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Uli Trostowitsch

Im Meer von Blut kein Grund

Afghanistan und die Konsequenzen
Kabul, Jänner 1980:
Wer ist erschossen? Totenliste (Foto AFP/Votava)

Militär geht im Kreis

Afghanistan ist ein Staat von 650.000 Quadratkilometern und mehr als 20 Millionen Einwohnern. Auf einen Quadratkilometer kommen also im Durchschnitt 31 Personen (in Österreich 90, in der BRD 247). Staatsreligion ist der sunnitische Islam (im Gegensatz zum schiitischen Persien). 88 Prozent der Bevölkerung sind „ohne Schulbildung“ (das heißt: Analphabeten). Das jährliche Bruttosozialprodukt je Einwohner macht — nach den Angaben der Weltbank — 190 Dollar aus (in Österreich 6140, in der BRD 8160). Auf der internationalen Rangliste steht Afghanistan damit an 140. Stelle. 12 Prozent der Bevölkerung sind Nomaden oder Halbnomaden — jeder achte Afghane. Nur jeder sechste Afghane (15 Prozent) lebt in Städten: die größte afghanische Stadt, Kabul, hat 320.000 Einwohner.

Ende Dezember 1979 marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein. Sie intervenierten in einem Bürgerkrieg, bei dem sich die Parcham(= Fahne)-Fraktion der „Volksdemokratischen Partei“ (VDPA) und verschiedene Widerstandsgruppen gegenüberstehen. Die „Befreiungsbewegungen“, untereinander bekanntlich zerstritten, werden hauptsächlich von den USA, von Saudi-Arabien und von Pakistan unterstützt. Außerdem gibt es militante Moslems, die Beziehungen zu Teheran haben, tadschikische und usbekische Gruppen, die vermutlich mit China in Verbindung stehen, sowie die Behlutschen, die zugleich gegen Pakistan, die afghanische Zentralregierung und gegen den Iran kämpfen. Auch kleine maoistische und linkskommunistische Gruppen sind vorhanden.

Schon seit längerem befand sich der — an sich rudimentäre — afghanische Staat im Zustand der Auflösung. Die Armee verteidigte nur noch die Städte, über große Gebiete hatte die Zentralregierung fast jeden Einfluß verloren. Der Militärputsch gegen die Regierung Khafizoulla Amin im Dezember 1979, kombiniert mit der sowjetischen Invasion, sollte die Wende bringen. Zum ersten Mal intervenierte die sowjetische Armee in einem Land außerhalb des Warschauer Pakts. Westliche Strategen erblickten die Russen bereits an den Ufern des Öl-Golfs, sagten die Eroberung Pakistans und womöglich des ganzen indischen Subkontinents voraus. Laut Moskauer SprachregeIung handelt es sich lediglich um „brüderliche Hilfe“ gegen den CIA und dessen reaktionäre Handlanger. Tatsächlich spielt Afghanistan selbst in den weltpolitischen Kalkülen eine untergeordnete, vor allem propagandistische Rolle. Dieses Land ist nur ein Steinchen im Brettspiel der Großmächte um „Einflußzonen“.

Bisweilen wurde in der westlichen Presse die Invasion Afghanistans mit der sowjetischen Rolle in Äthiopien verglichen. Es stimmt, beide Länder haben manche strukturelle Ähnlichkeiten, die typisch für die Probleme der Dritten Welt sind: Ein verstocktes Feudalregime, dem Staat und Gesellschaft unter der Hand zerbröckelten. Wachsendes Elend und Hungersnöte, von denen die gesellschaftlichen Traditionen zerrüttet wurden. Dann ein Milltärputsch unter progressiven Vorzeichen, der aber sämtliche konservative — und auch manche nichtkonservative — Machtelemente gegen sich aufbringt. Als Notnagel die sowjetische Waffenhilfe, die fürs erste das Blutbad nur verlängert.

Zäher Feudalismus

Den Staat Afghanistan, den es erst seit dem 18. Jahrhundert gibt, haben die Eroberungen der Durrani-Konföderation geschaffen, einer Allianz von paschtunischen Stämmen (heute stellen die Paschtunen mehr als 60 Prozent der Bevölkerung). Die Dynastie der Durrani regierte bis ins 20. Jahrhundert.

1722 eroberten afghanische Stämme die damalige persische Hauptstadt Isfahan und beherrschten den Iran bis 1736. Achmed Schah Durrani plünderte 1756 die indische Metropole Delhi. Allerdings, die afghanischen Könige blieben nach feudalem Brauch stets auf die freiwillige Zusammenarbeit ihrer Stammesfürsten angewiesen.

Dieser feudalistischen Organisation gelang es, zwei britische Invasionen (1842 und 1879) zurückzuschlagen. Das zaristische Rußland, das 1867 Samarkand erobert hatte, verzichtete Ende des 19. Jahrhunderts auf jeden Einfluß in Afghanistan, um britische Zugeständnisse am Balkan und am Schwarzen Meer zu erhalten. Das britische Empire verleibte sich afghanische Gebiete östlich des Khaiber-Passes ein, die heute zu Pakistan gehören. Immerhin, der ständige Druck von außen schuf so etwas wie ein afghanisches Nationalgefühl. 1919 verwickelten die Afghanen die indisch-britische Armee in einen vehementen Grenzkrieg, der mit Konzessionen der Engländer endete.

Zu dieser Zeit begann in Afghanistan eine Modernisierungsphase. König Amir Amanullah, der gern der Atatürk Afghanistans geworden wäre, wollte die parlamentarische Demokratie übernehmen, ein bürgerliches Gesetzbuch einführen, den Frauen das Wahlrecht geben und den Schleier wegnehmen, eine stehende Armee aufbauen. 1921 schloß Amanullah einen Freundschaftsvertrag mit Lenin, obwohl die Afghanen mit den islamischen Gegnern der Bolschewiki sympathisierten (der Emir von Buchara emigrierte nach Kabul). Aber auch die Sowjetunion trat in die Fußspuren der klassischen russischen Politik und einigte sich mit den Briten auf eine „Neutralisierung“ Afghanistans, das daraufhin von den Russen keine Hilfe mehr zu erwarten hatte.

1929 wurde Amanullah, gerade auf einer Reise durch Europa, von den Mullahs gestürzt. Über seinen Nachfolger Nadir Khan steht im Geschichtsbuch: „Er setzt die Reformen in sehr vorsichtiger und gemäßigter Weise fort.“ In Wahrheit hat er sie liquidiert. Nadir Khan restaurierte die feudale Gesellschaftsordnung, die praktisch bis zum Militärputsch am 27. April 1978 ungebrochen fortbestand.

Analphabeten und Winkelschreiber:
Kabul, Herbst 1979 (Foto ADN/Votava)

Abschnürung & Einkreisung

Ein wesentliches Thema der afghanischen Außenpolitik sind die sechs Millionen Paschtunen, die von Britisch-Indien unterworfen worden waren und — nach dem Rückzug der Engländer — an Pakistan angeschlossen wurden. Ihr Häuptling, Abdul Geffar Khan, ist heute noch sehr aktiv, er arbeitet auf die Renaissance Großafghanistans hin. Hingegen hat die neue Regierung Karmal in Kabul nach dem Dezember 1979 Pakistan ihre Freundschaft angeboten.

Ende der vierziger Jahre führten paschtunische Guerillas von Afghanistan aus Krieg gegen die pakistanische Armee, die 1950 die Grenze zwischen beiden Staaten dichtgemacht hat. Damit wurden wichtige Handelswege abgeschnitten, Afghanistan suchte wirtschaftlichen und politischen Rückhalt bei der Sowjetunion, die ihrerseits Fäden mit Indien knüpfte. Ein Staatsbesuch des afghanischen Diktators Daud in Neu-Delhi machte 1975 den Pakistani Angst vor einer „afghanischen Einkreisungspolitik“.

Wichtiger noch waren die inneren Probleme des Landes. Die Sperrung der afghanisch-pakistanischen Grenze verbitterte die kleine Schicht der Händler und Kaufleute. Die oppositionelle Gruppe Wikh-i-zalmayan (Bewegung der erwachten Jugend), 1947 gegründet, aus Beamten und Studenten bestehend, wurde 1952 zerschlagen, ihre Kader verhaftet.

„Erwachte Jugend“

Damit war die Situation keineswegs bereinigt. Aus der „Bewegung der erwachten Jugend“, einer liberalen Gruppierung, ist die spätere Volksdemokratische Partei hervorgegangen. Die Monarchie, die sich immer stärker an den Schah anlehnte, kam in Verruf, weil die herrschende Klasse in Kabul fürchtete, ihre Unabhängigkeit an den Iran zu verlieren. Am 17. April 1973 stürzte der frühere Ministerpräsident Daud den König und rief die Republik aus — ein bloßer Etikettenwechsel.

Anders als in Indien und im Iran ist in Afghanistan erst sehr spät eine kommunistische Partei entstanden. Erst anläßlich der Pseudo-Wahlen von 1965 wurde die Volksdemokratische Partei — die VDPA — ins Leben gerufen. Ihre zwei wichtigsten Funktionäre, Mohammed Taraki und Babrak Karmal‚ erhielten die politische Feuertaufe in der „Bewegung der erwachten Jugend“. Beide stammen aus dem herrschenden Stamm der Paschtunen.

Taraki hat sich allerdings — via Abendschulen — aus der Unterschicht hochgearbeitet. Als Vertreter eines Exportunternehmens lernte er kommunistische Hafenarbeiter in Bombay kennen. Später wurde er Kulturattaché an der afghanischen Botschaft in Washington, Übersetzer an der amerikanischen Botschaft in Kabul und dann Direktor von Radio Kabul. Als Taraki im April 1978 Regierungschef wurde, war er freier Schriftsteller.

Sein Rivale Babrak — der jetzige Statthalter Breschnews — stammt aus der paschtunischen Oberschicht, in der Zeit der Wikh-i-zalmayan hat er sich als Studentenführer hervorgetan. Das Programm der VDPA orientierte sich von Anfang an am sowjetischen Vorbild. Das Ziel der „Volksdemokraten“ war eine Einheitsfront zwischen Arbeitern, Bauern, Kleinbürgertum und Intellektuellen gegen die Monarchie und vor allem gegen die einheimischen Nutznießer des westlichen Imperialismus. Auf dem einzigen Kongreß der VDPA 1965 wurde Taraki zum Generalsekretär gewählt. Im folgenden Jahr konnten ein paar Nummern der Parteizeitung Khalg (Das Volk) erscheinen, bis das Zentralorgan gemeinsam mit der Partei verboten wurde.

Als Sowjetpanzer noch Lampions trugen:
der erste Panzer, der beim Putsch vom 27. April 1978 in den Königspalast eindrang — aufgenommen vor diesem (Bild: Taraki) im Sommer 1979 (Foto BTA/Votava)

Zwischen „Fahne“ und „Volk“

Dieses Verbot löste den Zerfall der Volksdemokraten in zwei Flügel aus, die unter den Namen Khalg und Parcham firmieren. 1965, bei der Konstituierung des Parlaments, besetzten ein paar hundert Studenten den Sitzungssaal. Die Demonstration weitete sich zu Unruhen aus, von denen die Hauptstadt erschüttert wurde. Im Land breitete sich eine Stimmung gegen die Amerikaner aus, Dokumente über Aktivitäten des CIA in Afghanistan wurden publiziert.

1968 folgten neuerliche Studentenunruhen und Streiks in der Arbeiterschaft. Sie wurden von der (übrigens in der Bundesrepublik ausgebildeten) Bereitschaftspolizei niedergeschlagen. Trotzdem war die Opposition nicht kleinzukriegen. 1970 demonstrierten in Kabul die Frauen gegen den konservativen islamischen Klerus, von dem sie die Beschneidung ihrer Rechte befürchteten.

Innerhalb der (kommunistischen) Volksdemokraten entbrannte ein Streit über Taktik und Strategie der Partei. Nach dem Verbot der Zeitung „Khalg“ gab der Flügel unter Babrak Karmal eine illegale Zeitung mit dem Titel Parcham (Die Fahne) heraus. Nach diesen Zeitungen wurden, wie gesagt, auch die beiden rivalisierenden Flügel der VDPA benannt. Tarakis Gruppe — der Khalg — wollte sich ausschließlich auf Bauern und Arbeiter konzentrieren, während die Anhänger Karmals ein umfassendes Bündnis aller Oppositionellen anstrebten. Bei dem Machtkampf zwischen Parcham und Khalg, der die weitere Entwicklung Afghanistans unselig bestimmen sollte, spielten neben ideologischen auch persönliche und vor allem soziale Differenzen eine entscheidende Rolle.

Parcham rekrutierte seine Mitglieder im wesentlichen aus den paschtunischen Familien der Oberschicht, während Khalg (unter den Chefs Taraki und Amin, beide Paschtunen) sich auf die Unterschicht und auf die Minderheiten stützte. Taraki und Karmal, Khalg und Parcham konkurrierten auch auf der internationalen Ebene miteinander: beide Flügel beanspruchten die Anerkennung durch die osteuropäischen „Bruderparteien” als einzige legitime kommunistische Partei in Afghanistan.

Es heißt, daß Moskau Taraki und den Khalg bevorzugt hätte — aber die sowjetische Regierung pflegte damals noch ihre ausgezeichneten Beziehungen zur feudalen Monarchie, die bei den Russen Schutz suchte gegen die proamerikanischen Nachbarstaaten Pakistan und Iran.

Während der Khalg den vermutlich besseren Draht nach Moskau hatte, baute Parcham den Einfluß innerhalb der afghanischen Armee aus. Beim Putsch Dauds gegen den König im Jahr 1973 hatte Parcham bereits Fäden zu den vielen Offizieren geknüpft, die in der Sowjetunion ausgebildet worden waren. Neben Parcham und Khalg entstand noch eine dritte kommunistische Gruppierung: die maoistisch orientierten „Antirevisionisten“ mit dem Titel Settam-i melli (Nationale Unterdrückung). Es handelt sich dabei um Mitglieder der tadschikischen Minderheit, die entschlossen die paschtunische Dominanz bekämpft. China, das Pakistan gegen die afghanische Regierung unterstützte, rüstete die tadschikischen Guerillas aus, die 1975 erste Angriffe auf die afghanische Armee und Polizei durchführten. Die Guerillas wurden aufgerieben: zusammen mit einer anderen maoistischen Gruppe (Shu Ia-i jawed) versuchen sie immer wieder, den Widerstand der Tadschiken gegen Kabul anzufachen. Ihr Anführer ist Taher Badakshi.

Nach dem Sturz der Monarchie hatte Parcham vier Minister in der Regierung Daud. Aber auch die frischgebackene Republik war außerstande, die sozialen Probleme Afghanistans anzupacken. Das langsame aber sichere Vordringen des Kapitalismus ruinierte die feudalen Produktionsverhältnisse, landlose Bauern strömten in die Städte, um Kabul bildete sich ein Ring von Slums (mit rund 400.000 Menschen).

Anfang der siebziger Jahre wurde das Land von einer fürchterlichen Hungersnot heimgesucht, die Bürokratie steckte ausländische Hilfe in die Privattasche. Damals hatte sich das Ende der Monarchie angekündigt. Als aber auch die Regierung Daud keine Änderung zum besseren brachte, litt darunter auch, die Parcham-Fraktion. Der Stern von Khalg begann zu steigen, Taraki und Amin gewannen Anhänger im Offizierskorps.

Putsch 1978

Daud, der demokratisch begonnen hatte, entpuppte sich als Diktator. Die Minister von Parcham wurden aus der Regierung hinausgeworfen. Für kurze Zeit vereinigten sich beide Flügel der Volksdemokraten. Im Juli 1977 sah es so aus, als ob Taraki und Karmal das Kriegsbeil begraben hätten und eine geeinigte kommunistische Partei anführen würden. Am 18. April 1978 wurde ein bekanntes Mitglied des Parcham, Professor Akbar Khaiber, von der Polizei ermordet. Sein Begräbnis entwickelte sich zu einer Massenkundgebung gegen das Regime Daud. Ein Aufstand zeichnete sich ab. Am 25. April wurden Taraki, Karmal und fünf weitere Politiker der VDPA verhaftet.

Daraufhin empörte sich das Militär gegen den Diktator. Taraki und Karmal, aus dem Gefängnis befreit, traten an die Spitze des Militärputsches, der sich diesmal gegen die gesamte feudale Klasse richtete. Am 27. April 1978 wurde das Präsidentenpalais erobert, bei den Straßenkämpfen in Kabul wurden schätzungsweise 3000 Menschen getötet.

Was hatte die Sowjetunion mit dem Putsch vom 27. April zu tun? Daud, dem die Opposition vorgeworfen hatte, das Land an den CIA und den persischen Schah zu verkaufen, pflegte gleichzeitig gute Kontakte mit Moskau: Afghanische Offiziere wurden an sowjetischen Militärakademien ausgebildet, die ökonomischen Beziehungen erweitert. Unter der Regierung Daud konnte die Sowjetunion die afghanischen Erdgasvorkommen zu Niedrigpreisen weit unter dem Weltmarkt-Niveau ausbeuten. Das afghanische Erdgas diente praktisch als Zinsendienst für die kostspielige Wrtschafts- und Militärhilfe der Sowjetunion.

Nach dem Putsch gegen Daud wurde die neue Khalg-Regierung unter Taraki und Amin innerhalb weniger Stunden von Moskau anerkannt. Während die westlichen Staaten auf Distanz gingen, vergrößerte die Sowjetunion ihren Einfluß. Vor dem Einmarsch gab es im Land mindestens 3500 russische „Berater“ sowie große militärische Stützpunkte. Die Hälfte des afghanischen Exports ging in die sowjetische Wirtschaft.

Im Innern war die Khalg-Regierung zunächst ungeheuer populär. Taraki kündigte eine Bodenreform und das Ende des Feudalismus an. Er berief sich auf die liberale Reformpolitik des Königs Amanullah in den zwanziger Jahren. Ähnlich wie einige arabische Staaten sollte Afghanistan allmählich einen islamischen Sozialismus entwickeln. Damit konnten sich auch viele Mullahs befreunden.

Auch nur Tyrannen

Ein ehemaliger deutscher Entwicklungshelfer, der damals im Lande arbeitete, erzählt von der Anfangszeit der Regierung Taraki/Amin: „Anfänglich sind alle meine afghanischen Kollegen bereit gewesen, für das neue Regime auf die Straße zu gehen. Aber bald hat sich herausgestellt, daß bei dem Militärputsch bloß die Funktionäre ausgetauscht wurden. Die neuen Vorgesetzten hatten von nichts eine Ahnung, sie gaben irrsinnige Anweisungen. Wer aufmuckte, wurde schwer getadelt, womöglich kurz ins Gefängnis gesteckt und verhört. Manchmal sind auch Leute einfach verschwunden. Die Begeisterung hat sich bald aufgehört, man hat wieder Angst gekriegt. Über Politik redete man nur noch unter guten Freunden. Aus lauter Angst vor Denunzianten und Spitzeln hörte sich das Diskutieren auf.“

Wie konnte es zu dieser Tyrannei kommen? Warum versagte die marxistische Partei? Tatsächlich hat sich am 27. April 1978 keine Revolution, sondern lediglich ein Militärputsch abgespielt, der herzlich wenig an der inneren Struktur der Gesellschaft änderte. Die „Volksdemokraten“ waren in erster Linie mit internen Machtkämpfen, zuerst zwischen Parcham und Khalg, später innerhalb des Khalg, beschäftigt. Dabei besaß die VDPA zwar viel anfängliche Sympathie unter der Bevölkerung, aber keine nennenswerte soziale Basis. Offiziell beanspruchte die Partei 50.000 Mitglieder, doch sogar die Zahl 6000 scheint zu hoch gegriffen. Parcham-Funktionäre wurden aus Regierung und Verwaltung entfernt. Babrak Karmal ging als Botschafter nach Prag. Khalg bezichtigte die Rivalen einer „kleinbürgerlichen Abweichung“. Westliche Zeitungen spekulierten, Karmal sei zu sowjetfreundlich gewesen.

Als die Sowjetpazer das „Stop“-Schild überfuhren:
Jänner 1980 vor Kabul (Foto AFP/Votava)

Ein merkwürdiger Tod & eine verfrühte Radiomeldung

Die ständigen Säuberungen erzeugten ein Klima der Unsicherheit und Angst. Auch der siegreiche Khalg wurde von Machtkämpfen zerrissen. Am 16. September 1979 trat Taraki zurück, er starb wenig später an einer Krankheit. So lautet die offizielle Version. Gerüchte behaupten, Taraki sei bei einer Palastrevolte ums Leben gekommen.

Khafizoulla Amin, bisher Regierungschef und Verteidigungsminister, wurde der neue Staatspräsident. Unter seiner Führung steigerte sich der Kampf gegen die Rebellen, gegen die Stämme, die in den Bergen die Zentralregierung bekämpfen. Der Bürgerkrieg ruinierte die Armee, die Soldaten desertierten, Offiziere verweigerten die Ausführung von Befehlen. Amin war offenkundig nicht mehr Herr der Lage.

Am 27. Dezember 1979 informierte der sowjetische Radiosender in Taschkent über eine neuerliche „Revolution“ in Kabul — freilich um eine Stunde zu früh! Die sowjetische Invasion war gerade erst angelaufen, Truppen des Parcham rückten erst in Kabul ein. Amin wurde durch die voreilige Meldung gewarnt, er mobilisierte seine Garde.

Niemand weiß, wie viele Opfer der Dezember-Putsch gekostet hat. Die Intervention der Sowjets ist klar. Vermutlich wurde Babrak Karmal, der Nachfolger Amins, erst einige Tage nach dem Putsch in Kabul eingeflogen.

Die sowjetische Besatzungsarmee verstärkt die Fehlentwicklung der afghanischen Revolution. Die Städte werden verteidigt, gegen die Rebellen läuft ein Vernichtungskrieg, Dörfer, Wasserplätze und Viehherden werden systematisch zerstört.

Die Volksdemokraten, kaum an die Macht gelangt, haben sich vorwiegend mit der Stärkung der staatlichen Zentralgewalt beschäftigt. Taraki sagte in einem Interview, als er über einen Vergleich zwischen der VDPA und der Reformpolitik des Königs Amanullah in den zwanziger Jahren befragt wurde: „Amanullah scheiterte, weil er zu schwach war. Er verfügte weder über eine schlagkräftige Armee noch über eine starke Zentralregierung. Er besaß zuwenig Macht“ (Die Zeit vom 9. Juni 1978). Diese Macht streben sowohl Khalg als auch Parcham an. Aber in Afghanistan gibt es keine Tradition einer starken Zentralregierung, immer noch führen die Stämme ein Eigenleben, dessen Privilegien sie eifersüchtig verteidigen — nicht nur gegen Kabul, sondern auch untereinander (deshalb gibt es auch keine Vereinigung der Rebellen).

In Afghanistan existiert auch heute noch keine moderne Industrie (nur ein paar Manufakturen), folglich gibt es auch kein selbstbewußtes Bürgertum. Geschichtsphilosophisch könnte man behaupten, daß der „volksdemokratische“ Aufstand vom 27. April 1978 ein Versuch war, mit Hilfe der Armee die bürgerliche Revolution nachzuholen. Das Programm der VDPA orientiert sich am europäischen „Realsozialismus“. Aber ebenso wie die iranischen Progressiven — oder auch wie der Schah — mußten die afghanischen „Revolutionäre“ die Erfahrung machen, daß sich Modelle „westlicher“ oder „östlicher“ Herkunft nicht in ein Land mit archaischer Gesellschaftsordnung importieren lassen.

Fabeln aus 1000 + 1 Schlacht

Im Widerstand gegen die sowjetische Invasion spielen die Stämme der Paschtunen die größte Rolle. Sie sind meistens konservativ (oder reaktionär) orientiert. Unter ihnen gibt es extreme Monarchisten, ihr Anführer Gilani wird offenbar schon seit Jahren vom CIA unterstützt. Eine gemäßigte Gruppe (Jamiat islami afghan) erhält Hilfe aus Saudi-Arabien.

Eine verhältnismäßig progressive islamische Tendenz zeichnet eine andere Gruppe aus, die sich unter ihrem Chef Gulbudin weigert, mit den Konservativen ein Bündnis einzugehen. Dabei handelt es sich vermutlich um Gesinnungsgenossen Khomeinis. Die afghanischen Schiiten sind in der „Hazara“ organisiert und wehren sich gegen die Vorherrschaft der Paschtunen. Im Norden, unter den Usbeken und Tadschiken, traditionellen Feinden der Russen, können sich maoistische Guerillas halten.

Im Süden Afghanistans operieren die Nomadenstämme der Belutschen und Barahaouis, die von der Zentralregierung in Kabul seßhaft gemacht werden sollen. Da die Grenze zum Iran kaum zu kontrollieren ist, können sie sich in der Wüste frei bewegen. Daraus wird aber auch klar, daß ein einheitlicher Zusammenschluß des Widerstandes gegen die sowjetische Besatzung fast unmöglich erscheint. Vor allem weigern sich die Minderheiten, die Oberhoheit der Paschtunen hinzunehmen. Für sie bedeutet der Partisanenkrieg vor allem Unabhängigkeit von den herkömmlichen Herren.

Die Berichte, die im Westen über den afghanischen Widerstand kursieren, stammen in der Regel von Paschtunen. Diese Berichte fabulieren von phantastischen Erfolgen: schließlich will jede der einzelnen Gruppen die anderen übertrumpfen. Wer hat die meisten Panzer, die meisten Flugzeuge abgeschossen? So erfährt man von Schlachten und Siegen, die es nie gegeben hat. In der Bundesrepublik betrieben afghanische Studentengruppen eine Art „Kriegsberichterstattung“, legendäre Heldentaten wurden hochgejubelt.

Türkei — Iran: West-Dominos?

Für das Regime Karmal ist etwas anderes viel gefährlicher. Es hat inzwischen auch in den Städten Unterstützung und Respekt der Bevölkerung verloren. Bisher wollten die Städter mit den Partisanen in den Bergen nichts zu tun haben. Doch die Ereignisse vom 21. und 22. Februar in Kabul — Demonstrationen, Streiks und Boykott gegen die Besatzungsmacht — beweisen, daß nunmehr alle Schichten und Klassen des Landes revoltieren.

So hat die sowjetische Invasion keines ihrer Ziele erreicht. Die Sowjetunion hat ihren Ruf als anti-imperialistische Macht verloren; die Militärdiktatur in Pakistan sonnt sich in neuem Glanz; in der Türkei wird die Arbeiterbewegung massakriert, ein zweites Chile bahnt sich an, ohne daß irgend jemand auch nur einen Finger rührt. Im Iran darf Khomeini zum Kampf gegen den „Kommunismus“ aufrufen, womit überhaupt jede linke Opposition gemeint ist.

Das Kräfteverhältnis im westlichen und südlichen Asien hat sich zum Vorteil des Imperialismus verschoben. Die USA können den Vietnamkrieg vergessen und wiederum die „freie Welt“ nach Herzenslust verteidigen. Welche Triumphe das sowjetische Militär auch an seine Fahnen heften mag, Afghanistan ist eine große Niederlage.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1980
, Seite 48
Autor/inn/en:

Uli Trostowitsch:

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