bezweifeln die Wohlmeinenden die Fähigkeit, die weniger Wohlmeinenden aber einfach die Bereitschaft des Gewerkschaftsbundes und des Arbeiterkammertages, die Fachgewerkschaften und die Betriebsräte zu einer Lohnpolitik der Mäßigung anzuhalten, und dies wäre der Angelpunkt jedes nicht-restriktionistischen Konzepts. Den Beweis für die Berechtigung solcher Zweifel glaubt man, außer in Äußerungen des ÖGB-Präsidenten Benya aus jüngster Zeit, in der Lohnoffensive 1966 zu sehen; da sie in dieser Massivität weder mit Produktivitäts- noch mit Preissteigerungen zu motivieren war, müsse sie (oppositions-) politische Gründe gehabt haben.

Zur Verstärkung des Mißtrauens durchaus angetan ist die ständige Forderung nach „Wirtschaftsprogrammierung“ zusammen mit der Haltung der Arbeitnehmervertretungen zu notwendigen strukturellen Anpassungen — insbesondere zur Schließung nicht lebensfähiger Betriebe. Dies läßt Zweifel aufkommen, ob das grundsätzliche Ja der Arbeitnehmervertretungen zu einer Struktur- und Wachstumspolitik ernst gemeint ist.

Auf Arbeitnehmerseite kristallisiert sich das Mißtrauen um die Budgetpolitik. Die Wachstumsgesetze seien in einer Form beschlossen worden, die deutlich zeige, daß der ÖVP die Verminderung der Steuerbelastung der Unternehmer mehr am Herzen liege als eine zielführende Wachstumspolitik.

Besonders große Verstimmung hat das Budget für 1967 ausgelöst, und zwar schon durch die Art seiner Erstellung. Der Beirat ist wochenlang „Gewehr bei Fuß“ gestanden, aber Minister Dr. Schmitz hat es nicht für notwendig befunden, ihn zu konsultieren.

Nach Ansicht der Wohlmeinenden gedankenlos, nach Überzeugung der weniger Wohlmeinenden aber in voller Absicht habe der Finanzminister über den funktionellen Verteilungsaspekten die personellen (lies: politischen) vernachlässigt und unter dem Vorwand eines Wachstumsbudgets ein typisches ÖVP-Budget erstellt. Die Nutznießer diese Budgetpolitik sind die Bauern (Rekorddotierung des Grünen Planes, Verschonung beim Subventionsabbau) und auf längere Sicht (Wachstumsgesetze) die Unternehmer. Die Leidtragenden sind einseitig die Arbeiter und Angestellten (Preiserhöhungen mit regressiver Wirkung, Stillstand in der Sozialpolitik, Hinauszögerung der überfälligen Lohnsteuerreform).

Nicht eben zum Abbau des Mißtrauens angetan sind die jüngsten Querschüsse gegen das Sanierungskonzept für die verstaatlichte Industrie. Plötzlich würden die alten ÖVP-Dogmen: Finalfertigungs-Tabu, Auflösung des Investitionsfonds, Verbot der Bereitstellung von Budgetmitteln wieder ganz offen dekretiert. Das mußte die Fronten versteifen, die sich seit der vom Votum des SP-Parteiobmannes deutlich abweichenden Erklärung Präsident Benyas schon etwas aufgelockert hatten. Darüber hinaus mußten Zweifel daran aufkommen, ob das grundsätzliche Ja der Unternehmervertretungen zu einer Struktur- und Wachstumspolitik ernst gemeint ist.

Zumindest im Bereich der Währungspolitik wäre es noch jederzeit möglich, an die Stelle der bereits beschlossenen Überbrückungsmaßnahmen endgültige Lösungen zu setzen, die die wachstumspolitische Orientierung der Budgetpolitik zumindest nicht konterkarieren. Zu denken wäre z.B. an eine Aktivierung der Counterpart-Gebarung unter Vorgriff auf künftige Rückflüsse. Jetzt, da die große Lohnrunde praktisch abgeschlossen ist, bestünde noch die Chance, das auf uns zukommende Debakel der Wirtschaftspolitik im Jahr 1967 noch abzuwenden.

Symptomatisch für die derzeitige Sichtweite unserer Wirtschaftspolitik ist aber der jüngste Beschluß des Generalrats der Nationalbank. Wollen wir uns mit dieser (Jahres-) Ende-gut-alles-gut-Illusion darüber hinwegtäuschen, daß nicht nur auf dem Kreditmarkt die Schwierigkeiten mit dem Jahreswechsel nicht enden, sondern erst richtig beginnen werden? Wenn wir nicht schnell und entschlossen handeln, steigt die Inflationsrate 1967 unweigerlich auf 4 bis 5%, und ebenso unweigerlich werden die in diesem Fall unvermeidbaren Anti-Inflationsmaßnahmen das Wachstum scharf abbremsen: vielleicht auf 3%, vielleicht aber auch auf 2% oder noch weniger.

Das ist nicht Schwarzmalerei, sondern gesunder Menschenverstand. Wird der gesunde Menschenverstand in elfter Stunde vielleicht doch noch stärker sein als das gegenseitige Mißtrauen?

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1966
, Seite 784
Autor/inn/en:

Horst Knapp:

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